"Dieses arbeitsscheue Element", so schrieb die in Ost-Berlin erscheinende "Berliner Zeitung" am 31. August 1961, "das unter dem Spitznamen 'Puppe' in homosexuellen Kreisen in Westberlin sehr bekannt war und seit dem 13. August [dem Beginn des Mauerbaus; Anm. RH] im demokratischen Berlin nach Opfern Ausschau hielt, hatte sich seiner Festnahme durch die Volkspolizei zu widersetzen versucht, war in den Humboldt-Hafen gesprungen und dabei ums Leben gekommen." Es ist die Meldung über den Tod von Günter Litfin. Er war am 24. August beim Fluchtversuch nicht etwa ertrunken, sondern von den Volkspolizisten erschossen worden. Günter Litfin zählt zu den ersten von mindestens 138 Menschen, die an der DDR-Grenze ums Leben kamen. Ihre Biografien sind auf der Internetseite der Gedenkstätte Berliner Mauer nachzulesen, so auch die von Günter Litfin.
Der Empörung im Westen stellte das "Neue Deutschland" menschenverachtende Kälte gegenüber. Erneut über den Begriff "Puppe" den Getöteten als schwulen Stricher denunzierend, heißt es: "Der 13. August trennte ihn von seinen 'Liebhabern', und in der Hauptstadt der DDR blieb sein Gewerbe aussichtslos."
Seit Anfang der achtziger Jahre boten zunehmend die Kirchen Schutzräume für homosexuelle Gruppen. Die Politikwissenschaftlerin Irene Beyer spricht in einem Rückblick auf die Geschichte der Lesben in der DDR von der "herausragenden Bedeutung", die die evangelische Kirche als Dach für Homosexuellengruppen hatte. 1982 wird der Arbeitskreis Homosexualität bei der Evangelischen Studentengemeinde in Leipzig gegründet. Im kirchlichen Rahmen, so ist es in Elmar Kraushaars Buch "Hundert Jahre schwul" nachzulesen, werden bis 1989 mehr als 20 Gruppen gezählt. Zu den nicht-kirchlichen Gruppen zählte etwa der Sonntagsclub in Berlin.
In der TV-Dokumentation "DDR unterm Regenbogen" (2011), später erweitert als Film "Out in Ost-Berlin" (2013), porträtiert der Filmemacher Jochen Hick auch den Theologen Christian Pulz, 1983 Mitbegründer der Berliner Gruppe "Schwule in der Kirche". Dabei kommen nicht nur die persönlichen Probleme, als Christ die Homosexualität zu akzeptieren, sondern auch die Schwierigkeiten der engagierten Gruppen im Umgang mit den staatlichen Behörden und deren Kontrolle zur Sprache.
Solche Dokumentationen sind aber nach wie vor Ausnahmen. Es hat lange gedauert, bis ein Blick auf die Geschichte(n) von Homo- wie Transsexuellen in der DDR geworfen wurde. Das Aufarbeiten von Unrecht, das Erzählen und Erinnern von gelebtem Leben scheint von der 1989 gefallenen Mauer noch ein wenig länger blockiert worden zu sein.
Und heute? Vielleicht sind es schon ganz andere Mauern, die neuerdings eher Zäune heißen, die einen geschichtlichen Rückblick auf das "abgeschlossene Forschungsgebiet DDR" erschweren oder als obsolet erscheinen lassen. Haben wir nicht längst ganz andere Sorgen hinsichtlich Eingrenzung, Ausgrenzung, Abgrenzung? Andere Mauern, die weniger sichtbar, gleichsam wirksam sind?
Bei der Suche im Internet stieß ich auf einen Psalm (18,30): "Mit meinem Gott kann ich über Mauern springen". Er ist das Motto für einen Vortrag von Nikolaus Schneider, der sich eigentlich dem Thema Reformation und Bildung widmet. Trotzdem sei ein Satz herausgegriffen, weil er mir als guter Impuls zum christlichen Umgang mit Mauern erscheint. "Die [...] Fülle stärkender Gotteserfahrung schafft genug Rückhalt für das Vertrauen, auch künftig vor hohen Mauern nicht scheuen zu müssen."