Wir sind Cyborgs der ersten Generation

Wir sind Cyborgs der ersten Generation
Das Smartphone und die damit verbundene Verbindung zu Datennetzen macht uns zu technisch verbesserten Menschen - zu Cyborgs. Auch ohne Implantate.

Wir sind die erste Generation Cyborgs. Ohne unser externes Gedächtnis, unsere Navigationssoftware und die ständige Erreichbarkeit sind wir nicht komplett. Die technischen Ergänzungen unserer biologischen Fähigkeiten machen uns erst zu kompletten Menschen in unserer heutigen Umgebung: einer vernetzten Welt.

Das ist jedenfalls die These von Jason Kehe, Wired-Autor, der acht Monate mit einem Flipphone statt einem Smartphone lebte. Freiwillig. Außer telefonieren und SMS mit T9-Worterkennung konnte sein Telefon nichts. Die Folge: Seine Mutter machte sich ständig Sorgen, er hat sich (zumindest anfangs) immer wieder verlaufen und für alle Annehmlichkeiten des Alltags musste er sich eine „friend tax“ erbetteln und sich bei Freunden die Grundfunktionen der vernetzten Welt ausleihen: Geld versenden, Taxis/Uber rufen, Essen bestellen, Wegbeschreibungen abrufen und so weiter.

Cyborgs sind Menschen, die einen Teil ihrer biologischen Funktionen durch technische Unterstützung ersetzen oder verstärken. Es gibt schon jetzt Bodyhacker und Transhumanisten, die nach Wegen suchen, ihre eigenen Körper zu augmentieren, indem sie sich beispielsweise LEDs oder Magneten unter die Haut implantieren lassen. Die moderne Medizin ist in vielen Bereichen schon weiter: Cochlea-Implantate für Gehörlose, künstliche Hüftgelenke und Herzschrittmacher sind jetzt schon technische Ersatzlösungen für biologische Funktionen.

Allerdings sind die medizinischen Implantate immer defizit-orientiert. Sie erweitern die biologischen Fähigkeiten nicht, sondern ersetzen eine ausgefallene oder schwache Funktion.

Das Smartphone ist kein Defizit-Ausgleich

Dagegen ist der Kleincomputer in der Hosentasche oder am Handgelenk eine echte Ergänzung. Das Gerät kann zwar weniger Datenmenge speichern als unser Gehirn, dafür ist die Information immer im oberflächlich zugänglichen Speicher abgelegt. Es ergänzt unseren Orientierungssinn um eine sehr genaue Ortsangabe und die Umgebungswahrnehmung auch hinter die nächsten zwei Kreuzungen. Es erhöht die Wahrnehmungsdistanz für andere Menschen auf unendlich: Wir können mit Menschen, mit denen wir uns einmal verbunden haben, bis auf die andere Seite des Globus in Kontakt bleiben.

Das Gerät an sich ist nur ein Teil dieser Möglichkeiten, denn wir sind nicht nur Cyborgs, sondern sogar vernetzte Cyborgs. Mit dem Smartphone, das mit dem Internet verbunden ist, haben wir den klassischen Cyborg mit mechanischen Armen und eingebauten Computern schon längst überholt (und den Smombie weit hinter uns gelassen). Im schlimmsten Fall macht uns das zu den Borg aus Star Trek, die diese Vernetzung untereinander auch schon hatten – aber dafür ihre Individualität aufgaben und eher wie ein transhumanistischer Bienenschwarm funktionierten.

Wie wichtig diese Funktionalitäten und wie verloren wir ohne sie sein können, illustriert der teilweise Internet-Ausfall in Seoul am 24. November. Das südkoreanische Medium Hankyoreh zitiert in ihrem Bericht einen Bewohner von Seoul, 42 Jahre alt, der einen Tag lang weder Telefon noch Fernsehen noch Internetzugang hatte: “It was a fear I’ve never experienced before, being unable to access any information.“

Nicht mehr potentiell vollständig informiert sein zu können, den Zugang zum Datennetz zu verlieren, hat in ihm eine echte Angst ausgelöst. Natürlich hatte er noch Zugang zu Informationen, er hätte nur mit Menschen um ihn herum reden müssen. Auch dadurch bekommt man Informationen, allerdings nur eine unzulängliche Auswahl.

Wir können unsere Augmentierung noch wegwerfen

In der Science Fiction werden so auch Dystopien beschrieben: die Decker aus Neuromancer, die Borg aus Star Trek, die zwangsweise vernetzten Menschen in Matrix, die immer transparente Welt aus The Circle. Aber soweit sind wir noch lange nicht. Bisher sind die Erweiterungen unserer menschlichen Fähigkeiten durch das weniger als eine Armeslänge entfernte Datennetz eine Erleichterung und etwas, das mehr positive als negative Effekte hat.

Wired-Autor Jason Kehe hatte sich von der Smartphone-Abstinenz versprochen, einen klareren Kopf im Alltag zu bekommen. Das hat für ihn nicht funktioniert. Zwar hat er seinen Orientierungssinn wieder entdeckt. Aber das Smartphone, dass er nicht hatte, hat ihn mental mehr belastet als das Smartphone, als er noch eins hatte.

Auch mein Plädoyer ist, das Handy auch mal auszulassen. Meins steht inzwischen fast dauerhaft auf Lautlos ohne Vibrationen: Ich schaue drauf, wenn ich draufschaue. Ich verpasse trotzdem nichts. Das funktioniert aber nur, weil ich ständig draufschaue, auch ohne Notification. Ich bin auch einer dieser Cyborgs der ersten Generation. Und wie jede erste Generation sind wir klobig, umständlich, fehleranfällig. Wir können unsere Augmentierung aus Versehen in den Gulli werfen. Dafür sind wir auch ohne (mehr oder weniger) lebensfähig.

Mal sehen, wie lange noch.

Vielen Dank für’s Lesen & Mitdenken!


Im Blog Confessio Digitalis schreibe ich meine Beobachtungen, Links und Interviews zu den Themen Digitalisierung, Digitale Kirche und digitalisierte Welt auf. Ich bin erreichbar auf Twitter als @dailybug.

P.S.: Leser*innen haben mich darauf hingewiesen, dass "Digitalis" auch der Name der Fingerhut-Pflanzen ist, die zu Gift verarbeitet werden können. Das lässt den Blogtitel "Confessio Digitalis" natürlich ein bisschen fies klingen. Andererseits behandelt man mit Digitalis-Präparaten auch Herzprobleme. Und dass das digitale Herz der Kirche besser schlägt, ist mir ein Anliegen. Deswegen lasse ich den Namen des Blogs so - nehmt es als Präparat!