Push, Pull, Push: Die personalisierte Kirche

Push, Pull, Push: Die personalisierte Kirche
Darf die evangelische Kirche viel stärker versuchen, alle ihre Mitglieder zielgenau digital zu erreichen? Ich glaube ja. Bei 21,5 Millionen Menschen geht das aber nur mit Unterstützung durch Technik.

Die Verbreitung von Medieninhalten lässt sich in zwei Kategorien sortieren: Push und Pull, zu deutsch: "drücken" und "ziehen". Push-Medien sind solche, die ihren Nutzerinnen eine vorher getroffene Auswahl an Inhalten direkt zukommen lassen. Welche Inhalte das sind, entscheiden die Medienersteller in der Regel komplett. Pull-Medien sind solche, bei denen Nutzer selbst eine Auswahl treffen können, was sie eigentlich bekommen wollen. Das Internet hat den Wechsel von Push zu Pull befördert. In Zeiten von noch stärkerer Personalisierung ändert sich das aber wieder. Die Frage ist: Wie stark darf die Kirche persönlich werden? Wie "pushy" darf sie sein?

tl;dr: Sie sollte viel mehr "pushy" sein als bisher, aber wir müssen unsere Mitglieder fragen, was sie eigentlich wollen. Auf 21,5 Millionen Menschen lässt sich das in Zeiten knapper Kassen aber nur mit technischer Unterstützung skalieren.

Auf in die Langversion! Und es ist wirklich lang. Unter anderem, weil ich das schon länger mit mir herumtrage:

Die Papierzeitung war das Push-Medium

Das klassische Push-Medium ist die gedruckte Zeitung: Eine Redaktion trifft eine Auswahl an Themen, Journalisten recherchieren, schreiben, prouzieren, und das Gesamtprodukt wird dem Leser in den Briefkasten gesteckt. Natürlich haben Leserinnen die Wahl, was sie dann tatsächlich lesen und welche Zeitung sie abonnieren, aber die Gesamtzusammenstellung der Inhalte können sie nicht beeinflussen.

Push-Medien gibt es auch im Marketing, die unter anderem dazu dienen sollen, einen Kaufwunsch zu erzeugen. Der Ikea-Katalog ist ebenso ein Push-Medium wie Fernsehwerbung - und natürlich auch der Rest vom Fernsehprogramm: Einschalten und berieseln lassen von dem, was halt gerade kommt.

Streaming-Dienste für Entertainment (Amazon, Netflix, die ARD-Mediathek) sind genau das Gegenteil davon. Ich entscheide als Nutzer, was ich wann sehen will: ein beispielhafter Pull-Dienst. Anbieter dieser Inhalte stellen ihr ganzes Angebot zur Auswahl. Das ganze World Wide Web funktioniert nach diesem Prinzip. Ich mache mich selbst auf die Suche, welche Inhalte ich lesen, sehen, hören möchte. Wenn ich mich gar nicht auf den Weg mache, bekomme ich keine Inhalte. In der Pull-Welt müssen Menschen aktiv nach Inhalten suchen, sonst bekommen sie keine.

Das WWW war die Pull-Spielwelt

Diese Pull-Welt lässt sich ein Stück weit automatisieren, und zwar durch die Nutzerinnen selbst. RSS-Reader sind das traditionelle Werkzeug Nummer 1 dafür: aus einer Vielzahl von Angeboten stellt sich jede Nutzerin eine thematisch sortierte Auswahl von Inhalten zusammen, die sich aus ganz verschiedenen Quellen speisen. Kein RSS-Feed ist wie der andere.

Aber auch diese scheinbar nutzergesteuerte Welt ist nicht so selbstbestimmt, wie es klingt. Google, mit Abstand die meistgenutzte Suchmaschine, personalisiert Ergebnisse auf der Basis des eigenen Verhaltens im Netz. (Wer das vermeiden möchte, kann Alternativen wie DuckDuckGo oder startpage.com nutzen.) Wer während der Google-Suche in einem Google-Konto eingeloggt ist, wird selbstverständlich von der Personalisierung erfasst. Aber auch ohne Login werden die Ergebnisse personalisiert. Auf YouTube kann man das selbst ausprobieren, denn der Empfehlungs-Algorithmus arbeitet auf der Basis der angesehenen Videos: Wer auf dem PC, Tablet oder Handy unterschiedliche Videos sieht, bekommt pro Gerät auch unterschiedliche Videos empfohlen.

Das ist erstmal auch nicht schlecht. Denn wenn Menschen die unfassbare Menge an verfügbaren Inhalten im WWW, auf YouTube oder in sozialen Netzwerken wie Facebook selbst filtern müssten nach dem, wonach sie wirklich suchen, kämen sie nie an die Inhalte, die sie eigentlich sehen wollen. Trotzdem wird die Freiheit der Pull-Entscheidung dadurch eingeschränkt, meistens intransparent. Ohne den Vergleich mit anderen Nutzerinnen habe ich (meistens) keine Möglichkeit, zu wissen, ob ich auf einer Webseite tatsächlich alles sehe, was ich sehen könnte. (Und gerade auf YouTube kann die Aufmerksamkeitsspirale zu einer problematischen Radikalisierung führen.)

Personalisierung und das Transparenzproblem

Besonders deutlich wird dieses Problem dieser Tage bei Facebook diskutiert. Dadurch, dass sich Werbeanzeigen sehr spezifisch ausspielen lassen, bis hin zu diskriminierenden Auswahlmöglichkeiten, kann kein Nutzer wissen, wie viele andere tatsächlich diesen Inhalt auch sehen. Journalisten und Fact-Checker kriegen diese Anzeigen auch nicht zu sehen. Anders als bei politischen Kampagnen auf Plakatwänden in der Öffentlichkeit, die auch öffentlich diskutiert und kritisiert werden können, gibt es für diese Informationen kein Korrektiv. Besonders aufgefallen ist das jüngst bei einer Nachbetrachtung der Brexit-Kampagne von Cambridge Analytica (Twitter-Thread von @Nealb2010 hier).

Das Problem dabei ist, dass sich Nutzerinnen im Internet und auf Social Media erstmal in einer öffentlichen Sphäre bewegen. Bestimmte Teile dieser Sphäre, zum Beispiel solche Brexit-Anzeigen, sind aber nicht Teil einer gemeinsamen Öffentlichkeit, sondern gezielt personalisiert, zum Teil bis auf wenige Personen ("Micro-Targeting"). Die gemeinsame Meinungsbildung wird dadurch erheblich erschwert, weil nicht transparent ist, ob alle Debattenteilnehmer über das Gleiche reden.

Und damit wird ein soziales Netzwerk, das Nutzerinnen als Plattform für Pull-Information wahrnehmen, heimlich zu einer Push-Plattform. Denn der Medienanbieter kontrolliert dann doch wieder, welche Information der Nutzer überhaupt wahrnehmen kann, wenn er dieses Micro-Targeting einsetzt.

Personalisierung als ultimativer Push

In diesem Sinne - dass die Nutzerin keinen Einfluss darauf hat, welche spezifischen Inhalte sie bekommt - sind die neuen persönlichen KI-Assistenzsysteme (Siri, Alexa, Google Assistant & Google Lens, Cortana) die ultimative Push-Plattform. Denn wo die klassische Bildschirmnutzung noch Alternativen zeigen kann, liefert der Sprachassistent genau eine Antwort. Immer in der Hoffnung, dass es genau die Antwort ist, die der fragende Mensch erwartet.

Nur weil Apple, Amazon, Google und Microsoft davon überzeugt sind, dass sie diese Erwartung plausibel erfüllen können, können sie solche Systeme überhaupt an den Start bringen. Damit haben sie aber auch die Verantwortung, dass die Antwort nach bestem Wissen und Gewissen erfolgt und nicht als bewusste Lüge ins System eingespielt wird. Ob sie diese Verantwortung auch annehmen, bleibt abzuwarten. Schauen wir auf Google News und Facebook als Vorbilder, kann man berechtigt daran zweifeln.

Wenn also die Möglichkeiten der Personalisierung als Mittel zur gezielten individualisierten Fehlinformation genutzt werden, ist das ein Problem. Es gibt aber im Gegenzug auch Beispiele, wo die Zuspitzung auf die eigenen Vorlieben vorteilhaft für den Einzelnen ist. Nämlich dann, wenn die Künstliche Intelligenz hinter der Personalisierung meine Intention und meinen Kontext richtig erkennt. Das Paradebeispiel ist Online-Shopping. Persönliches Beispiel: Ich habe neulich nach einem Hartschalenkoffer mit Rollen gesucht, um mehrere kleine technische Geräte sicher transportieren zu können. Ich hätte mir gewünscht, dass das normale Reisegepäck in dem Moment in meiner entsprechenden Suche gar nicht auftaucht. Aber wenn ich dann irgendwann nach richtigem Reisegepäck suchen sollte, muss das natürlich wieder anders sein.

Transaktionale Prozesse sind dabei etwas einfacher als nicht-transaktionale Momente, weil die Intention der Nutzerin am Ende auf ein definierbares Ziel hinausläuft ("Ich will so ein Produkt zu maximal diesem Preis kaufen"). Algorithmen und Künstliche Intelligenz sind aber inzwischen so weit, dass sie Produkte und Inhalte spezifisch auf Kontext, Zeit, Ort und Person hin anbieten könnten, wenn sie genug Informationen dafür haben. Und wenn jemand den entsprechenden Inhalt dafür bereitstellt.

So etwas kann auch dazu führen, das Menschen bestimmte Möglichkeiten aktiv verwehrt werden, auf der Basis der über sie gesammelten Informationen. Der "social credit score" in China tut genau das: Wer bankrott ist, darf zum Beispiel kein Schnellzug-Ticket kaufen, weil das als Luxusgut gilt und Menschen unterhalb eines bestimmten Punktwerts verweigert wird. (Mehr dazu in Folge 871 von Planet Money.)

Was heißt das für Kirche?

An der Stelle müssen wir als Kirche klare Grenzen setzen. Vor Gott und dem Gesetz sind alle Menschen gleich, das muss auch weiterhin so sein. Es gibt aber trotzdem Anwendungsmöglichkeiten der Datensammlung und Personalisierung, die wir als Kirche unseren Mitgliedern anbieten können. Gegenüber den 21,5 Millionen Menschen, die in der evangelischen Kirche Mitglied sind, haben wir auch eine Verpflichtung: Wir müssen für sie da sein, wenn sie ein Angebot von Kirche brauchen können und nutzen wollen.

Können wir wir beispielsweise Taufeltern nicht nur per Werbung ein Angebot wie den Taufbegleiter oder Taufspruch.de nahelegen (als Pull-Medium), sondern ihnen passende Informationen direkt zukommen lassen, sobald wir wissen, dass sie ihr Kind taufen lassen wollen (als Push-Medium)? Oder einen Schritt vorher: junge Eltern, von denen wir wissen, dass sie in der Kirche sind, über Taufe informieren? Traditionell macht das die Pfarrerin vor Ort, die mitbekommt, dass Ehepaar XY jetzt ein Kind bekommen hat. Aber diese lokalen Verbindungen gehen zunehmend verloren, auch wenn die Gemeinde weiterhin das Herz des Leib Christi bleibt. Denn wer noch irgendwie evangelisch sozialisiert ist, aber keinen Kontakt zur Ortsgemeinde hat, kann trotzdem erreicht werden - solange er oder sie Kirchenmitglied ist, haben wir den Erstkontakt ja schon.

Was wäre, wenn die evangelische Kirche auf der Basis von Google-Suchen nach "Brautkleid" einzelnen Menschen direkt ein Planungsgespräch zur kirchlichen Hochzeit anbieten würde? Einen Reisesegen auf die Smartwatch schicken, wenn sich jemand gerade auf den Weg in den Urlaub macht? Oder das richtige Gleichnis zur richtigen Zeit auf's Smartphone pushen? Selina Fucker hat in der "Eule" ein paar pragmatischere Beispiele aufgelistet - es gibt genug Gelegenheiten, wo Kirche sich mehr wie ein Essens-Bestell-Service verhalten könnte als wie ein Festtagsservice in der Esszimmer-Kommode.

Dürfen wir das? Wollen wir das?

Zugegeben: Die letzten zwei Absätze sind nicht aus Nutzersicht gedacht, sondern aus Sicht der Organisation. Die hat aber auch ein berechtigtes Interesse, ihren Mitgliedern - also den Menschen, die freiwillig dabei sind - ein passendes Angebot zu machen. Welche Informationen eine zentrale Stelle eigentlich speichern darf, wer darauf wofür zugreifen darf und wie Mitglieder damit in ihrem Sinne begleitet werden, müssen wir die Mitglieder selbst fragen.

Die Größenordnung, was das für 21,5 Millionen Menschen heißt, ist übrigens atemberaubend - es gibt nicht viele Organisationen oder Unternehmen, die mit solchen Kunden- oder Mitgliederzahlen rechnen. Das persönliche Angebot muss in Sachen Form, Menge, Frequenz und Kontaktkanäle auf jede und jeden von ihnen einzeln zugeschnitten sein. Um das in Zusammenarbeit mit den Pfarrerinnen und Pfarrern vor Ort schaffen zu können, brauchen die Menschen technische Unterstützung - auch von Algorithmen und KI.

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Wie "pushy" will die evangelische Kirche sein? Wir reden hier immerhin über Menschen, die schon dazugehören. Allerdings machen Erfahrungen wie die der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau auch nachdenklich: Die EKHN verschickt zweimal im Jahr ihre Impulspost, und zumindest beim ersten Mal haben Kirchenmitglieder aktiv nachgefragt, woher die Kirche denn ihre Adresse hätte?

Das ist nur ein Indiz dafür, wie wichtig Transparenz ist. Warum bekommt wer was von wem? Woher kommen die Informationen? Wer kann worüber verfügen? Wie kann ich meine Daten löschen lassen? Alles übrigens Transparenzforderungen, die in der aktuellen Datenschutzgesetzgebung vorgesehen sind. Ein stark personalisiertes Angebot, das von der evangelischen Kirche kommt, muss das berücksichtigen. Aber wenn es den Willen gibt, wirklich mal jedes Kirchenmitglied digital aktiv zu erreichen, werden wir allein schon ob der Größenordnung die Unterstützung von automatisierten Datenverarbeitungssystemen brauchen - 21,5 Millionen Menschen sind automatisch "big data", und die zu erschließen, ist nur mit digitaler Technik skalierbar. Und die Gemeinden vor Ort müssen dabei eine wichtige Rolle spielen, denn nur dort übersetzt sich der digitale Kontakt in einen kohlenstofflichen für alle, die das wollen.

Transparenz ist übrigens etwas, was Facebook inzwischen auch versucht: Man kann sich anzeigen lassen, wer eine Anzeige geschaltet hat, und welche Seiten bzw. Auftraggeber welche Anzeigen schalten. Das lässt sich natürlich auch umgehen, wenn man das unbedingt will, aber Facebook ist einfach immer noch nicht darauf eingerichtet, dass bestimmte Akteure einfach lügen wollen.

Die evangelische Kirche gehört nicht dazu. Umso ehrlicher müssen wir unseren Mitgliedern erklären, wo die Pushnachricht auf ihrem Handy auf einmal herkommt, nachdem sie drei Wochen lang ständig "Brautkleid", "Taufpate" und "Hochzeitsredner" gegoogelt haben. Und für mindestens zwei davon hat ihre Pfarrerin vor Ort eine Antwort parat.

Vielen Dank für's Lesen und Mitdenken!


Im Blog Confessio Digitalis schreibe ich meine Beobachtungen, Links und Interviews zu den Themen Digitalisierung, Digitale Kirche und digitalisierte Welt auf. Ich bin erreichbar auf Twitter als @dailybug.

P.S.: Leser*innen haben mich darauf hingewiesen, dass "Digitalis" auch der Name der Fingerhut-Pflanzen ist, die zu Gift verarbeitet werden können. Das lässt den Blogtitel "Confessio Digitalis" natürlich ein bisschen fies klingen. Andererseits behandelt man mit Digitalis-Präparaten auch Herzprobleme. Und dass das digitale Herz der Kirche besser schlägt, ist mir ein Anliegen. Deswegen lasse ich den Namen des Blogs so - nehmt es als Präparat!