Folgender Gegensatz lässt mich nicht los: Am Palmsonntag jubelten die Menschen Jesus beim Einzug in Jerusalem begeistert zu. Sie feierten ihn als Heilsbringer. Nur einige Tage später rief ein aufgebrachter Mob: „Kreuzigt ihn!“ Wie passt das zusammen?
Die feministische Theologin Hilde Raastad aus Norwegen hat sich zu diesem Thema aus persönlicher und aus queer theologischer Perspektive Gedanken gemacht. Ich habe ihre Gedanken mit ihrer Erlaubnis ins Deutsche übertragen:
Hilde Raastad schreibt:
"Palmsonntag war der Tag, an dem Jesus auf einem Esel in Jerusalem eingezogen ist. Keine Woche später wurde er gekreuzigt. Es war eine Art 'Pride Parade', ein 'Jesus-Coming-Out-Tag'. Verrückt? Nein! Denn die Geschichte geht so:
Jesus hatte die letzten Jahre damit verbracht, durch die Dörfer zu wandern, zu predigen, sich mit den Menschen zu unterhalten und Wunder zu tun. Er war beliebt. Die Leute scharten sich um ihn, folgten ihm nach und hörten auf ihn. Er würde sie befreien. Die Autoritäten hatten Angst vor ihm. Er war ein Held.
Dann kam Palmsonntag. Die Leute standen auf beiden Straßenseiten und warteten auf ihn. Sie wedelten mit Palmzweigen, als er auf einem Esel einzog. Sie grüßten ihn und riefen 'Hosianna!' Sie feierten den Mann, den sie verehrten. Der Mann, der genau so war, wie sie ihn haben wollten. Sohn Davids, Retter Israels.
Viele Wissenschaftler und Predigerinnen haben sich durch die Jahrhunderte gefragt, wie Jesus sich gefühlt haben mag. Genoss er die Aufmerksamkeit? Fürchtete er den Tod? Wusste er, was auf ihn zukam? Ich glaube, er saß auf dem Esel, schaute die Leute an und dachte:
'Ihr wisst nicht, wer ich bin. Ihr denkt, ich bin wunderbar. Ihr liebt mich. Ihr bewundert mich, meine Worte und mein Tun. Aber wenn ihr wüsstet, wer ich wirklich bin, würdet ihr mich hassen. Trotz allem. Ihr würdet mich umbringen.'
Viele Lesben, Schwule, Bi-, Trans- und Intersexuelle und queere Menschen (LSBTIQ) kennen dieses Gefühl. Die meisten von ihnen werden geachtet und geliebt. Aber viele von ihnen zeigen sich nicht offen. Sie tragen das schreckliche Gefühl mit sich herum:
'Wenn ihr wüsstet, wer ich wirklich bin, würdet ihr mich verachten! Und ihr würdet mich hassen, weil ihr an euer eigenes Bild von mir glaubt. Ihr würdet euch von mir verraten fühlen.'
Also halten viele die Lüge aufrecht. In der Familie, im Leistungssport, in der Kirche, im Beruf und im öffentlichen Leben. Bis sie nicht mehr können und zusammenbrechen oder sich schließlich bekennen und offen zeigen. Endlich frei! Aber oft auch zurückgewiesen, verurteilt, isoliert.
Coming Out: So viel Freiheit, so viel Freude, endlich ich selbst zu sein.
Endlich so zu sein, wie Gott mich wollte.
Am Palmsonntag war Jesus noch ein Held. In den Tagen danach zeigte er sich als der, der er wirklich war: Kein politischer Führer, kein Kämpfer gegen die römische Macht, kein brillianter Philosoph. Nur ein Mann Gottes, der ohne Grenzen geliebt hat und bereit war, sein eigenes Leben dafür zu opfern. Kein Held, nur ein verwundbarer Mensch, der sich entschieden hatte, der zu sein, den Gott in ihm gesehen hat. Und die Menschen hassten ihn dafür. Sie waren enttäuscht. Einer verriet ihn, viele verleugneten ihn. Und die Meute schrie:
'Kreuzigt ihn!'
Nicht nur der eine verriet ihn. Denn keiner bekannte sich zu ihm, als es darauf ankam. Jesus wusste es, als er nach Jerusalem einzog. Er wusste es, genauso wie es LSBTIQ wissen, wenn sie mutig genug sind sich zu outen. Nichts wird einfach gut werden. Es wird sie etwas kosten. Vielleicht sogar ihr Leben. Kann ich den Preis bezahlen?
Jesus bezahlte den Preis. Er starb am Kreuz für Gottes Liebe. So wie LSBTIQ den Preis bezahlen, weil sie sich trauen zu lieben und dazu zu stehen. Die meisten werden nicht gekreuzigt, viele werden heutzutage anerkannt und respektiert, so wie sie sind. Gott sei Dank! Aber immer noch zu viele werden ausgegrenzt, gedemütigt, kriminalisiert oder sogar ermordet. Nicht nur dort, wo noch immer die Todesstrafe auf Homosexualität steht. Auch andere zahlen einen hohen Preis. Denn es hat Konsequenzen, sich im Familien- und Berufsleben zu outen. Zu oft behindert es Karrieren, zieht familiäre Gräben, zerrütet Beziehungen und Freundschaften. Warum? Weil Menschen sich trauen so zu sein, wie Gott sie geschaffen hat. Sie trauen sich, zu lieben und geliebt zu werden und das nicht mehr zu verstecken, egal wie hoch das Risiko ist. Denn sonst verlieren sie noch viel mehr: ihre Seele, ihre Würde, ihr Selbstwertgefühl.
Palmsonntag war der Tag ohne Wiederkehr für Jesus. An einem festlichen Tag stand er an der Grenze zwischen Leben und Tod. Bevor er endgültig in die Realität von Hass und Gewalt eintauchen musste. Unzählige kennen auch heute das Gefühl. Aber seit Jesu Tod und Auferstehung wissen nicht nur Gläubige, dass dahinter die Freiheit liegt. Hinter den Schmerzen, Verletzungen und Kämpfen beginnt neues Leben. Und du wirst sein, der du sein wirst: Liebend und geliebt."
Soweit Hilde Raastad.
In diesem Sinne wünsche ich Euch und Ihnen allen eine gesegnete Karwoche!
Im Angesicht des Kreuzes sind es Tage voller Verlust, Schmerzen, Narben und Tod.
Trotzdem ist die österliche Hoffnung bereits zu spüren: Hoffnung auf Befreiung und auf Neubeginn.
Hilde Raastadt ist eine Theologin aus Oslo in Norwegen und langjähriges Mitglied im Europäischen Forum christlicher LSBT Gruppen.
Zurzeit lebt sie mit ihrer Frau in Boulder/USA.