Das Gras muss noch wachsen

Das Gras muss noch wachsen
Foto: Rainer Hörmann
In Berlin wurde die Erweiterung der Gemeinschaftsgrabstätte Denk Mal positHIV feierlich eingeweiht. Damit erinnerte man nicht nur an die Folgen von HIV/Aids, sondern auch an den Umgang der Gesellschaft mit Tod, Trauer und Gedenken.

Das Berliner Gemeinschaftsgrab erinnert an Menschen, die mit der durch das HI-Virus ausgelösten Immunschwächekrankheit gelebt haben und an den Folgen von HIV/Aids gestorben sind. Ihnen wird - unabhängig von ihrer religiösen Überzeugung! - ein würdiges Begräbnis ermöglicht. Die Initiative dazu kam aus dem Umfeld der Ökumenischen Aids-Initiative KIRCHE positHIV; die Idee hatte ein entsprechendes Projekt auf dem Ohlsdorfer Friedhof in Hamburg gegeben. Im Jahr 2000 entstand so der federführende Verein Denk Mal positHIV. Er ließ eine denkmalgeschützte Begräbnisstätte auf dem zur evangelischen Zwölf-Apostel-Gemeinde gehörenden Alten Sankt-Matthäus-Kirchhof restaurieren. Mittlerweile haben 46 Menschen hier ihre letzte Ruhestätte gefunden.

Der erste, der im Berliner Gemeinschaftsgrab im August 2003 bestattet wurde, war der Aids-Aktivist Hans-Peter Hauschild. Er, der wegen seiner nicht verheimlichten Homosexualität die Caritas verlassen musste, war maßgeblich am Aufbau der Frankfurter Aids-Hilfe in den achtziger Jahren beteiligt. In einem Aufsatz "Trauerkultur" von 1993 schreibt er: "Die Entfaltungen einer AIDS-Trauerkultur könnten dazu beitragen, die Begrenztheit des Lebens ebenso grundsätzlich bewußt und fruchtbar werden zu lassen wie die Sehnsucht aller Lebenden, daß Glück sei anstatt Tod."

Die jetzige, durch Mittel der Stiftung Deutsche Klassenlotterie ermöglichte Erweiterung bezieht zwei dem ursprünglichen Wandgrabmal gegenüberliegende Grabflächen in die Anlage ein. Die in einem künstlerischen Wettbewerb gefundene Neugestaltung durch Jorn Ebner besteht in einer hohen Stele aus dunklem Berliner Klinker mit Marmortafeln an drei Seiten, auf denen künftig die Namen von Verstorbenen angebracht werden. Drumherum sind bereits die Pflanzungen zu sehen, doch bis sich der gewünschte Gesamteindruck - Stele inmitten eines Gräserfeldes - herstellt, braucht es noch etwas Geduld. "Das Gras muss noch wachsen", sagt einer der Redner bei der Einweihung der Erweiterung. Von den anwesenden Gästen und engagierten Menschen würde aber wahrscheinlich niemand wollen, dass Gras über die Sache wächst. Dazu ist die Erinnerung an die Immunschwächekrankheit zu wichtig, ihre Folgen für zu viele Menschen noch zu aktuell.

Pfarrerin Dorothea Strauß, Leiterin der Ökumenischen Aids-Initiative und im Vorstand des Denkmal-Vereins, formulierte in ihrer kurzen Rede die zentrale Frage, die die Neugestaltung des Gemeinschaftsgrabmals leiten sollte: Wie kann, nach 30 Jahren Aids, ein zeitgenössischer Umgang gefunden werden, der den unterschiedlichen Lebensformen gerecht wird?

Das schon vorher imposante, durch die Neugestaltung nun auch sprichwörtlich raumgreifende Gemeinschaftsgrab gibt durchaus widerspenstige Antworten. Denn die Erfolge in der medikamentösen Behandlung haben das Bild und den Umgang mit der Immunschwächekrankheit zumindest in den westlichen Ländern Europas sowie den USA verändert (anders ist dies freilich in jenen Ländern, wo den Betroffenen nach wie vor der Zugang zu medizinischer Versorgung verwehrt ist). Zugespitzt formuliert ist eine HIV-Diagnose heute kein Todesurteil mehr, der Umgang mit einer Infektion wird zum individuellen Management einer chronischen Erkrankung. Das Gemeinschaftsgrabmal bewahrt dagegen die kollektive Dimension. Es bewahrt die Idee, dass es auf Bedrohungen gemeinsam zu reagieren gilt. Es bewahrt die Namen und in der Addition von Namen auch eine Geschichte, wo sonst das einzelne Grab zu den Umständen des Todes schweigt und seinen Bezug zur Gemeinschaft vergisst.

Am historischen Wandgrabmal ist ein Jesus-Zitat (Lukas 10,20) angebracht: "Freut euch aber, dass eure Namen im Himmel aufgeschrieben sind." So wird eine Dimension eröffnet, die die Grenzen des Gemeinschaftsgrabmales übersteigt. Die moderne Stele, die die neugestaltete Erweiterung prägt, steht räumlich distanziert und doch im Angesicht dieses Zitats.