Ein Locher ist keine vertrauenswürdige Quelle

Ein Locher ist keine vertrauenswürdige Quelle
Der Innenminister hat sich zur Republica selbst eingeladen, während manche Frauen die Veranstaltung aus Angst vor einem Stalker mieden. Hanfelds Law in Theorie und Praxis. Kleine Fehler ganz groß. Steve Colbert macht den Böhmermann. Der Fernseh-DDR fehlen Grautöne.

Zum Abschluss war nach der Maus, dem WDR-Intendanten und Andrea Nahles (dazu später mehr) dann noch Bundesinnenminister Thomas de Maizière zu Gast. 

„De Maizière erkennt eine Polarisierung: Die einen sähen eine fundamentale Freiheitsbedrohung, die anderen einen Heilsbringer: ,An beides glaube ich nicht’, sagt de Maizière. Das Netz fördere Freiheit – das sei zu Recht lange auch fester Bestandteil der netzpolitischen Diskussion gewesen. Jetzt schlage das Pendel aber in eine übertriebene Richtung. Das Internet sei kaputt, ein Ort des Populismus, des Hasses oder der Fake-News, eine Kloake, meinten manche: ,Dem möchte ich entgegentreten’, sagte der Minister. (…) Das Hauptproblem: Die Wirkung neuer Technologien können nur schwer vorhergesehen werden – eine zu frühe Regulierung würde gute Entwicklungen ersticken. Haben sie sich durchgesetzt, kann oft nicht mehr gestaltet werden, meint de Maizière“,

zitiert Johannes Steger beim Handelsblatt aus dem Auftritt, der offenbar sehr viele Menschen interessierte, dessen Erkenntnisgewinn sich aber laut Nachberichterstattung in Grenzen hielt. Was aber auch nicht unbedingt als Hauptziel der ministerschen Präsenz angesehen werden muss, wenn man Melanie Reinsch in der Berliner Zeitung Glauben schenkt: 

„Der CDU-Politiker hatte sich selbst eingeladen. Zum ersten Mal spricht er auf einer Bühne der Gesellschaftskonferenz. Das zeigt einmal mehr, dass Politiker die Bedeutung der Veranstaltung – und damit die gesellschaftliche und politische Reichweite – erkannt haben und diese für sich nutzen wollen. Den Mächtigen so ein Podium zu bieten, ist nie Ziel der re:publica-Macher gewesen, aber gleichzeitig hat die Polit-Prominenz natürlich auch eine Außenwirkung.“

Dass die Republika erwachsen geworden sei, wird zwar schon seit 2016 2014 2012 behauptet. So langsam scheint dem Blag aber wirklich ein Schlips an den Kapuzenpulli gewachsen zu sein. 

„Doch ist die Größe zugleich zur mittlerweile größten Schwäche geworden. In mehr als 520 Sessions geht die Übersicht schnell verloren, die Perlen – und die gibt es – sind nur schwer zu finden. Den Besuchern könnte die Teilnahme erleichtert werden – weniger ist mehr. Nicht alles, was auf der re:publica stattfindet, ist wirklich interessant oder relevant – nicht alles erweckt den Eindruck, als ginge es um Inhalte, sondern eher um Werbung in eigener Sache, um Kommerz. An einigen Stellen wird der Missbrauch der Bühnen als plumpe Anzeigenplätze nicht verhindert“,

kommentiert Marvin Schade bei Meedia

Hinzu kommt Kritik ganz anderer Art: 

„Vor zwei Jahren gab es im Vorfeld der #rp15 eine Situation, wo ein Speaker - der verschiedene Frauen, inkl. mir, vorher massiv belästigt, bedroht und gestalkt hatte und auch seine große Followerzahl immer wieder dabei involvierte - ankündigte, einige von uns auf der Konferenz selbst belästigen zu wollen. (…) Wir wünschten uns eine klare öffentliche Positionierung der Orga gegen Hate Speech und Belästigung. Uns wurde gesagt, dass man sich in unseren ,Streit’ nicht einmischen wollte (wurde sich nach Protesten für entschuldigt) und statt einer Positionierung wurde uns angeboten, jeweils eine Begleitperson als Schutz mitnehmen zu können. (…) Auch letztes Jahr wurde eine Speakerin von ihm massiv angefeindet. (…) All das hatte ich noch im Hinterkopf, als das Motto ,Love out Loud' angekündigt wurde. (…) Stattdessen ist der Speaker nun doch wieder auf der Konferenz, so, als wäre nie etwas gewesen“,

bemerkte Mina Banaszczuk (@lasersushi) bereits vor zwei Tagen in einer längeren, über Twitter verbreiteten Anmerkung. Bei der taz greift das Carolina Schwarz auf, die aktuell ergänzt:

„Ein offizielles Statement der Organsator*innen gab es bis zum Redaktionsschluss nicht. Aus den Kreisen der Macher hieß es jedoch, man wolle sich nicht einmischen, weil die Vorkommnisse nicht bei der Veranstaltung passiert seien und es sich daher um eine private Angelegenheit handle. Bei einem Verstoß direkt auf der Re:publica, würde man den Speaker von der Veranstaltung ausschließen.“

Natürlich kann es nicht Aufgabe einer Konferenzorganisation sein, zwei private Streithähne voneinander fern zu halten. Allerdings scheinen die Vorfälle, die mir gestern noch einmal im persönlichen Gespräch von anderer Seite geschildert wurden, nicht mit Streit, sondern mit Stalking und Belästigung besser beschrieben zu sein, was dazu führte, dass einige Frauen die Republica in diesem Jahr mieden. Dabei sollte, wer im Angesicht von Hass und Rassismus im Netz  „Love out loud“ fordert, doch zumindest in der Lage sein, Menschen ein sicheres Gefühl beim Besuch einer Konferenz zu vermitteln. 

Überraschenderweise möchte ich an dieser Stelle nun Michael Hanfeld auf der heutigen Medienseite der FAZ zitieren (0,45 €/Blendle): 

„Wer gegen ,Hass’ und ,Fake News’ anzutreten meint, sollte die Maßstäbe, die er an andere anlegt, auch gegen sich selbst und jedermann gelten lassen, auf keinem Auge blind sein und nicht nur in eine Richtung ,recherchieren’. Sonst fällt es denjenigen, die das Internet verpesten, sehr leicht, die vermeintlichen Moralwächter links liegenzulassen.“

Allerdings zielt Hanfeld mit dieser Bemerkung auf „(d)ie Umgangsformen des sogenannten Netz-Feminismus“, „(e)inige prominente Politiker der Grünen“ sowie „(d)as von Facebook als Anti-Fake-News-Brigade angeheuerte Journalistenbüro ,Correctiv’“.

Welch Ironie, bessere Umgangsformen von Menschen zu fordern, die man als „sogenannt“ abwertet. Aber unterm Strich ist das natürlich wahr, und in Zukunft darf man sich dann auch als FAZ-Redakteur daran versuchen, Hass nicht mit Hass zu bekämpfen und die Ansprüche an andere erst einmal auf sich selbst anzuwenden. 

Was uns am heutigen Tag der zurechtgebogenen Übergänge zu Andrea Nahles führt bzw. einem Zitat von ihr, das der Deutschlandfunk wie folgt verbreitete: 

###extern|twitter|DLF/status/861955375926562817###

Problem (Stefan Niggemeier, Übermedien): 

„So stimmt das Zitat – und doch ist es extrem irreführend, es in dieser Form zu verbreiten. Es gibt nämlich gerade nicht Nahles‘ Position wieder. Sie zitiert diesen Satz, den Befürworter als Argument für ein Grundeinkommen nennen, und fügt dann hinzu, dass sie nicht glaubt, dass er stimmt.

‚Das Grundeinkommen führt dazu, dass keiner mehr schlecht oder niedrig entlohnte Arbeit macht.‘ – Leute, wenn das stimmen würde, dann käme ich ins Schwanken.’

Dadurch, dass er ihn seines Kontextes beraubt hat, hat der DLF die Bedeutung dieses Satzes völlig entstellt. Und man hätte, um das zu erkennen, nicht einmal den ganzen – und stellenweise verwirrend vorgetragenen – Text der Arbeitsministerin kennen müssen. Der nächste Satz hätte gereicht.“

Womit ein weiterer Beweis für meine Lieblingsthese erbracht wäre, nämlich, dass schlampiger Journalismus nicht ganz unschuldig daran ist, dass etablierte Medien kritisch beäugt werden und sich eine Lücke auftut, die wahlweise die Tichys, Breitbarts oder mazedonischen Teenager dieser Welt füllen. 

Wie einfach es ist, mit Photoshop und einem Tweet auf ziemlich vielen Online-Zeitungsportalen zu landen, dokumentiert Zapp am Bespiel der vermeintlichen Carsten-Harry-Petersen-Bauchbinde des Ersten, die am vergangenen Sonntag nach der Wahl in Schleswig-Holstein durchs Netz geisterte, weil Twitter-Nutzer @verkehrsdaten es so wollte. Im (anonymen) Interview mit Zapp sagt er: 

„Ich war erschrocken, als ich sah, dass einige Medien meinen Tweet ungeprüft für ihre Berichte genutzt haben. Wer mein Twitter-Profil ansieht, erkennt sofort, dass ich Twitter privat und nicht etwa als Journalist nutze. Zudem werde ich auf meinem Profilbild durch einen Locher verdeckt. Das sieht vielleicht lustig aus, aber sicher nicht wie eine glaubwürdige Quelle.“

Die blinge Tweet-Weiterverbreitungslust mancher Redakteure ist echt erschreckend. Aber um Hanfelds Law gleich anzuwenden: Dass solche doch im Vergleich eher kleinen Pannen von Angeboten wie Übermedien, Zapp oder auch diesem hier immer weiter Aufmerksamkeit bekommen, ist natürlich auch Teil des Problems. 


Altpapierkorb

+++ Wer sich noch intensiver mit der gestern im Korb angesprochenen Kooperation zwischen Nachrichtenagentur AP und Nazi-Regime auseinandersetzen möchte, für den hat AP Originaldokumente und Analyse online gestellt (via Froben Homburger). +++

+++ Die dpa hat nun einen Verification Officer, und dass in der dazugehörigen Pressemeldung dessen perfekte Russischkenntnisse Erwähnung finden, hat sicher einen Grund. +++

+++ Kleine Presseunternehmen genießen das Laienprivileg und dürfen auch mal falsch zitieren, wenn das Zitat glaubwürdig und die Quelle vertrauenswürdig erscheint, hat das Landgericht Köln nun nach Klage eines AfD-Politikers gegen das Angebot Ulm News geurteilt. Dieses selbst sowie Meedia berichten. +++

+++ Wie die DDR im Fernsehen präsentiert wird, wird dem Alltag dort nicht gerecht. „Nichts möchte ich relativieren, möchte die Mauertoten nicht in Frage stellen und auch nicht das Unrecht, dass den Bürgern der DDR widerfahren ist, wegschreiben. Ich sage auch nicht: Das soll nicht erzählt werden. Ich fordere nur mehr Ausgewogenheit. Ich wünsche mir, dass Drehbücher und Fernsehfilme ein realistischeres Bild dieses Land zeichnen. Das Menschen, die in diesem Land gelebt haben, nicht nur in gut und böse zu unterscheiden sind. Nicht in diejenigen, die den politischen Apparat unterstützt haben und die anderen, die darunter litten“, schreibt bei DWDL Journalist und Moderator Thilo Mischke. +++

+++ Ob Andy Zenker in Folge 1627 der „Lindenstraße“ Schleichwerbung für ein Elektroauto von BMW gemacht hat oder, wie der WDR meint, eher nicht, damit beschäftigt sich bei Übermedien Boris Rosenkranz. +++

+++ Wie ein Dorf mit einem Terror-Storch Kasse macht, war gestern Thema bei Zapp. +++

+++ Die Aussprachedatenbank der ARD feiert morgen ihren 20. Geburtstag, und die dpa hat schon frühzeitig ihren Bericht dazu rausgeschickt: „,Jeder darf erwarten, dass sein Name richtig ausgesprochen wird’, sagt Redaktionsleiter Roland Heinemann, der die Datenbank mitaufgebaut hat. Anfang der 1990er Jahre hat der studierte Germanist und Anglist beim hr dafür gesorgt, dass aus einstigen Zettelkästen ein professionelles Computerprogramm wurde.“ (Hamburger Abendblatt) +++

+++ Schon heute wird „GZSZ“ 25 Jahre alt. Den Text dazu hat Markus Ehrenberg im Tagesspiegel. +++ Dort des Weiteren: Wie Steve Colbert zum US-amerikanischen Jan Böhmermann wurde - (nicht meine Thesen, sondern die von) Thomas Seibert: „Der Präsident hatte den CBS-Moderator John Dickerson in einem Interview beleidigt und das Gespräch nach einer ihm unangenehmen Frage abgebrochen. ,Wenn du ein Mitglied der CBS-Familie beleidigst, dann beleidigst du uns alle’, sagte Colbert an Trump gerichtet – und legte los. In einer Tirade überhäufte der Komiker den Präsidenten mit einer Kaskade von Beschimpfungen, die in der Bemerkung gipfelten, Trumps Mund eigne sich lediglich als Tasche für das Geschlechtsteil von Wladimir Putin.“ +++

+++ Die SZ berichtet heute auf ihrer Medienseite über die sich verzögernde Vergabe der Champions-League-Fernsehrechte sowie den offenbar immer noch verrückter zu werden vermögenden ESC (unfrei online). +++

+++ Noch eine Meinung zur neuen TV-Zeitschrift aus dem Hause Spiegel (Altpapier) hat Georg Altrogge bei Meedia: „So, wie Spiegel Fernsehen daherkommt, wirkt die Zeitschrift reichlich old-fashioned und optisch blutleer – als habe man eine Beilage wie den Kultur-Spiegel ausgegründet und an den Kiosk gebracht. Das kann und wird im Verkauf nicht funktionieren; das Andersartige im Vergleich zu den herkömmlichen Programmies ist hier kein Pluspunkt, sondern ein Handicap.“ +++

+++ Sendezeit für „unabhängige Dritte“ einräumen zu müssen klingt irgendwie stark nach „natürlich schauen wir lineares Fernsehen, was denn sonst“-1990ern, ist aber noch aktuell, wie Uwe Mantel am Beispiel RTL bei DWDL erklärt. +++

+++ Bülend Ürüks Bewerbungsmappe für einen Job im Hause Axel Springer wird immer dicker. Diesmal war er dafür (bzw. für seinen Noch-Arbeitsgeber Kress) bei der Eröffnung der „sensationellen“ (Bürük) Ausstellung „Foto. Kunst. Boulevard" mit Fotografien aus der Bild-Zeitung, noch bis zum 9. Juli im Berliner Martin-Gropius-Bau zu sehen. Was ausgestellt wird, erfährt man im Text eher am Rande, aber dafür gibt es sehr viele Kai-Diekmann-Zitate. +++

+++ Über Gemeinsamkeiten und Unterschiede der neuen Netflix-Serie „Anne with an E“ mit rosamundepicheresken ZDF-Filmchen informiert in der HAZ Jan Freitag. +++

+++ Apropos Netflix: „Doch anstatt Feminismus zu feiern, geht es in der Serie vor allem darum, Kapitalismus zu feiern.“ Meint Carolina Schwarz in der taz über die Selfmade-Woman-Serie „Girlboss“. +++

Das nächste Altpapier erscheint am Freitag.