Behinderung als Thema von Queer

Behinderung als Thema von Queer
Inklusive Toilettenschilder; Foto: Katharina Payk
Queer ist mehr als sexuelle Orientierung oder Geschlecht. Queer als eine subversive Aktion stellt sich gegen Geschlechter-, Begehrens- und Körpernormierungen. Auch Ableness – deutsch etwa: die Orientierung an sog. Fähigkeiten – und das gesellschaftliche Konstrukt von Dis_ability – deutsch etwa: (Nicht_)Behinderung – werden im Queer-Konzept diskutiert und dekonstruiert.

Neben der Berücksichtigung von verschiedenen Strukturkategorien wie z. B. Geschlecht, race und Klasse ist es ebenso wichtig, im queeren Diskurs die Kategorie Dis_ability miteinzubeziehen. Menschen mit Behinderungen werden tagtäglich exkludiert, nicht mitgemeint und mitbedacht. Gerade das Thema Beziehungen und Sexualität von behinderten Menschen ist durch eine paternalistische Herangehensweise und eine Sicht bestimmt, die es beispielsweise nur Menschen mit der Norm entsprechenden Körpern zugesteht, Lust zu leben – ganz zu schweigen von Menschen mit sog. geistiger Behinderung.

Ich finde, es wird Zeit, im Kreuz-und-Queer-Blog darüber zu schreiben – auch und gerade, weil es ein zutiefst christliches Thema ist, der Umgang mit dem nicht der Norm Entsprechenden, mit dem sogenannten Schwachen, was gerade auch durch Jesus nicht als solches bestätigt wird. Und auch, weil es ein zutiefst christliches Anliegen ist, der Marginalisierung von Menschen, die in ihrer körperlichen oder sog. geistigen Verfassung oder in ihrem Gesundheitszustand nicht dem – übrigens nur vermeintlich nichtbehinderten, vermeintlich gesunden – Mainstream entsprechen, entgegenzutreten.

Eine Verschmelzung der Gender Studies, Dis_ability Studies und der Queer Studies – alle angewandte Wissenschaften – stellen die Queer Dis_ability Studies dar. Sie diskutieren u. a. die Gemeinsamkeiten und Verwobenheiten von Behinderung und LGBTI[1]-Erfahrungen. Beiden gemein ist, dass sie in der Gesellschaft als "fehlerhaft", "anders", "merkwürdig" markiert und als solche an den Rand gedrängt sind. In das grundsätzlich durchlässige Queer-Konzept lässt sich Dis_ability nicht nur gut einbringen, sondern es gehört auch von Anbeginn dazu, weil Queer gegen Normierungen und (Fremd-)Zuschreibungen aufbegehrt. Queer stellt sich zudem gegen dichotome Polarisierungen, also die Auffassung, als gäbe es nur heterosexuell oder homosexuell, Mann oder Frau und behindert oder nichtbehindert – und nichts dazwischen. Queer eröffnet die Möglichkeit und gibt die Wahrscheinlichkeit zu bedenken, dass wir alle (potenziell) alles sind oder sein können oder es irgendwann in unserem Leben einmal sein werden; dass wir Anteile von allem in uns haben und nur durch gesellschaftliche Festschreibungen als das eine oder das andere gelesen – und damit gemacht – werden.

Genau wie beispielsweise "schwul" oder "Frau" mit ganz bestimmten (Rollen-)Bildern konnotiert sind, sind auch behinderte Menschen durch vermeintliche Merkmale markiert. Dazu gehören gemeinhin z. B. Hilfsbedürftigkeit, Schwäche und Asexualität.

Behinderung wird in den Dis_ability Studies als soziale, nicht medizinische Kategorie definiert. Die Dis_ability Studies weisen darauf hin, dass erst in einer Gesellschaft, die für Nichtbehinderte gestaltet ist, eine Behinderung – im Sinne von behindert werden, statt behindert sein – entsteht und ein nichtbehinderter Mensch sich auch erst im Gegenüber, d. h. durch die Markierung anderer als behindert, als ein solcher definiert. Ähnlich wie dem Denkmodell von Geschlecht in den Gender Studies wird also Behinderung über gesellschaftliche Diskurse hergestellt, "Doing Dis_ability", wie Robert McRuer, der die sog. Crip Theory[2] etabliert hat, es treffend ausdrückt.

Sexualität wird Menschen mit Behinderung meistens abgesprochen, selbstbestimmte Sexualität erst recht. Das reicht von der Vorstellung, behinderte Körper seien nicht sexy bis hin zu Reproduktionskontrollen  oder dem Nicht-Bereitstellen bzw. Erschweren von Sexualassistenz. Sexualität ist daher für viele behinderte Menschen der wundeste Punkt oder zumindest ein hart zu erkämpfendes bzw. erkämpftes Feld ihrer Selbstbestimmung. Auch hier gibt es – wenn auch nicht eins zu eins – Parallelen zu LGBTI-Biographien. Die Teilhabe an der Gesellschaft wird queeren Sexualitäten erschwert oder verwehrt. Der Körper, der in Begehren und Schönheit nicht dem Mainstream entspricht, wird von sexueller Selbstbestimmung entkoppelt. Wer "Makel" hat, darf Sexualität – wenn überhaupt – nur unter ganz bestimmten Bedingungen genießen. Persönliche Ansprüche, Reproduktion, freie Entscheidung werden Menschen mit Behinderungen allzu oft abgesprochen. Die gesellschaftliche Ausgrenzung wird noch spürbarer, wenn jemand beispielsweise behindert ist/wird und lesbisch, schwul oder bisexuell lebt. Auffallend in unserer Gesellschaft ist, dass sowohl "schwul" als auch "behindert" von vielen Menschen als Schimpfwörter verwendet werden – also, um etwas oder jemanden im Wert zu degradieren.

Gerade der Umgang mit Sprache ist im Bereich Geschlecht wie auch im Bereich Dis_ability ein sensibler Faktor. Die ableistischen und behindertenfeindlichen Sprichwörter und Phrasen kennen alle ("Das sieht doch ein Blinder mit dem Krückstock"; "Sag mal, bist du schwerhörig oder was?" etc.). Transportiert wird zudem auch sprachlich eine Passivität von behinderten Menschen. "Sie sitzt im Rollstuhl" hört sich so an, als würde sich die betreffende Person null (fort-)bewegen. Zu oft wird zudem über Betreuung von behinderten Menschen gesprochen, obwohl es zuallermeist um Assistenz geht. Und wenn öffentliche wie private Gebäude den körperlichen wie psychischen Bedingungen möglichst aller Menschen angepasst wären, fiele sogar in vielen Fällen der Bedarf nach Assistenz weg.

Betreffend Gemeinde- und Kirchenräume sollte nicht erst darauf gewartet werden, dass eine_r nach Barrierefreiheit fragt oder sie fordert, sondern dass die räumlichen Bedingungen von vornherein so gestaltet sind, dass Menschen mit unterschiedlichen physischen und psychischen Bedingungen und Einschränkungen per se willkommen sind (Aufzüge, Induktionsschleifen, Gebärdendolmetsch, Ruheräume und vieles mehr). Auch in Predigten sollte darauf geachtet werden, dass nicht ein antiquiertes Bild vom hilfsbedürftigen Behinderten gezeichnet wird, der_die ständig nur auf die Unterstützung Nichtbehinderter angewiesen ist – und am Ende noch dankbar dafür sein soll.

Viel schöner und hilfreicher ist es, wenn Theolog_innen darauf hinweisen, wie fragil und beweglich Körper und Psyche aller Menschen sind, wie sehr die Themen Sexualität, Geschlecht, Körper/Leib alle Menschen betreffen und wie wenig sinnvoll es daher ist, von "dem Andersartigen" zu sprechen oder es immer im dichotomen Gegensatz zu "Meinem" zu setzen.

Offensichtlich ist diese Willkommens- und Inklusionskultur nicht immer gegeben. Oft treffe ich gerade bei expliziten Queer-Gottesdiensten Menschen mit Behinderungen – u. a. weil sie sich dort besser aufgehoben fühlen. Das ist einerseits schön, gibt aber andererseits auch zu denken.

 

Zum Weiterlesen

McRuer, Robert: Crip Theory. Cultural Signs of Queerness and Disability, New York 2006.

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[1] Lesbian, Gay, Bisexual, Trans*, Inter*

[2] Crip, deutsch: "Krüppel". Der eigentlich abwertende Begriff wird wie bei der Queer Theory von Betroffenen selbst angeeignet und als eine positive Selbstbezeichnung umgedeutet.