Die Frage der Woche, Folge 84: Muss man Religion in allem finden?

Die Frage der Woche, Folge 84: Muss man Religion in allem finden?
Wenn Religion dazu herhält, jeden einzelnen Aspekt des eigenen Lebens zu erklären, entstehen Extremisten.

Liebe evangelisch.de-Nutzerinnen und -Nutzer,

unter unserer Meldung Studie: Mehrheit der Bevölkerung für 'Ehe "für alle" vom 12. Januar haben wir einen Nutzer-Kommentar nicht veröffentlicht, über den ich aber noch länger nachdachte und ihn deswegen hier diskutieren möchte.

Der Nutzer Martell schrieb dort:

"Die eher stiefmütterliche Behandlung der religiösen Dimension ist mir auch bei anderen Themen aufgefallen. Z.B. bei den islamistischen Anschlägen im vergangenen Jahr. Sie werden von evangelisch.de eher gesellschaftspolitisch betrachtet, der religiöse Hintergrund vollkommen ausgeblendet. Ich habe nur noch nicht herausgefunden, warum offensichtliche religiöse Zusammenhänge, die ja auch für das Verständnis der Geschehnisse notwendig sind, nicht thematisiert werden. Vielleicht mangelndes Wissen über Religion in Geschichte und Gegenwart? Oder haben die evangelisch.de-Mitarbeiter vielleicht ein eher säkular-politisches Selbstverständnis? Oder - tatsächlich ein blinder Fleck?"

Wir haben diesen Kommentar zunächst nicht veröffentlicht, weil Martell unterstellt, die Redaktion sei "auf dem islamistischen Auge blind" und würde religiöse Zusammenhänge "nicht thematisieren" und damit impliziert, wir würden das absichtlich gutheißen. Das ist offensichtlich falsch, weil wir die "religiösen Zusammenhänge" auch in der Berichterstattung über Anschläge benennen, wenn es welche gibt.

Ich habe mich allerdings dann auch gefragt, was Martell hier eigentlich will. Denn offenbar reicht es ihm und anderen Kommentatoren mit dieser Unterstellung nicht, wenn man bei einem Anschlag erwähnt, dass ein mutmaßlicher Täter möglicherweise islamistische Verbindungen hatte, oder darauf wartet, dass diese Verbindungen von Ermittlungsbehörden auch bestätigt werden. In dem Kommentar schwingt eine Vorverurteilung mit, die sehr schnell den Raum der Tatsachen verlässt und das weite Feld der vorurteilsbeladenen Interpretation betritt. Bei weitem nicht jeder Muslim, der eine Straftat begeht, ist ein Islamist oder handelt aus religiösen Motiven. Wenn man sich die Straftaten anschaut, die in den letzten Monaten Schlagzeilen machten, wird klar: Dass der Anschlag auf den Weihnachtsmarkt in Berlin islamistischer Terrorismus, ist eine Tatsache. Wir als Redaktion hätten das schneller wissen können, weil wir das Bekennervideo erst relativ spät gesehen haben - und den Beleg braucht es schon, nicht nur die Vermutung. Aber die Tatsache ist klar. Dagegen waren zum Beispiel die viel veröffentlichten Beziehungstaten der letzten Monate erstmal keine religiös motivierten Taten.

Das Problem ist, dass die Suche nach "offensichtlichen religiösen Zusammenhängen" bei Nutzern wie Martell (und er ist nicht der einzige) dazu führt, dass eine spezifische Religion - der Islam - zunehmend als Ursache für alle bösen Taten von muslimischen Menschen herhalten muss. Diesen Wunsch lese ich jedenfalls aus solchen und anderen Kommentaren heraus, die wir eben deswegen nicht veröffentlichen.

Denn diese Denkweise ist hoch problematisch. Um das zu illustrieren, nehmen wir mal folgendes Beispiel: Ein Mann bringt seine Schwester um. Was wäre die erste Assoziation, wenn man überall religiöse Motive sucht? Wenn es sich um eine christliche Familie handelt: Familienstreit. Wenn es sich um eine muslimische Familie handelt: Ehrenmord. Es könnte aber auch genauso gut Totschlag im Affekt sein, ein Unfall, ein Erbstreit oder was auch immer sein. Das muss man erst wissen, bevor man sich ein Urteil erlauben darf! Wer immer und überall zuerst nach religiösen Verbindungen sucht, geht mit Scheuklappen durch eine Welt, die von viel mehr Einflüssen bestimmt wird als nur durch Religion.

Das gilt übrigens auch für's Christentum. Die Themen, zu denen wir auf evangelisch.de größere Geschichten machen, suchen wir mit dem Blick von deutschen evangelischen Christinnen und Christen aus. Das bedeutet aber noch nicht, dass wir allen Ereignissen oder Motivationen automatisch ein Kreuz umhängen und sagen: Nur wenn etwas evangelisch ist, ist es auch gut. Glaube ist zunächst eine individuelle Beschäftigung mit Gott und der Schöpfung. Er gibt Menschen Kraft und Ideen, manchmal gute, manchmal schlechte. Trotzdem leben alle gläubigen Menschen in einer Welt, in der auch andere Regeln gelten: Gesetze, Gefühle, soziale Kontexte, wirtschaftliche Lage - eben alles, was man neben dem Glauben auch berücksichtigen muss.

Religion und Glaube sind nicht die Folie, auf der sich das alles abspielt, sondern einer von vielen Faktoren, der das Handeln einzelner Menschen prägt. Extremisten entstehen, wenn Religion der einzige Faktor wird, der ihr Handeln lenkt. Deswegen wollen wir keinen engstirnigen Protestantismus, der sich selbst genug ist. Und auch keine andere Religion, die ihren Gläubigen das ganze Leben religiös erklärt. Wir brauchen Gläubige, die die Welt um sie herum, sehen, verstehen und versuchen, sie bisschen besser zu machen. Für alle, nicht nur für sich selbst.

Ich wünsche euch und Ihnen ein gesegnetes Wochenende!


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Ich werfe immer am Samstag an dieser Stelle einen Blick auf die vergangene Woche und beantworte außerdem Ihre Fragen zu evangelisch.de, so gut ich kann. Ich wünsche euch und Ihnen einen gesegneten Start ins Wochenende!