Kirchehochzwei

Kirchehochzwei
Foto: Kerstin Söderblom
Kirchehochzwei ist eine ökumenische Initiative. Sie gibt es seit ca. zehn Jahren. Gesucht werden neue Formen, wie Glaube ausgedrückt und Kirchesein gelebt werden können. Diese Reformbewegung ist auch aus queerer Perspektive interessant.

Die Bewegung Kirchehochzwei ist ökumenisch und plural. Sie wurde von Referentinnen und Referenten der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Hannovers und dem Bistum Hildesheim gegründet. Ziel war und ist es, so die evangelische Pastorin Dr. Sandra Bils, voneinander zu lernen und gemeinsam neue Visionen von Kirche zu entwickeln. Inspiriert ist diese Initiative von Aufbrüchen in der Anglikanischen Kirche in Großbritannien. In den letzten zwanzig Jahren entstanden dort mehr als 1000 „fresh expressions of church“. Es sind kreative Formen von Kirche innerhalb und jenseits von Ortsgemeinden, die neue Glaubensformen suchen und gestalten.

Seit etwa fünfzehn Jahren gibt es auch in Deutschland immer mehr Menschen, die an diesen innovativen Formen interessiert sind. Es sind ganz verschiedene Gruppen und Einzelpersonen mit vielfältigen Interessen und Frömmigkeitsstilen. Vor zwei Monaten hat sich aus diesem Kreis heraus ein eingetragenen Verein gegründet: „Fresh X – Netzwerk e.V.“ Durch Landeskirche und Bistum ist Kirchehochzwei ein Mitglied in diesem Verein.

Kirchehochzwei ist aber noch mehr. Für die Beteiligten schließen sich Tradition und Innovation nicht aus. Sie wollen traditionelle und alternative Gemeindeformen stärken und probieren neue Ausdrucksformen aus. Damit sprechen sie vor allem Menschen an, die sich in den bisherigen Gemeindeformen nicht zuhause gefühlt haben. Sie bieten einen dritten Ort an, eine Art Zwischenraum, an dem inmitten von Schrumpfprozessen und Traditionsabbrüchen Hoffnung wächst und andere Orte von Kirche entstehen.

Ich finde die Aufbrüche von Kirchehochzwei enorm spannend und verfolge sie schon seit einer Weile auf Twitter und Storify. Sie sind auch für queere Perspektiven im kirchlichen Umfeld interessant. Denn queere Ansätze können spezifische Akzente in die spirituellen und kirchenreformerischen W@nderungen eintragen. Aber der Reihe nach.

Ausgangspunkt der Überlegungen von Kirchehochzwei war Sehnsucht nach ökumenischen Aufbrüchen und Lernerfahrungen. Zugrunde lag die Erfahrung, dass immer mehr Menschen sich fremd in der eigenen Kirche fühlen. Viele erwarten von der Kirche keine Antworten mehr. Andere sind auf der Suche, finden aber kein Zuhause. Diese Erfahrungen von Fremdsein sind schmerzlich. Aber sie setzen auch etwas in Bewegung, haben transformierende Kraft. Wer sich fremd fühlt, stellt kritische Fragen, traut sich Distanz zu halten und bleibt auf dem Weg. Es sind Wanderer und Wanderinnen zwischen den Welten, zwischen Fragen und Antworten, Heimat und Fremde,Tradition und Innovation, zwischen hier und da. Dieser Modus wird nicht als Defizit, sondern als Geschenk angesehen. Das Geschenk „nicht hineinzupassen“, wie es Jonny Baker, englischer Theologe und Mitbegründer von "Grace", einer alternativen Worship Community in London, nennt.

Das Prinzip vom Geschenk nicht hineinzupassen ist ein wichtiger Motor der Initiativen von Kirchehochzwei. Sie versprechen damit frischen Wind und neue Ideen. Das Prinzip bedient sich eines klugen Perspektivwechsels. Ziel ist es nicht, mühsam zu versuchen genauso so zu sein, wie alle anderen. Vielmehr wird das Anderssein bewusst gemacht und ein kritische Außenblick erhalten. Erstrebenswert ist nicht die Wiederholung des ewig selben. Stattdessen werden die Akteure ermutigt, fremd zu bleiben, andere und verrückte Dinge zu tun, scheinbar Selbstverständliches zu hinterfragen und neue Aktivitäten ins kirchliche Spektrum einzutragen. Kirchehochzwei bietet dafür Kurse, Kongresse und regionale Veranstaltungen an.

Im Februar 2013 wurde ein erster ökumenischer Kongress in Hannover ausgetragen.1350 Menschen nahmen daran teil und waren begeistert. Die Ideen und Visionen verwandelten das Messezentrum in ein Laboratorium für die Zukunft der Kirche. Über Twitter und Livestream nahmen andere daran teil. Daraus ist mittlerweile eine plurale ökumenische Bewegung entstanden, die immer mehr Fahrt aufnimmt. Mitte Februar 2017 fand „W@nder - eine Konferenz für Pionierinnen und Pioniere“ in der Eisfabrik in Hannover statt. 120 Teilnehmende waren gekommen. Damit war die Veranstaltung restlos ausverkauft. Auch hier wurde wieder fleißig getwittert und gestreamt. Dadurch konnte ich mir einen Einblick in die Geschehnisse verschaffen, auch ohne dabei gewesen zu sein.

Diese Aufbruchsphänomene und kritischen Ansätze sind wichtig. Denn sie gehören zum Kirchesein dazu. Es gab seit den Anfängen der Kirche kritische Denker und Denkerinnen, Gläubige und Gelehrte, die jenseits von Dogmen und Institutionen dachten und handelten. In der Alten Kirche wurden theologisch fremd Gebliebene oder geistlich Befremdete oftmals als Häretiker oder Ketzer verfolgt. Im Mittelalter wurden weise Frauen und Männer als Hexen und Zauberer verbrannt. Reformerinnen und Reformer wie Franz von Assisi, Martin Luther, Katharina von Bora, Argula von Grumbach, Johannes Calvin und andere wurden belächelt, angefeindet oder sogar verfolgt. Gleichzeitig haben sie notwendige Veränderungen angestoßen und Gläubige in der ganzen Welt begeistert.

Seit dem 20. Jahrhundert haben viele sich von denen, die sich fremd und anders fühlten, von der Institution Kirche entfernt oder ganz verabschiedet. Viele von ihnen sind aber nicht freiwillig gegangen, sondern weil sie nicht ernst genommen oder sogar ausgeschlossen wurden. Es waren und sind Andersdenkende, Andersgläubige, Lesben, Schwule, Bi-, Transsexuelle und Queers oder andere, die aus der Reihe gefallen sind. Sie haben theologische (Laien-)Bewegungen gegründet - wie die lateinamerikanische Befreiungstheologie, Black Theology, Feministische Theologie, Post Colonial Theology und Queer Theology. Seit langem bewegen sich die Aktiven am Rande der eigenen Kirchen. Oder sie haben Kirchen- und Gemeindestrukturen bewusst hinter sich gelassen, da sie mit ihren Erfahrungen und Lebensformen nicht vorgekommen sind. Ihre Suche nach Zugehörigkeit und Anerkennung spornte sie an. Der Schmerz von Ausgrenzung und Abwertung prägte ihre Lebens- und Glaubensgeschichten.

Queer nennen einige von ihnen dieses Lebensgefühl. Queer kommt aus dem Englischen und ist ursprünglich ein Schimpfwort für Lesben und Schwule. Der Begriff heißt wörtlich übersetzt so viel wie verdreht, quer, provokant und ver - rückt. Queer nutzt eine veränderte Wahrnehmung auf die Wirklichkeit und kritisiert Normalitätskonstruktionen. Der queere Blick gründet sich auf Fremdheitserfahrung. Selbstverständliches wird gegen den Strich gebürstet. Machtstrukturen werden hinterfragt und kritisiert. Und seit Jahrzehnten wird an ganz verschiedenen ungewöhnlichen Orten ausprobiert, wie Minderheiten und andere Fremde und Befremdete miteinander beten, feiern und glauben können. Die Mitglieder von queeren christlichen Netzwerken und beispielsweise vom Europäischen Forum christlicher Lesben-, Schwulen-, Bi- und Transsexuellengruppen tun dies schon seit mehr als dreißig Jahren.

Was heißt das nun in Bezug auf eine Reformbewegung wie Kirchehochzwei?
Es wäre sicherlich eine Bereicherung für alle Beteiligten, wenn sich diejenigen, die aus existenziellen Gründen schon seit langer Zeit auf Wanderschaft sind, mit denjenigen, die sich aktuell auf W@nderschaft begeben, austauschen und vernetzen. Es braucht weitere Begegnungsorte und Raststätten auf dem Weg, um sich Lebens- und Glaubensgeschichten zu erzählen und voneinander zu lernen.

Kirchehochzwei macht Fremdsein und Wanderschaft als Ressourcen bewusst. Sie erschließt im Crossover zwischen digitalen und realen Orten neue Zwischenräume und kann Transformationssprozesse anstoßen. Dadurch werden Menschen verschiedener Altersgruppen und Motivationslagen ermutigt, aktiv zu werden. Auch ich bin neugierig geworden, und ich fühle mich angesprochen. Denn hier werden Fremdsein und Anderssein nicht als Ausgangspunkt zur Vereinheitlichung gebraucht, sondern als notwendiger Hebel für Veränderung. Dieser selbstbewusste Ansatz gefällt mir. Und davon können auch queere und andere Ansätze etwas lernen. Niemand muss sich für sein Anderssein entschuldigen. Im Gegenteil, es ist eine große Chance, dass der fremde Blick der Anderen gewürdigt wird. Fremdsein kann frischen Wind befördern. Das tut allen Beteiligten gut. 

Mein Wunsch: Gemeinsam auf Wanderschaft gehen, ohne die verwundeten und traumatisierten Fremdseinsgeschichten von Menschen auszusparen, die aufgrund ihrer Herkunft und Hautfarbe, ihres Geschlechts und Alters, ihrer Geschlechtsidentität oder sexuellen Orientierung gedemütigt oder ausgegrenzt wurden und werden. Was daraus folgen kann: W@nderschaft mit Tiefgang.