Weihnachten gilt traditionell als das Fest der Familie. Was auf merkwürdige Weise mit dem Umstand einhergeht, dass ausgerechnet die überfüllten Kirchen am Nachmittag des Heiligen Abends selten familiär sind. Für Schwule, Lesben und Transgender bedeutet die Weihnachtszeit nicht selten der Spagat zwischen der "queeren" Familie, die man gewählt hat, also, die Community, der Freundeskreis, in dem man sich geborgen und verstanden weiß, und der Familie, in die man geboren wurde. Akzeptieren Eltern, Geschwister und Verwandte Homosexualität und homosexuelles Leben oder dulden sie es nur? Ist der Alltag der lesbischen Tochter, die jetzt in der Großstadt lebt, wichtig? Darf der Sohn, der jetzt eine Frau sein will, in entsprechender Kleidung am Tisch sitzen? Darf man in Ruhe Geschenke auspacken oder muss man vorher die Befragung über sich ergehen lassen, warum denn Schwule unbedingt auch die Ehe wollen? Ist der temporäre Rückzug ins Private eher Drohkulisse oder wirkliche herzliche Geborgenheit?
Das mag sich in den letzten Jahren geändert haben. Hoffentlich. Normalität zieht ein mit der Frage "Zu meinen oder zu deinen Eltern?"; möge sie homosexuellen Paaren so wenig erspart bleiben wie heterosexuellen. Und Normalität ist es dann auch, wenn sich die Regenbogenfamilie mit den anderen Familien um die besten Plätze im Weihnachtsgottesdienst streitet. Es steht zu befürchten, dass keine der beiden Familienformen dann noch daran denkt, statt des Nachwuchses die alleinlebende alte Frau, den gebrechlichen Witwer auf der Bank Platz nehmen zu lassen.
Zu Weihnachten kann auf vielen Ebenen die Exklusivität, das Ausschließende der Familie zelebriert werden. Das 15-Uhr-Krippenspiel-Event mit seiner Heilig-Abend-Folklore ist sicher ein denkbar schlechter Moment, um sich zu fragen, ob im Christlichen nicht auch ein inklusives Familienverständnis liegt. Ein Verständnis, das Familie hin zu einer größeren Gemeinschaft denkt. Nicht unähnlich dem, was auch in der Vision einer "queeren Community" anklingt: eine Verbundenheit über "Blutsbande", Grenzen, Nationalitäten hinweg. "Der gehört zur Familie" ist nicht zufällig eine umgangssprachliche Formulierung, die gewählt wird, wenn das Gegenüber als homosexuell erkannt und akzeptiert wird. "We are family" pocht ja darauf, dass auch die queere Gemeinschaft im besten Sinne, im Sinne der Solidarität, Familie sein kann, sein sollte. Inwieweit die Regenbogenfamilie dieses Verständnis nicht durch eine alte-neue Exklusivität wieder unterläuft, wird sich noch zeigen müssen.
Alle Jahre wieder wird Weihnachten meist erst in der späten Christmette wirklich weihnachtlich. Dann ist das größte Bedürfnis nach Folklore bereits gestillt, dann finden sich oft auch die ein, die nicht oder nicht mehr in einer Familie leben - gerade so, als seien sie Hirten, die bislang auf dem Feld draußen gewartet haben. Statt Krippenspiel gibt es klassische Musik und einen Platz auf der Kirchbank findet man auch. Wenn es wieder ein bisschen ruhiger ist, fällt es oft leichter, sich auf das Licht, das mit der Geburt Jesu in die Welt kommt, zu konzentrieren und sich in dem daraus aufscheinenden Versprechen, der Zuversicht, mit vielen Menschen, mit vielen Familien verbunden zu wissen.