„Ein schwules Kirchenlied hat bislang keiner geschrieben!“

„Ein schwules Kirchenlied hat bislang keiner geschrieben!“
Foto: epd-Bild/Jens Schulze (M)
Im Gottesdienst da wird gesungen. Aber was? Gibt es Lieder, in denen sich auch Homosexuelle mit ihrer speziellen Lebenserfahrung und ihrem Glauben wiederfinden? Ein Interview mit dem Musiker und Komponisten Franz Kaern-Biederstedt.

Zuerst ganz allgemein gefragt: Warum wird überhaupt im Gottesdienst gesungen?

Franz Kaern-Biederstedt: Das hat zunächst einen geschichtlichen Ursprung, nämlich in Martin Luther. Der Reformator wollte den mündigen Gottesdienst-Besucher, eine aktive Gemeinde. Das Kirchenlied war ein Mittel der Beteiligung, zugleich war es ein Mittel, über die Texte auch theologisch zu unterrichten, aufzuklären. Seitdem ist das Lied Bestandteil des evangelischen Gottesdienstes und auch die katholische Kirche hat sich das reformatorische Erfolgsrezept zu eigen gemacht. Heute steht eher der Aspekt des gemeinschaftlichen Singens im Vordergrund. Abgesehen davon, dass ein Gottesdienst mehr Abwechslung durch Lieder hat, dient das Singen dem Aufbau eines Gemeinschaftsgefühls. Musik erhebt uns aus dem Alltag, sie dient dem, wie es so schön heißt, Gleichklang der Seelen.

Franz Kaern-Biederstedt ist Hochschuldozent und Musiker/Komponist mit Schwerpunkt auf geistlicher Musik. Er lebt in Leipzig, ist Mitglied im Vorstand der HuK (Homosexualität und Kirche e.V.) und war im Planungsteam für das Regenbogenzentrum des evangelischen Kirchentags in Stuttgart.
Wonach werden Lieder für einen Gottesdienst ausgewählt?

Franz Kaern-Biederstedt: Lieder können in gewisser Weise liturgische Stationen im Gottesdienst repräsentieren, etwa wenn im „Kyrie“ um göttlichen Beistand gebeten, im „Gloria in excelsis deo“ Gott gepriesen wird. Daneben gehören Psalmenlieder zum Kirchenjahr, ebenso wie Jahreszeitenlieder.

Ein ganz persönliche Nachfrage: Was denkt ein musikalischer Mensch wie du über Mitsing-Verweigerer wie mich?

Franz Kaern-Biederstedt: (lacht) Es bleibt wirklich jedem selbst überlassen, ob er mitsingen will. Und dass in einem Gottesdienst gar keiner mitsingt, habe ich bis jetzt nicht erlebt. Unangenehm ist es, wenn ich fürs laute Mitsingen kritische Blicke von denen bekomme, die nur so vor sich hinmurmeln.

Wie wichtig ist der Inhalt der Lieder? Zum Nachdenken ist im Gottesdienst selbst ja meist keine Zeit!

Franz Kaern-Biederstedt: Wer einen Gottesdienst plant, wird natürlich die Lieder auch nach ihrem Inhalt sinnvoll auswählen. Man muss beim Singen in der Kirche einen Liedtext sicher nicht sofort voll erfassen. Das Lied kann auch einfach Assoziationen wecken, über Schlüsselbegriffe, die uns berühren. Übrigens: Wer nicht mitsingt, kann dann ja vielleicht mehr auf den Text achten!

Was wären Kriterien für Lieder in einem Gottesdienst mit überwiegend homosexuellen Teilnehmerinnen und Teilnehmern bzw. aus Anlass eines Ereignisses wie etwa dem CSD?

Franz Kaern-Biederstedt: Generell bevorzugen Schwule, Lesben und Transgender, so ist meine Wahrnehmung, eher neueres Liedgut, dessen Sprache weniger exklusiv, weniger patriarchalisch erscheint. Die Lieder dürfen auch ruhig beschwingter sein, wobei Feiern durchaus mit Nachdenklichkeit einhergehen kann. Es können Lieder sein, in denen die Humanität, die Gemeinschaft, die Vielfalt hervorgehoben werden oder auch Zweifel ihren Ausdruck finden. Trotz aller Schwierigkeiten mit Teilen der Kirche gibt es ein spirituelles Bedürfnis, mit dem man sich wiederfinden möchte.

Was ist mit Liedern aus der Populärkultur, die für Schwule und Lesben eine Bedeutung gewonnen haben?

Franz Kaern-Biederstedt: Also „Y.M.C.A.“ geht nicht! Es mag zwar sehr ironisch und lustig sein, hat aber nun mal keinerlei christlichen Inhalt. „Somewhere over the rainbow“ schon eher, insofern es mit seiner Sehnsucht nach einer paradiesischen Welt durchaus in einen religiös-spirituellen Kontext passt.

Bleiben wir also bei Liedern, die für den kirchlichen Gebrauch geschrieben wurden. Was wären Beispiele neuerer Kirchenlieder?

Franz Kaern-Biederstedt: Ein Beispiel wäre etwa „Du bist heilig Du bringst Heil“ mit der Botschaft, dass wir alle „Teil der Geschichte“ sind. „Da wohnt ein Sehnen tief in uns“ handelt von der Sehnsucht, begleitet zu sein. „Vertraut den neuen Wegen“ ist ein zuversichtliches Lied für Paare, die ihr Leben gemeinsam gestalten wollen, aber auch eine allgemeine Ermunterung, neue Sichtweisen und neue Glaubenserfahrungen in der Kirche zuzulassen und bewusst zu suchen. Und in „Wo Menschen sich vergessen“ ist die Überwindung von Hass und der Neubeginn in der Liebe ausgedrückt - ein sehr allgemeiner Wunsch, den Schwule und Lesben aber sicher auf ihre Weise gut nachvollziehen können. So erfreulich diese neuen Lieder sind, fände ich es schade, wenn darüber „die guten, alten“ Lieder vernachlässigt würden.

Sind nicht gerade die „alten“ Kirchenlieder weit weg von der Lebenswirklichkeit Homosexueller?

Franz Kaern-Biederstedt: Manche schon, aber „Sonne der Gerechtigkeit“ ist für mich ein flammender und stets aktueller Appell an das Menschsein. „Geh aus mein Herz und suche Freud“ wurde von Paul Gerhard kurz nach dem Tode seiner Frau geschrieben, trotzdem lobt er in diesem Lied die Schönheit und die Vielfalt der Welt. Da lese ich „uns“ hinein, denn alles, was Gott geschaffen hat, ist gut.

Warum gibt es eigentlich kein wirklich ‚schwules‘ / ‚lesbisches‘ Kirchenlied?

Franz Kaern-Biederstedt: Weil es bislang niemand geschrieben hat! Es gibt eine Fülle von Liedern, in die Homosexuelle, Transsexuelle sich hineindenken können, aber es wäre schön, gäbe es auch Lieder, die uns auch explizit ansprechen. Falls jemand so ein Lied dichten würde, wäre ich sofort bereit, eine Melodie dazu zu komponieren!