"Vielfalt der Zugehörigkeiten"

"Vielfalt der Zugehörigkeiten"
Porträt der Publizistin Carolin Emcke
Carolin Emcke / Foto (Ausschnitt): Andreas Labes, 2016
In ihrer Friedenspreis-Rede schlägt Carolin Emcke einen Bogen von der Vielfalt der individuellen Lebenserfahrungen zur Teilhabe an der Gesellschaft. Das ist lesenswert, "queer" und auch christlich.

Beim ersten Hören bzw. Lesen der Rede der Publizistin Carolin Emcke anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels in der Frankfurter Paulskirche fielen mir zwei Momente besonders auf. Einerseits die Offenheit, mit der sie ihre Homosexualität als Erfahrungshorizont mit in die Rede einbringt. Andererseits die Passagen, die, obwohl sie von säkularem, demokratischem Humanismus sprechen, in meinen Ohren teilweise christlich klangen oder zumindest etwas berührten, das für mich zum Wesen (auch und gerade) des Christentums gehört.

Die Rede besteht letztlich aus zwei Teilen. Der erste dreht sich um Zugehörigkeit, um Identität, um Menschenrechte, um Betonung individueller Vielfalt, die zugleich ein universales Wir einfordert. Der zweite Teil benennt Bedrohungen der demokratischen Gesellschaft durch "ein Klima des Fanatismus und der Gewalt in Europa": "Pseudo-religiöse und nationalistische Dogmatiker propagieren die Lehre vom 'homogenen Volk', von einer 'wahren' Religion, einer 'ursprünglichen' Tradition, einer 'natürlichen' Familie und einer 'authentischen' Nation." Davon solle man sich, so der Appell am Schluss, nicht sprachlos machen lassen, man könne immer anfangen, zu handeln und Verantwortung zu übernehmen: "Freiheit ist nichts, das man besitzt, sondern etwas, das man tut."

Wenn die Preisträgerin von Zugehörigkeit spricht, wählt sie das Beispiel der Glaubensgemeinschaft: "Das wäre eine schöne Spur: sich zugehörig zu zählen zu einem Glauben oder einer Gemeinschaft, hieße: ich bin für diese Gemeinschaft relevant, in ihr zähle ich als wichtiges Element."

So wie die Erfahrung des Glaubens mein Denken, meine Entscheidungen strukturieren kann, gibt es zahlreiche andere Erfahrungen. Zu dieser "Schnittmenge", aus denen wir unser Ich zusammenfügen, gehören selbstverständlich auch die Erfahrungen, die sich aus der sexuellen Orientierung ergeben. Es ist eine persönliche, zugleich aber auch engagierte Passage, wenn Emcke betont, "nicht nur, aber eben auch" als jemand zu sprechen, für die es relevant sei, schwul, lesbisch, bisexuell, inter*, trans* oder queer zu sein. "Das ist nichts, das man sich aussucht, aber es ist, hätte ich die Wahl, das, was ich mir wieder aussuchte zu sein. Nicht, weil es besser wäre, sondern schlicht, weil es mich glücklich gemacht hat."

Zugleich markiert sie die Grenzen, die einer solchen Identität gezogen werden: "Es ist eine ausgesprochen merkwürdige Erfahrung, dass etwas so Persönliches für andere so wichtig sein soll, dass sie für sich beanspruchen, in unsere Leben einzugreifen und uns Rechte oder Würde absprechen wollen." Dabei macht Carolin Emcke klar, dass die Ausgrenzung, der "Diskurs mit Mustern aus Ressentiments und Vorurteilen", der Hass, wie sie es auch nennt, keineswegs nur einzelne Gruppen im Visier haben: "In Wahrheit geht es gar nicht um Muslime oder Geflüchtete oder Frauen. Sie wollen alle einschüchtern, die sich einsetzen für die Freiheit des einzigartigen, abweichenden Individuellen."

Am Ende und in der Beantwortung der Frage, was gegen eine "zunehmend verrohende Welt" getan werden kann, betont Carolin Emcke, dass nicht allein auf "die Politik" geschaut werden soll: "für all die alltäglichen Formen der Missachtung und der Demütigung, für all die Zurichtungen und Zuschreibungen in vermeintlich homogene Kollektive, dafür sind wir alle zuständig".

Explizit spricht Carolin Emcke von dem Projekt der Säkularisierung. "Eine freie, säkulare, demokratische Gesellschaft ist etwas, das wir lernen müssen." Wie das gehen soll? "Im Zuhören aufeinander. Im Nachdenken übereinander. Im gemeinsamen Sprechen und Handeln. Im wechselseitigen Respekt vor der Vielfalt der Zugehörigkeiten und individuellen Einzigartigkeiten. Und nicht zuletzt im gegenseitigen Zugestehen von Schwächen und im Verzeihen."

Genau das ist für mich aber auch eine christliche Haltung oder zumindest eine Haltung, die ich mir von meiner Religion und meiner Kirche erhoffe. Zumindest scheint für mich in den Worten Carolin Emckes dieser religiöse, christliche Hintergrund durch. Wie auch in den erwähnten Passagen über Zugehörigkeit. Oder wenn Carolin Emcke sagt, "Menschenrechte sind voraussetzungslos. Sie können und müssen nicht verdient werden", so ist das zwar von ihr aus demokratischem, politischem, säkularem Humanismus heraus formuliert. Ist es aber nicht auch Kern des protestantischen Glaubens, dass der Mensch immer schon angenommen ist durch Gott? Dass wir uns die Gnade nicht verdienen müssen und auch nicht erarbeiten können? Dass wir auch nach und trotz "Fehlern" immer neu anfangen können?

Ich habe mich in der Rede Carolin Emckes auf vielfältige Weise wiedergefunden: als Bürger, als Schwuler, als Christ. Und dass nicht nur ich einen religiösen Ton herausgehört habe, war mir klar, als ich den Kommentar zur Rede von Thomas Schmid in der "Welt" las. Obwohl eigentlich mit durchaus nachvollziehbarer Argumentation, ist der "Welt"-Kommentar ein glatter Verriss mit klarer Sprachwahl. Die Verleihung in der Paulskirche wird als "Gutmenschen-Treffen" gebrandmarkt, es ist vom "Feldgottesdienst der Zivilgesellschaft" die Rede und davon, dass Carolin Emckes Methode an die "Allerweltstheologin Margot Käßmann" erinnere. Wenn das keine guten Gründe sind, die Rede besser selbst und im Ganzen zu lesen ...