Sie kennen sicher das Caravaggio-Gemälde, das zeigt, wie der ungläubige Thomas mit dem Finger eine Wunde von Jesus keineswegs nur berührt, sondern regelrecht darin herumbohrt. Wobei die Bibelstelle bei Johannes gar nicht belegt, dass Thomas dies wirklich getan hat. Es gibt lediglich die Aufforderung von Jesus: "Reiche deinen Finger her und sieh meine Hände, und reiche deine Hand her und lege sie in meine Seite, und sei nicht ungläubig, sondern gläubig!" (Joh., 20,27) So gelassen war Jesus kurz zuvor bei Maria Magdalena noch nicht. Die wurde barsch zurechtgewiesen, ihn bloß nicht zu berühren (Joh. 20,17). Allerdings hat er auch noch für Thomas einen Seitenhieb parat: "Selig sind, die nicht sehen und doch glauben!"
Das Coming-out ist unverändert die entscheidendste Zäsur im Leben von Schwulen, Lesben, von Bi- und Transsexuellen. Dass das "Öffentlichmachen" in einer religiösen Tradition des Bekenntnisses steht, darauf weist ein Klassiker der journalistischen Formulierung hin: "der bekennende Homosexuelle". Der Schritt, selbstbewusst zur eigenen sexuellen Orientierung zu stehen, ist mit Zweifeln behaftet. Allerdings ist selten die sexuelle Orientierung selbst der Grund für den Zweifel, sondern die Frage, wie die Umwelt darauf reagieren wird. Zweifel prägt möglicherweise das Leben von Menschen, die in sich und/oder äußerlich kein Geschlecht bevorzugen. Wobei der Zweifel ihrer Umwelt meist größer ist, und normierend die Festlegung auf ein Geschlecht erwartet wird.
Der Heftigkeit des Zweifels entspricht die Erleichterung, wenn "alles gut geht" und sich Eltern und Freunde keineswegs abwenden. Eine Garantie gibt es dafür - leider - nicht. Noch nicht einmal in kirchlichen Gemeinden, innerhalb von christlichen Bekannten. Aber auch wenn das Coming-out im ersten Moment auf Ablehnung durch die Mitmenschen stößt, es bleibt die Hoffnung, dass es besser wird. Vielleicht zieht man sich als junger Mensch zuerst einmal (auch aus Gründen des Selbstschutzes) wieder zurück. Aber man kann es erneut wagen, bei anderen Menschen, an einem anderen Ort, in einem anderen Land.
Zweifel müssen manchmal mit einem Sprung ins Ungewisse überwunden werden. Das gilt für das Coming-out, das gilt für den Glauben. Das gilt auch für den Zweifel, ob und welche Religion bzw. Kirche ein Ort ist, an dem man sich angenommen weiß. Hinsichtlich des letzten Punktes habe ich häufig Zweifel. Mir hilft es zu sehen (sic!), was (m)eine Kirche tut. Wenn sich Landeskirchen klar gegen Diskriminierung und für eine Gleichstellung der Zeremonien von Ehen und Lebenspartnerschaften positionieren, wenn Lesben, Schwule, Transgender auf dem Kirchentag ? etwa mit dem Regenbogenzentrum, aber auch als Besucher ? sichtbar sind, wenn "unsere" Ereignisse wie Stadtfest oder CSD mit einem Gottesdienst begleitet und mit wohlmeinendem Segen (auch und gerade im "normalen" Sonntagsgottesdienst) bedacht werden. Manchmal muss man Dinge sehen und berühren können, um zu glauben. Und manchmal muss wahrscheinlich der Finger in eine Wunde gesteckt werden, müssen Risse, Widersprüchlichkeiten benannt werden.
Da ist natürlich die Verfolgung von LGBT in manchen Teilen der Welt, die mit Verweis auf den Glauben (nicht nur den christlichen) geschieht. Aber auch die Situation im eigenen Land lädt, trotzdem sich die Haltung gegenüber Homosexuellen sehr gewandelt hat, nicht immer zum Glauben / zur Kirche ein, um es mal nett zu formulieren. Da ist, beispielsweise, die unveränderte Feindseligkeit in manchen Landeskirchen, die einseitige Ausrichtung auf Homosexuelle in Partnerschaft, das Mobbing gegen schwule Pfarrer, absurde Entscheidungen von christlichen Begegnungsstätten, lieber gar keine Trauungen mehr zu erlauben, als auch nur einem einzigen schwulen Paar die Räume zur Verfügung zu stellen. Wobei gerade das letzte Beispiel erfreulicherweise zeigt, dass viele, auch der CVJM und die Evangelische Kirche Mitteldeutschland, kein Verständnis dafür hatten.
Obwohl noch längst nicht alles in Ordnung ist, was das Verhältnis von Homosexualität/Homosexuellen und Kirche betrifft, versuchen Schwule und Lesben ihren Glauben zu bewahren. Vielleicht weniger wegen des Zweifels, ob sie von Gott angenommen sind, sondern wegen der Zweifel, ob die Gemeinde sie annimmt. "Zum Amen gehört das Aber", zitiert Margot Käßmann in ihrem Buch "Im Zweifel glauben" die katholische Theologin Johanna Rahner. Gerade indem die Kirchen das Aber nicht übersehen oder weglächeln, sondern Diskriminierungen und Herabsetzungen beherzt angehen und sich den Zweifeln mancher Christinnen und Christen stellen, werden sie in meinen Augen glaub-würdiger.
In ihrer Predigt "Zweifelnder Glaube" zu Quasimodogeniti von 2015 spricht Prof. Dr. Isolde Karle über Thomas den Zweifler. Jesus, sagt sie, sei auf den zweifelnden Thomas zugegangen: Er "würdigt damit sein Ringen, seinen Widerstand, seine Bedenken, auch seine Sehnsucht, glauben zu wollen und es doch nicht zu können". Sie erinnert an "Erfahrungen, die den Glauben in Frage stellen". Ihre Beispiele sind große Tragödien, wie etwa der Flugzeugabsturz in den französischen Alpen. Ich denke, es sind mindestens ebenso oft die menschlichen, die zwischenmenschlichen Enttäuschungen im Rahmen der Kirche, die einen zweifeln lassen (und was diesen Blog anbelangt, meine ich speziell jene Enttäuschungen, die Schwule und Lesben erleiden mussten und auch immer noch erfahren). Solche "Wunden" und die Skepsis als Teil der österlichen Erzählung nicht zu übergehen, darin sieht Isolde Karle eine Stärke der Thomas-Schilderung im Johannes-Evangelium: "Es ist nach Ostern nicht alles wieder wie früher." Warum sollte es auch?