Früher dachte ich, Fasten sei nur was für Katholische. Dann kam die Zeit – etwa in meinen Zwanzigern – wo ich mich grundsätzlich schlecht gefühlt habe in der Zeit zwischen Fasching und Ostern. Denn ich habe das Fasten konsequent verweigert, während manche Freund_innen auf Zigaretten und Alkohol, Schokolade oder gar Sex verzichteten. Und ich bekam ein schlechtes Gewissen, weil ich nicht das Bedürfnis nach Verzicht hatte. Es kam mir heuchlerisch vor, wenn trotz atheistischer Einstellung gefastet wurde und ebenso wenn christlich definierte Bekannte sich besser fühlten, nur weil sie ca. 40 Tage sich selbst kasteiten. Und überhaupt: Warum muss ich mir etwas wegnehmen, wenn ich Gott nahe sein will? In meinem Leben gab es sowieso fast immer irgendwas, das ich als Mangel erlebte. Warum sollte ich da noch fasten?
Das erste Mal Karneval in Köln lud dazu ein, auch das erste Mal zu fasten. Aber von was genau will ich fasten? Da war wieder diese Stimme, wie früher, die sich so gegen das "Leibfreuden Versagen" – traditionell verankert in der Geschichte des Christ_inseins – wehrte. Und dann sprach ich vorgestern den Satz aus: Aber wenn die Leibfreuden mir zu Leibleiden geworden sind – dann ist es höchst an der Zeit, sich um sich zu kümmern!
Das ist es, was die Fastenzeit heuer für mich bedeutet: Selbstfürsorge. Denn ohne bei mir selbst zu sein, kann ich nicht bei bzw. mit Gott sein. "Wenn der Sprit leer ist, fehlt die Verbindung zum Geiste Gottes", sagte am Sonntag ein jugendliches Gemeindemitglied. Verzicht bekommt ein neues Gesicht: Er bedeutet, das Zuviel weglassen und dem Zuwenig Platz geben. Ich höre einmal mir zu: Was fehlt mir, was wünsche ich mir. Ich richte mir einen Feierabend ein, ich lese mal keine Whatsapp-Nachrichten, dafür ein Buch, ich beantworte mal keine E-Mails, sondern schreibe Tagebuch, ich schreie nicht als erste Hier, wenn es beim queer-feministischen Kollektiv um Verteilung der Aufgaben geht, ich sage meiner Freundin, dass ich ihr gerne morgen zuhöre oder wann anders, aber nicht jetzt, ich lasse nicht alles stehen und liegen, weil mein Freund mich braucht oder weil eine Demo gegen Antifeminismus und Rassismus organisiert werden muss. Eigentlich ja alles wichtig – und elementarer Teil meines Lebens. Es geht dabei nicht einfach darum, weniger zu arbeiten. Es geht darum, auch auf diese Art von Arbeit zu verzichten, an der man Freude hat, die eine_n be_geistert. Aber auch die Herzblut-Arbeit kann einer_m die Luft nehmen. Mit dem Bedürfnis, etwas ändern zu wollen, kommt die Erkenntnis: Ich muss Verzicht üben. Dinge, die mir eigentlich guttun, mich beleben, können bei übermäßigem Verzehr ungesund werden. Zu viel queeres Engagement engt mich ein, es fesselt mich. Ebenso ist es mit den sogenannten Genussmitteln: Das Gemütliche, das Besondere geht verloren, wenn ich jeden Tag im Kaffeehaus sitze mit – um es Wienerisch auszudrücken – Wein und Tschick.
Was habe ich für Alternativen, wenn die Abende stets durchgeplant sind mit ehrenamtlichem Engagement, mit Dasein für andere und für den "guten Zweck"?
Ich fange im Kleinen an. Nehme nicht die U-Bahn, gehe einen Umweg zu mir nach Hause, spaziere am Donaukanal, nehme das derzeit frühlingshafte Treiben wahr, stelle mir vor, wie die Stadt in einem Monat erwachen wird aus ihrem Winterschlaf, wie die Cafés in meiner Straße draußen ihre Gastgärten eröffnen werden, was mir ein Lächeln entlockt und wiederum eine_n anderen dazu einlädt, mich anzulächeln. Meine Gebete sind länger und öfter – ich nehme mir die Zeit, die ich jetzt brauche. Einkehr und Achtsamkeit haben einerseits einen heilsamen Selbstzweck, bringen andererseits Erkenntnis und Gewahrwerden mit sich. Eine Freundin, die sich täglich mit ihrer Partnerin umgibt, sagte gestern: "Ich habe ihr gesagt, ich brauche zwischendrin ein paar Tage für mich. Das ist auch besser für den Erhalt unserer glücklichen Beziehung." Ein anderer Freund wiederum beschloss, diese Woche endlich eine Kontaktanzeige aufzugeben: "Ich habe keine Lust mehr, allein zu sein, ich trau‘ mich jetzt!" Ihm fehlt nicht nur eine Beziehung, sondern besonders die Berührung. Womit wir wieder beim Leiblichen wären: Auf den eigenen Körper hören, heißt für jede_n von uns etwas anderes derzeit. Mehr Schlaf, weniger Arbeit, weniger Alkohol, oder: endlich mal wieder ein Glasl Wein, weniger essen, mehr essen, mehr körperliche Zuwendung, weniger Party, mehr unter Leute gehen, mehr zur Ruhe kommen, weniger Selbstzerstörung, mehr Bewegung…
Die Liste ist endlos. Wichtig finde ich es, beim Entschluss zu fasten, immer zu prüfen, für wen ich es tue. Die Fastenzeit beispielsweise als Diät zu (be-)nutzen, könnte bedeuten, dem aufoktroyierten Schönheitsideal des flachen Bauchs, des dünnen Gesichts und kleinen Pos nachzueifern. Wie wäre es stattdessen, sich vorzunehmen, in der Fastenzeit die sogenannten Makel zu feiern?! Ich bin okay so, wie ich bin. Gott will mich so. Ich will mich so. Ich faste von den Selbstzweifeln, der ewigen Nörgelei an mir selbst. Ich bin schräg und que(e)r, ungemütlich, eckig, kantig, rund. Ich gehe heute mal vor die Türe, um mich der Welt zu präsentieren. Oder auch: Heute bleibe ich zu Hause, denn heute gehöre ich nur mir. Ich nehme mir die Zeit und alle Ressourcen, die ich habe und brauche, um Selbstfürsorge zu betreiben. Es ist wichtig, sich zu engagieren, ob für Refugees, LGBTIQ-Rechte oder andere Gleichbehandlungen von Marginalisierten. Dabei ist es aber immer eine gute Idee, die eigenen Bedürfnisse nicht aus dem Blick zu verlieren.
Selbstfürsorge bedeutet nicht, auf den Füßen anderer herumzutrampeln. Aber manchmal bedeutet es sehr wohl, andere vor den Kopf zu stoßen. Wenn diese gewohnt sind, dass man immer zur Stelle und belastbar ist.
Die Fastenzeit könnte also sein: eine Zeit, in der ich mich aufrichtig frage, was ich brauche. Sie muss nicht bedeuten, auf Genuss zu verzichten, sondern vielleicht eher, Genuss wieder herzustellen.