Quer gelesen: Turmbau zu Babel

Quer gelesen: Turmbau zu Babel
Biblische Texte quer lesen. Mit einer anderen Perspektive, mit einer anderen Fragestellung. Das fördert Überraschungen und neue Erkenntnisse zutage. Und es zeigt, dass Bibel lesen immer schon Bibel interpretieren bedeutet.

In meinen nächsten Blogeinträgen werde ich immer wieder einmal einen Bibeltext quer lesen und neue Blickwinkel zum Text ins Gespräch bringen.

Heute ist es die Geschichte vom Turmbau zu Babel (1. Mose 11,1-9).

Einst lebten alle Menschen in einer Stadt. Sie sprachen eine Sprache, kamen aus einer Kultur. Eines Tages begannen einige Menschen von ihnen einen Turm zu bauen, der bis zum Himmel reichen sollte. Damit wollten sie sich einen Namen machen, Ruhm ernten und mehr Macht gewinnen. Mit dem Turm wollten sie alle Menschen beobachten und kontrollieren können. Mit viel Eifer und Energie bauten die Menschen an diesem Turm. So beginnt die biblische Geschichte vom Turmbau zu Babel. Aber Gott lässt das Großprojekt nicht zu. Er sieht, dass die Menschen aus Hochmut bauen und dass sie selbst wie Gott sein wollen. Deshalb stoppt er den Turmbau, indem er die Menschen aus der Stadt vertreibt. Er veranlasst außerdem, dass die Menschen fortan verschiedene Sprachen sprechen und sich nicht mehr mühelos verstehen.
 

Im Allgemeinen wird dies als Strafe Gottes angesehen. Die Geschichte kann aber auch ganz anders verstanden werden.
Die Sprachverwirrung ist nicht unbedingt eine Strafe! Sie kann auch als Geschenk Gottes an die Menschen gesehen werden, als eine Befreiung.
Wie langweilig ist das denn, wenn alle dieselbe Sprache sprechen, dieselben Dinge erleben und nur eine Kultur miteinander teilen? Ist es da nicht ein Segen, wenn es keine Einheitssprache mehr gibt, keine Einheitskultur und keine Machtzentrierung, die durch den Turm nur noch unheimlicher geworden wäre?

Sprache, Kultur, Religion und Lebensformen zu überwachen und zu kontrollieren, ist in vielen Ländern der Welt leider immer noch Wirklichkeit. Menschen werden unterdrückt und vom kritischen eigenständigen Denken und Handeln abgehalten, so wie in einer Militärdiktatur.

Aber auch innerhalb von demokratischen Ländern sind es Extremisten oder Fundamentalistinnen, die versuchen, nur eine Lebensform, eine Religion, eine Kultur oder eine Sprache zuzulassen und alles andere als minderwertig oder böse zu verdammen oder sogar gewaltsam gegen sie vorzugehen. Persönliche Erfahrungen und Lebensgeschichten werden dadurch unkenntlich gemacht oder sogar zerstört. Einheitssprache und Einheitskultur sind nicht paradiesisch! Sie bedeuten Zwang und Kontrolle für diejenigen, die nicht so sprechen, nicht so denken oder leben, wie es eine Militärdiktatur oder eine Mehrheitskultur vorgibt.

Für mich ist diese Lesart der biblischen Geschichte bedeutsam. Ich spüre die freudige Verheißung, die in der Geschichte deutlich wird: Gott befreit vom Druck, einer Einheits-Kultur zu folgen und einer Einheits-Norm entsprechen zu müssen. Die Angst, anders zu sein als andere und die Erfahrung, irgendwie fremd zu sein, begegnet so unversehens einer anderen Stimme: Die Vielfalt von Sprachen, Kulturen und Lebensformen ist bereichernd und wertvoll! Bedrohlich ist es nicht, anders zu sein, sondern gefährlich ist es, alle unter dem Deckmantel der "Einheit" zu uniformieren.

Wenn Menschen versuchen, trotz ihrer unterschiedlichen Sprachen und Lebenszusammenhänge miteinander zu reden und sich ihre Lebensgeschichten erzählen, dann können Menschen voneinander lernen und Ängste abbauen. Es geschieht heute schon in vielen interkulturellen und interreligiösen Begegnungsforen, in Gesprächskreisen zu verschiedenen Lebensformen. Es geht dabei gerade nicht darum, die eigene Identität aufzugeben oder sich im allgemeinen „Einheitsbrei“ der Kulturen und Religionen aufzulösen, sondern darum den Anderen als den Anderen zu respektieren.