Nachgedanken zu Orlando

Nachgedanken zu Orlando
Das Massaker in einer Schwulenbar von Orlando ist fast einen Monat her. Das Leben geht weiter. Aber das Entsetzen über das Verbrechen und die Trauer mit den Opfern sind noch lange nicht vorbei.

Viel ist schon über Orlando geschrieben worden. Wichtige Beiträge wurden dazu veröffentlicht. Auch hier im Blog von Kreuz & Queer.
Trotzdem oder gerade deswegen schreibe ich noch einmal einige Nachgedanken zu den Greueltaten. Denn das Grauen ist noch nicht vorbei. Familien, Freundinnen und Freunde müssen mit den schrecklichen Verlusten weiter leben. Und sie müssen auch damit leben, dass neben Solidaritätsbekundungen und ehrlicher Trauer auch Vorurteile und Hass weiter gehen. Es gibt sie, die ewig Unverbesserlichen wie die Anhänger der Terrororganisation IS, die den Tod von unschuldigen Menschen feiern. Andere meinen doch tatsächlich, dass das Massaker gerechtfertigt gewesen sei. Denn die Betroffenen seien selbst schuld. So habe ich es von einem Mann mittleren Alters in einer Kneipe gehört. „Ehrbare Bürger“ gingen eben nicht zu einer Schwulenbar. Wer dahin gehe, müsse mit „sowas“ rechnen. Denn so eine Bar sei vom Teufel und die Leute darin allzumal.

Fassungslos habe ich nicht nur einen so schwadronieren hören. Was geht in solchen Menschen vor, dass sie nicht einmal angesichts von 49 Toten und über 50 Verletzten schweigen und ihre hasserfüllten Vorurteile unterdrücken können? Aber ich bin nicht nur fassungslos, sondern auch wütend. Wütend über die Ignoranz und Ahnungslosigkeit von so vielen.

„Ihr habt keine Ahnung, was eine Schwulenbar wie das Pulse in Orlando für viele bedeutet“, denke ich mir.
Und deshalb schreibe ich es auf.

Ich erinnere mich an meine eigene erste Erfahung in einer Lesbenbar in Hamburg vor etwa 30 Jahren. Ich war aufgeregt und unsicher. Wie wird das sein? Wie werde ich mich fühlen? Was sagen die anderen? Ziemlich schnell war klar: Einerseits war alles ganz normal. Wie es eben ist in einer Bar. Mit Tresen, Tischen, Musik, Getränken und Gästen. Andererseits registrierte ich schnell: Hier kann ich sein, wie ich bin. Ich muss mich nicht verstellen, muss nichts verstecken. Ich muss mir keine dummen Kommentare anhören und keine verächtlichen Blicke ertragen, wenn ich eine Frau küsse. Und ich muss auch keine Drohungen fürchten.

Über die Jahre wurde für mich diese Bar und manch andere im In- und Ausland zur Heimat. Ein sicherer Ort, der alle einlädt: Lesben, Schwule, Bi- und Transsexuelle, Queers und alle, die sich mit ihnen verbunden fühlen. Eine Regenbogenfahne markiert viele dieser Orte als gastfreundlich und offen für alle. An solchen Orten erlebe ich wohlwollende Blicke, freudige Umarmungen und Gelächter, tolle Parties, Flirts und gute Musik. Aber ich habe auch Tränen gesehen, Trauer und Angst. Angst vor Ausgrenzung, Erniedrigung, Häme und Gewalt, die vielen im Alltag drohen und die die meisten schon erlebt haben.

Wenn ich an das "Pulse" in Orlando denke, denke ich auch an meine Freundinnen und Freunde in Kingston/Jamaika. Im Jahr 2011 war ich Teil eines internationalen Teams des Europäischen Forums, das bei der Friedenskonvokation der Ökumenischen Rats der Kirchen in Kongston einen Workshop zu homo- und transfeindlicher Gewalt hielt. Aufgrund früherer Kontakte konnten wir in Kingston eine Gruppe von Lesben, Schwulen, Bi- und Transsexuellen treffen. Der Treffpunkt befand sich in einem Hinterhof in einem Vorort von Kingston. Wir wurden dort hingefahren. Niemand durfte wissen, wo wir waren.

Der Hof war von der Straße uneinsehbar und wurde trotzdem von zwei privaten Securityleuten bewacht. Eines der Garagentore im hinteren Teil des Hofes stand auf. Drinnen gab es zwei Räume. Im ersten war eine Bar mit Tresen und einigen Stühlen. Im zweiten Raum stand ein Sofa. Es gab niedrige Tische mit Stühlen, eine Musikanlage und eine winzige Tanzfläche. Die meisten Gäste saßen aber einfach draußen im Hof auf Plastikstühlen und unterhielten sich. Wir trafen uns mit der Chefin der Bar. Sie war eine Frau in mittleren Jahren, geschieden, zwei Kinder und lebte schon seit einigen Jahren mit einer Frau zusammen. Daraufhin hatte ihre Familie sie beschimpft, verstoßen und jeden Kontakt abgebrochen. Sie bekam anonyme Drohungen und immer mehr Menschen zogen sich von ihr zurück. Als sie merkte, dass es Gleichgesinnten ebenso ging, beschloss sie, einen sicheren Ort zu schaffen, der für alle Heimat- und Schutzlosen einen Treffpunkt bieten sollte. Fast jede Nacht hat die Bar auf. Tagsüber ist sie verschwunden und verwandelt sich zurück in eine Garage.

Die Bar ist für viele Besucherinnen und Besucher zur Heimat geworden. Deshalb heißt die Bar auch „Oase“, wie uns die Chefin stolz erzählt hat. Sie ist eine Oase in der Wüste von Vorurteilen, Ausgrenzung und gewalttätigen Übergriffen. Die meisten haben im extem homofeindlichen Jamaika schon einmal Gewalt erlebt. Die Oase ist ihr geschützter Ort, ihr Zuhause. Dort können sie Dinge erzählen, die sie nirgends sonst sagen können. Es ist ein sicherer Ort, um sich zu treffen, zu reden, sich auszuruhen, zu tanzen und das Leben zu feiern. Zumindest für einen kleinen Moment die Sorgen und Nöte des Alltags hinter sich lassen.

Einen solchen sicheren Schutzraum hat der Mörder von Orlando zerstört. Und damit weit mehr als nur das Leben von 49 unschuldigen Menschen und über 50 Verletzten, die ausgerechnet dort einen geschützten Raum gesucht hatten.

Denn die Vorbehalte der Mehrheitsgesellschaft sind nicht nur auf Jamaika immer noch erschreckend groß. Gleichberechtigung ist in den meisten Ländern der Welt noch nicht in Sicht. Das schlimmste ist aber: Nicht wenige Lesben und Schwule gehen auch im Jahr 2016 noch mit Schuld- und Schamgefühlen in eine queere Bar. Einerseits ist es ein scheinbar sicherer Ort für sie. Andererseits schämen sie sich für ihre Gefühle und ihre Sexualität.

Schuld und Scham werden in zahlreichen Familien tradiert, wie Carolin Emke in ihrem Artikel zu Orlando schreibt. Schuld und Scham werden in vielen muslimischen, evangelikalen und christlich fundamentalistischen Gemeinden verbreitet, statt den Menschen einen sicheren Ort anzubieten. Hass und Selbsthass werden in einem feindseligen Umfeld geschürt und durch Vorurteile und Hasskommentare online und offline vertieft.

Die Verantwortung für solch ein Verbrechen darf daher nicht nur auf pathologische Einzeltäter oder terroristische Organisationen geschoben werden. Das Verbrechen in Orlando ist ein Weckruf für die gesamte Gesellschaft, dass sie die Folgen von homo- und transfeindlichen Aussagen und Handlungen selbstkritisch hinterfragen und zukünftig verhindern.

Christliche und muslimische Gemeinden müssen sich dem genauso stellen wie die gesamte Zivilgesellschaft und die Politik, wenn sie pseudo religiösen Fanatikern nicht das Feld überlassen wollen. Gerade religiöse Gemeinschaften sollten sich darauf besinnen, Menschen Schutz und Respekt zu gewähren statt sie zu verurteilen. Rechtlicher Schutz und die Umsetzung der Menschenrechte sind keine Alltagsdekoration, sondern überlebenswichtig gerade für die Verletzlichsten in einer Gesellschaft. Diejenigen, die nicht einmal mehr auf die scheinbar sicheren Orte wie das "Pulse" in Orlando zählen können.