"imprägnierte seelen sind gefährlich", heißt es in dem Gedicht "Imprägnierungen", und in gewisser Weise lassen sich fast alle in dem Band "alles außer atem" versammelten lyrischen Texte als Versuch lesen, gegen innere und äußere Abgestumpftheit und Ignoranz anzuschreiben. Nicht nur, aber auch gegen die unter dem Deckmantel der Religion gepflegten Ausgrenzungen und Vorverurteilungen. Dabei hätte doch die Religion das Zeug "seelen empfindsamer zu machen".
So trägt denn vieles in dem jüngst erschienenen Band "alles außer atem" unverkennbar biografische Züge. Seine Herkunft, sein Elternhaus, seine Homosexualität, sein Engagement für ausgegrenzte und vergessene Menschen prägen die Lyrik. Seine Zeit als Krankenhausseelsorger scheint ihren Niederschlag in Gedichten wie "Lebens spanne" oder "Völkisch zerschnitten" gefunden zu haben. Letzteres schildert eine alte kinderlose Frau, die auf dem Sterbebett berichtet, welches Verbrechen ihr in einem evangelischen Krankenhaus angetan wurde.
Der großformatige Band enthält zudem mehrere Abbildungen von Gemälden, die - bis auf zwei - von Holger Evang-Lorenz selbst angefertigt sind. Sie bilden wohltuenden Kontrast zum reichen Wort und gliedern zugleich den Band in seine sieben Kapitel. Viele der Gedichte sind eigentlich konkrete Fragen oder mitunter schlicht-schöne Aphorismen wie etwa in "Schwule See-Bestattung". Es sind Wortspiele, Spiele mit den Worten und Bedeutungen, verstärkt durch die grafische An- und Umordnungen, etwa im Kapitel "tra_u_m·haf·tig", wo Traumbilder, scheinbar klare Sätze, im Versuch, sie zu fassen, regelrecht in Einzelbuchstaben zerfallen und sich verflüchtigen.
Das kann zunächst ungewohnt sein, eventuell auch nerven, besonders bei kurzen (Prosa-)Texten über die Mutter, den Vater zu Beginn oder eine mit "neuigkeiten für yad vashem" überschriebene Nachricht am Ende des Bandes. Unerwartete Trennungen, die konsequente Kleinschreibung, jähe Zeilenumbrüche erzwingen die Konzentration des Lesers. Vielleicht würde man einen Text ja auch ohne diese grafische Verfremdung sehr konzentriert lesen, einfach weil er einen interessiert? Zugleich aber sind diese Passagen ein Widerhall von durch Krieg aus den Fugen geratenen Lebens und der Weigerung des Autors, dieses nachträglich durch ein regelkonformes Schriftbild zu glätten. In einem Gedicht, das vom Chor der Engel handelt, findet sich wohl nicht zufällig die Zeile "allem bedürfnis nach verlogener harmonie zum trotz".
"alles außer atem" ist eine reichhaltige Sammlung von Lyrik und Prosaminiaturen, die über den Tag hinausreichen. Sie spart nicht mit heftigen Momenten, einschneidenden (biografischen) Erlebnissen, drängenden Fragen und beunruhigenden Beobachtungen. Ab und an tauchen kleine Inseln der Ruhe auf, etwa wenn es um Geborgenheit in der Liebe geht ("geburtstag - ganz in grün"), im Balsam sprachlicher, rheinisch-bergischer "heimatklänge" oder in dem schönen Gedicht "ge lassen" mit seiner Schlussformel
"die lösung
dem Himmel
über lassen
einen Versuch wär’s wert."
Doch wer auf so viel Erfahrung zurückblicken kann wie Holger Evang-Lorenz, der weiß natürlich, dass kein Himmel dem Menschen das harte Ringen im Alltag erspart. Oder, um aus einem weiteren Gedicht zu zitieren:
"wenn’s
hart auf hart
kommt brauchst du
bären
kräfte"
Buchinfo: Holger Evang-Lorenz: alles außer atem. lyrik und prosaminiaturen, Geest-Verlag 2017, 14,80 Euro.