OMG, Twitter ist böse!1!11!

OMG, Twitter ist böse!1!11!
Altbischof Wolfgang Huber spricht sich auf Twitter gegen Twitter aus. Ein Anlass, über Kirchenbilder zu sprechen. Welcher Ort ist für Kirche wichtiger - Kirchengebäude oder Online-Begegungen?

Nachdem Grünen-Chef Robert Habeck sich von Twitter und Facebook abgemeldet hat, weil er auf Twitter polemischer wird, als er sein möchte, schlägt Altbischof Wolfgang Huber in die gleiche Kerbe und twittert nach einer Diskussion im Dom zu Brandenburg über die "Twitter-Falle":

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Ganz erstaunlich daran ist Hubers Beobachtung, man würde "aneinander vorbei twittern". Gerade Twitter ist ein Raum der Begegnung wie kaum ein anderer im Netz. Aber Twitter ist ein fast völlig öffentlicher Raum. Es kann durchaus passieren, das man dort missverstanden oder ignoriert wird, absichtlich oder aus Unwissenheit. Man kann auf Menschen stoßen, die einen absichtlich an den Karren fahren können, oder Menschen, die sich nur zur Selbstdarstellung in Diskussionen einmischen. Damit muss man umgehen lernen. Man twittert vor allem dann aneinander vorbei, wenn man sich auf gar keine Interaktion einlässt. Die Kunst auf Twitter ist, die positiven Interaktionen zu stärken (durch liken, retweeten, antworten), und die negativen zu schwächen (ignorieren, blockieren, Nazi-Tweets melden).

Ich habe schon auf Twitter (@dailybug) meine Antwort auf Wolfgang Hubers Tweet geschrieben: Social Media sind Orte öffentlicher Begegnung, gerade Twitter, Facebook und YouTube (Instagram meiner Meinung nach etwas weniger, weil es einen viel größeren performanteren Anteil hat). Warum sollten wir als Kirche gerade dort besonders vorsichtig sein?

Es kann ja sein, dass der Altbischof das Gefühl hat, dass er selbst an anderen Menschen vorbeitwittert. Es gibt aber zahlreiche Gegenbeispiele, dass das keine Gesetzmäßigkeit der Plattform ist. Unter anderem ist der Strang an Antworten, der sich unter seinem Tweet ergeben hat, ein direktes Gegenbeispiel: Da haben sich nämlich mehr als zwei Dutzend Menschen konstruktiv zu Wort gemeldet, die eine eigene Meinung zum Thema haben und sich über eine interaktive Diskussion mit dem Urheber des Ausgangsgedankens wirklich freuen würden.

Welcher Ort ist für Kirche wichtiger?

Etwas weiter gedacht finde ich, dass Wolfgang Huber den falschen Ort für eine zeitgemäße Kirche priorisiert. Er scheibt: "Die Kirche darf nicht denken, sie ist beständig neu, wenn sie sich digitalen Trends anschließt. Sie muss ein Ort sein, an dem sich Menschen begegnen und sich nicht durch Twittern aus dem Weg gehen." Daraus ergibt sich eine Rangfolge der Wichtigkeit von Orten für die Kirche, die ich genau andersherum sehe.

Im Versuch der Visualisierung sieht das so aus:

Orte von Kirche und Social Media

Natürlich muss man dabei auch immer mitdenken, dass wir von den Kirchensteuern der hochverbundenen und interessierten Mitglieder finanziert werden. Deswegen kann das keine abschließende Betrachtung sein, welcher Aufwand für welche Gruppe betrieben werden sollte.

Aber ich bin der festen Überzeugung, dass die Basis von Kirche nicht im hoch spezialisierten Kirchenraum liegt, sondern in der Breite aller Menschen, die sich als Kirche verstehen und sie in der Öffentlichkeit oder in Teilöffentlichkeiten repräsentieren. Die Begegnungen und Glaubenskontakte, die außerhalb kontrollierbarer, traditioneller, kohlenstofflicher Räume passieren, sind vielleicht in ihrer Intensität und theologischer Korrektheit nicht so, wie Wolfgang Huber sich das wünscht. Aber sie sind vielfältiger und zahlreicher als alle Menschen, die im Laufe eines Jahres in Deutschland einen Kirchenraum betreten (ausgenommen die Touristen im Kölner Dom).

(Auch das, was ich hier holzschnittartig skizziert habe, ist diskussionswürdig - also los, hier oder auf Twitter.)

Ich war vergangene Woche zum Vortrag und Workshop über Digitalisierung beim gemeinsamen Fachjugendtag der Evangelischen Kirchen in Mitteldeutschland und Anhalt und der Bistümer Paderborn und Magdeburg. Aus den Gesprächen dort möchte ich noch zwei Dinge mitgeben.

Erstens: Im Vortrag hatte ich dazu aufgefordert, Wlan in jedes Gemeindehaus zu hängen. Da kam aus dem Publikum die Frage "für wen?" Klare Antwort: Für jeden, nicht nur für die, die das Passwort kennen! Auf diese Unsicherheit, was dann passiert, muss man sich eben einlassen (Störerhaftung ist abgeschafft, Godspot und Freifunk lassen grüßen). Wir sind Kirche in einer Welt, in der wir noch immer lernen müssen, VUCA auszuhalten. VUCA steht für "Volatility, Uncertainty, Complexity, Ambiguity". Ich kenne das aus dem Umfeld der "Working out loud"-Bewegung aus dem Konzernbereich. Kerngedanke in aller Kürze ist: Unsicherheiten über belastbare Beziehungsnetzwerke bewältigen, statt starre Lösungen vorzugeben, die mit ständigen Veränderungen und Bewegungen nicht mithalten können.

Kirchenmauern gehören zu den starrsten Konstrukten überhaupt. Sie schaffen besondere Räume, die auch besonders genutzt werden sollen, und ermöglichen eigene starke, emotionale Erlebnisse. Sie können deshalb aber nicht die Heimat für die ganze Kirche sein.

Die zweite Beobachtung vom Fachjugendtag war diese. Frustration bei den Menschen in Gemeinden und Kirchenkreisen entsteht dann, wenn Kirchenleitende (auf allen Ebenen) und/oder Meinungsführer ihen sagen: Das, was du machst, brauchen wir nicht. Das ist nicht nur bei Kirchens so, aber gerade bei uns müsste Ermutigung doch eigentlich ein Grundprinzip sein, oder?

Gottseidank lassen sich die Menschen in #digitalekirche nicht so leicht entmutigen. Auch nicht, wenn ein Altbischof auf der Basis keiner oder negativer Erfahrungen sagt: "Lasst das lieber, ihr könnt Kirche damit nicht erneuern und es bringt ja eh nichts". Ich glaube nämlich nicht, dass er damit Recht hat. Und damit bin ich nicht allein.

Vielen Dank für’s Lesen & Mitdenken!


Im Blog Confessio Digitalis schreibe ich meine Beobachtungen, Links und Interviews zu den Themen Digitalisierung, Digitale Kirche und digitalisierte Welt auf. Ich bin erreichbar auf Twitter als @dailybug.

P.S.: Leser*innen haben mich darauf hingewiesen, dass "Digitalis" auch der Name der Fingerhut-Pflanzen ist, die zu Gift verarbeitet werden können. Das lässt den Blogtitel "Confessio Digitalis" natürlich ein bisschen fies klingen. Andererseits behandelt man mit Digitalis-Präparaten auch Herzprobleme. Und dass das digitale Herz der Kirche besser schlägt, ist mir ein Anliegen. Deswegen lasse ich den Namen des Blogs so - nehmt es als Präparat!