Vermutlich, eventuell, möglicherweise

Vermutlich, eventuell, möglicherweise
In Berlin fährt ein Lastwagen über einen Weihnachtsmarkt und tötet mehrere Menschen, und zumindest manche Medien bemühen sich um Contenance. Mit Google-Chrome-Add-Ons wird man Falschmeldungen nicht nachhaltig bekämpfen können, was niemanden davon abhält, das dennoch zu probieren. Frauke Petry darf nicht länger als "Pinocchio unter den Talkshow-Gästen" bezeichnet werden. Deutsche und Polnische Journalistenprobleme im Vergleich. RTL will „die anspruchsvolle Seite erobern“ und reanimiert „Tutti Frutti“.

Jeden Wochentagmorgen verschickt Lorenz Maroldt seinen Newsletter, mittlerweile an mehr Menschen, als die Zeitung, deren Chefredakteur er ist, Abonnenten hat. Anders als an anderen Tagen macht er dort heute keine Witze über den Flughafen, er erzählt keine Geschichten aus Berliner Ämtern und es gibt auch keine Gastro-Tipps. Der Checkpoint ist monothematisch, soweit ich weiß zum ersten Mal.

„Am Morgen danach wissen wir fast nichts über den Täter oder sein Motiv. Und doch verweben wir zwangsläufig ähnliche Ereignisse, wie die Terrorfahrt von Nizza, mit Hinweisen von Ermittlern, Andeutungen von Politikern und Spekulationen von Journalisten in diesem Fall zu einem Bild. Ein Verdächtiger wurde festgenommen. Die Polizei geht davon aus, dass der Truck absichtlich in die Menge gefahren wurde. Um 6 Uhr teilte sie mit, dass es sich vermutlich um einen terroristischen Anschlag handelt.

Es kann noch Minuten dauern bis zur nächsten sicheren Erkenntnis, oder auch Stunden, vielleicht Tage. All das aber ändert nichts an der Frage, die jeder für sich selbst beantworten muss: Wie gehen wir um mit der Angst?“

schreibt er. Im Betreff der Mail steht „Katastrophe am Breitscheidplatz“.

Bei tagesschau.de findet sich um kurz vor sieben die Formulierung „Todesfahrt von Berlin“. Zeit Online nennt es „Tote auf dem Weihnachtsmarkt“, Spiegel Online „Lkw-Attacke“, und für sueddeutsche.de ist es ein „Angriff auf das Herzen Berlins“. Noch im Laufe des Abends hatte Facebook seinen freigeschalteten Sicherheitscheck umbenannt.

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Und bei Twitter wurden eifrig #katzenstattspekulationen geteilt.

Don’t call it Anschlag. Und wenn doch, dann setze ein „vermutlich“ davor und ergänze, dass es nach dem bisherigen Stand auch ein Unfall gewesen sein könnte. Dieses ehrliche Bemühen, die Panik und falschen Schlüsse von München nicht zu wiederholen, durchzog gestern auch die aktuellen Fernsehberichte, die ich gesehen habe (wer was sendete, hat DWDL zusammengetragen). Eine erste Einschätzung, die auch Markus Trantow bei Turi2 und Joachim Huber im Tagesspiegel teilen: 

„Macht das einer einprägsamer und eindrücklicher als RBB-Mann Ulli Zelle? Er schafft es mehrfach via Solo-Einsatz hinter dem Absperrband, dem nicht gesehenen und nicht sichtbaren Geschehen ein Narrativ zu geben. Er bindet zusammen, erschafft Zusammenhänge, er ist Reporter, der für den Zuschauer das Geschehen und das Geschehene visualisiert. Und er ist betroffen, ohne seine Betroffenheit auszustellen.

Wenn sich das an einem solchen Abend sagen lässt: Die Moderatoren wie Ingo Zamperoni bei den ,Tagesthemen’ machen einen guten bis hervorragenden Job, die dahinterstehenden Redaktionen und Apparate lassen die Rädchen ineinandergreifen. Es herrscht, bei aller Hektik und Aufregung, Professionalität vor.“

Einerseits.

Andererseits wäre dieser überaus vorsichtige Umgang mit der Vermutung, dass ein in eine Menschenmenge steuernder Laster dem Anschlag in Nizza ähnelt und damit einen terroristischen Hintergrund nahelegen könnte, glaubwürdiger gewesen, hätte die ARD nicht zwischendurch ein Best of der Terroranschläge der vergangenen Jahre gezeigt. Ich verstehe, dass derartige Beiträge zu den Dingen gehören, die eine umsichtige Redaktion für solche Momente vorproduziert, so wie sie auch einen Nachruf auf Helmut Kohl in der Schublade zu liegen hat. Und ich verstehe, dass man sich so Zeit verschafft, um im Hintergrund neue Informationen recherchieren zu können, ohne zwischendurch zu „Wer weiß denn sowas XXL“ zurückschalten zu müssen. Dennoch verloren die „Wir wissen es noch nicht“-Relativierungen dadurch an Schlagkraft.

Andererseits akzeptierte „Tagesthemen“-Reporter Justus Kliss im Interview mit dem neuen Berliner SPD-Innensenator Andreas Geisel einfach nicht, dass dieser über Motiv und Täter nicht näher spekulieren wollte, und hakte immer wieder nach, ob er nicht doch etwas sagen könne, während die von Ingo Zamperoni befragte ARD-Warschau-Korrespondentin nicht gut mit der Nachfrage klarkam, ob denn auch eine Alternative zur von ihr präsentierten Lkw-Herkunftsgeschichte denkbar sei.

Andererseits stellte die Berliner Morgenpost kurz nach der Ereignissen bei Facebook einen Spaziergang über den frisch zerstörten Weihnachtsmarkt ins Netz. Auf dem Video waren auch am Boden liegende Verletzte zu sehen (mittlerweile ist es offline genommen worden; Ausschnitte wurden in eine überarbeitete Version übernommen). 

Und andererseits spekulierte welt.de munter über Todesursache und Nationalität des Beifahrers des Sattelschleppers sowie des vermeintlichen Täters.

Um kurz nach acht gestern Abend fuhr ein Lkw über den Weihnachtsmarkt am Berliner Breitscheidplatz und tötete dabei mehrere Menschen. 50 weitere wurden verletzt. Viel mehr Informationen gab es im Laufe des Abends nicht zu vermelden. Dennoch galt es, damit mehrere Stunden Sendezeit zu füllen, Liveblogs zu betreiben und „Was wir wissen/Was wir nicht wissen“-Texte zu bespielen.

Nachdem ich auch die Stunden nach dem abgesagten Länderspiel in Hannover und dem Amoklauf in München vor dem Fernseher und dem Smartphone verbracht habe, würde ich als voreiliges Zwischenfazit (es ist 8.20 Uhr) festhalten wollen: die deutschen Medien werden im Umgang mit vermeintlichen Terroranschlägen professioneller. Dass sie dafür Gelegenheit hatten, ist aber nur ein weiterer Grund, 2016 möglichst schnell beenden zu wollen.


Altpapierkorb

+++ Die Reporter ohne Grenzen haben, wie angekündigt, gestern auch den zweiten Teil ihres Jahresberichtes veröffentlicht, in dem von mindestens 74 getöteten Journalisten in diesem Jahr die Rede ist. Das mediale Echo darauf war bescheiden; ein Bericht findet sich im österreichischen Standard. +++

+++ Wie kam es zu der Meldung, dass ein Istanbuler Gymnasium ein Weihnachtsverbot erteilte? Die dpa zeichnet ihre Recherche nach (veröffentlicht bei sueddeutsche.de), Spiegel Online dröselt die Reaktionen dazu auseinander, und  in der taz kommentiert Peter Weissenburger: „Zwar ist es verunsichernd für JournalistInnen, dass in Zeiten nach Pegida, Köln und der US-Wahl ihre Arbeit regelmäßig angezweifelt wird. Andererseits ist zu begrüßen, dass die etablierten Medien so lernen, sich mehr nach außen hin zu erklären. Das kann verlorenes Vertrauen wieder aufbauen.“ +++

+++ Dazu passend: Der Herbert von Halem Verlag baut unter www.journalistikon.de ein „Wörterbuch der Journalistik“ auf, das sich laut der beiden Autoren Horst Pöttker und Martin Gehr „nicht nur an Wissenschaftler oder Studierende entsprechender Fachrichtungen [wendet], sondern an jeden, der sich für Journalistik und praktischen Journalismus interessiert und sich als Mediennutzer oder Medienhandwerker an einem reflektierenden Zugang versuchen möchte.“ Das Wörterbuch befindet sich noch im Aufbau. Dass man zuallererst Fachbegriffe wie „Hurenkind“ oder „Aufsetzer“ für erklärenswert hielt, lässt es jedoch wie aus dem Jahr 1982 zu uns gereist erscheinen. +++

+++ Fake News I: Bei Jetzt.de sinniert Friedemann Karig, wie Facebook von der freundlichen Freundesmaschine zur Hass- und Lügenschleuder werden konnte. „Das mächtigste Netzwerk aller Zeiten wird bald dreizehn Jahre alt. Seine Pubertät macht es hässlich. Noch nicht hässlich genug, dass wir uns abwenden. Aber hässlich genug, dass wir lernen, dass nichts, nichts auf der Welt einfach so funktioniert. Dass wir uns darum kümmern müssen, ob das Ökosystem Facebook kippt, stinkt und fault. Oder ob es lebt.“ +++

+++ Fake News II: Christian Meier nennt bei Springers Welt Medienkompetenz als sicherstes Mittel gegen eben diese. „Gegen Fakes, Lügen und Hass hilft keine Vollkaskoversicherung, sondern ein kritischer Geist und eine kritische Presse.“ +++

+++ Fake News III: Über ein Google-Chrome-Add-On der Washington Post namens „Real Donald Context“, das Tweets von Donald Trump dem Faktencheck unterzieht, berichtet Florian Schillat bei Meedia (wer lieber das Original liest, schaut hier in die Washington Post). Aber: „Here’s the thing: If you install a Chrome extension that flags fake news articles, chances are you’re very aware of the problem. Thus, not really the target user group. Products should be designed for the people who spread the news without knowing it’s fake. I can only tell from my experience in Germany, but usually, those aren’t the people who hang out on Twitter all day, think about ,filter bubbles’ and install Chrome extensions“, schreibt Startup-Gründer Jan König in einem Blogbeitrag über seinen eigenen Versuch, einen freundlichen Twitter-Bot zu bauen, der Leute darauf hinweist, dass die von ihnen zitierte Quelle nicht vertrauenswürdig sein könnte. (Twitter hat die Aktion bald unterbunden. Das ist also auch nicht die Lösung.) +++

+++ Fake News IIII (je häufiger man das schreibt, desto mehr fragt man sich, wie lange sich dieser euphemistische Begriff eigentlich noch gegen „Lüge“ durchzusetzen vermag): Auf der FAZ-Medienseite erzählt Nina Rehfeld eine Recherche der US-amerikanischen Buzzfeed-Redaktion nach, die den Urheber diverser Lügengeschichten (sic!) über mögliche Promi-Umzüge in die Provinz ausfindig gemacht hat. Bei Blendle kostet der Text 0,45 Euro, bei Buzzfeed steht das Original umsonst online, und dass die FAZ mit rekapitulierten Buzzfeed-Stücken Geld verdienen möchte, ist auch einer dieser seltsamen Treppenwitze von 2016. +++

+++ Frauke Petry hat vor dem Oberlandesgericht Köln eine einstweilige Verfügung gegen das umstrittene Faktenzoom-Projekt von Kölner Journalistenschülern erwirkt, die den Wahrheitsgehalt von Talkshowgästen überprüft hatten (s. u. a. dieses und dieses Altpapier vom Sommer). „Danach dürfen mehrere von Petrys Talkshow-Aussagen künftig nicht mehr als ,falsch’ gewertet werden. Auch die Verbreitung des Gesamtergebnisses, das Petry als Spitzenreiterin der Falschaussagen auswies, ist nun unzulässig“, melden Petrys Anwälte auf ihrer Website. Die des Projektes ist nun offline bzw. beschränkt sich auf den Hinweis: „Wir werden das Urteil des OLG analysieren und unsere Auswertung entsprechend anpassen. Dabei werden wir auch berücksichtigen, dass es sich bei dem Urteil des OLG um eine Entscheidung in einem einstweiligen Verfügungsverfahren handelt, die insoweit vorläufig ist und in einem späteren Hauptsacheverfahren überprüft werden kann. Um alle Grafiken und Texte mit der notwendigen Gründlichkeit anpassen zu können, nehmen wir die Website für einige Zeit vom Netz. Dafür bitten wir um Verständnis.“ Stefan Niggemeier hat zudem für Übermedien folgende Warnung von Petrys Anwälten eingesammelt: „Die Kanzlei Höcker hat die KJS aufgefordert, ihrerseits die Medien aufzufordern, ihre Berichte zu korrigieren, die auf dem irreführenden ,Faktencheck’ beruhten. ,Sollten sie das nicht tun, werden wir uns selbst darum kümmern’, sagt Ralf Höcker zu Übermedien, ,und die Journalistenschule kriegt dann eine Rechnung von uns.’“ +++

+++ Im Vergleich mit ihren Kollegen in Ungarn, Polen oder der Türkei ginge es deutschen Journalisten gut, meint Tom Strohschneider, Chefredakteur des Neuen Deutschlands, im kress.de-Interview mit Bülend Ürük. Aber: „Wenn man über die Bedrohung für die Pressefreiheit reden will, kann man aber von den ,inneren Gründen’ dafür nicht schweigen: Die ökonomische Lage des Mediensektors hat zu Kosteneinsparungen bei der journalistischen Arbeit geführt, Redaktionen kaufen Teile der Berichterstattung hinzu, es entstehen rein betriebswirtschaftlich gedachte Contentcluster, es fehlt an Rechercheressourcen - die Folge: eine Tendenz zur inhaltlichen Vereinheitlichung, abnehmende Vielfalt, kurzum: weniger ,Vierte Gewalt’.“ +++

+++ Journalisten den Zugang zum Parlamentssaal sperren? In einer Demokratie keine gute Idee. Nach dem Protesten vom Wochenende könnte das auch Polens Regierung erkannt haben, die nun zumindest angekündigt hat, im Januar neue Vorschläge für die Arbeit von Parlamentsjournalisten vorzustellen, meldet der Standard. +++

+++ Des Weiteren auf der FAZ-Medienseite: Wolfie Christl zu Cambridge Analytica und der Frage nach dem Nutzen von Big Data im Wahlkampf. „Jemand mit einer fundierten politischen Überzeugung kann natürlich auch mit Big Data nicht einfach so ,umgedreht’ werden. Es gibt allerdings starke Indizien dafür, dass mit datenbasiertem Microtargeting die Wahlbeteiligung bei bestimmten Gruppen von Menschen systematisch erhöht oder reduziert werden kann. Dass damit also bei bestimmten Wählergruppen etwas mehr Motivation erzeugt wird und bei anderen etwas mehr Frustration. Und genau darum geht es heute oft bei Wahlen.“ +++

+++ „Die waren total super. Sie ließen uns ein sehr erwachsenes Fernsehprogramm machen, das bewusst gar nicht so ein Popspektakel sein will. Das Drehbuch haben sie uns ohne Weiteres abgenommen. Der Sender will jetzt unbedingt die anspruchsvolle Seite erobern.“ Philipp Stölzl schwärmt im Interview mit Marc Hairapetian auf der SZ-Medienseite über RTL, wo über Weihnachten Stölzls neue „Winnetou“-Verfilmung läuft. +++ Außerdem rezensiert auf der Seite David Pfeifer das Finale von „The Voice“ vom Sonntag – er fand’s nicht so gut. +++

+++ Apropos RTL und anspruchsvoll: Das große Format-Recyclen in RTL-Spartensendern hat „Tutti Frutti“ erreicht, und Alex Raack portraitiert aus diesem Grund im Tagesspiegel Moderator Jörg Draeger. +++

+++ „Dass die Geschichten zugleich immer detailreicher erzählt werden können, liegt an den Produktionsbedingungen, die der Sender dem Team inzwischen zugesteht. Das Budget reicht – wie in der Bauernhof-Folge – auch mal, um für eine einzige Szene einen Hubschrauber aufs Feld zu stellen. Mädel sagt: ,Der war glaube ich nicht so viel teurer als die Kuh. Und leichter zu bedienen.’“ Peer Schader bei Übermedien über die neue Staffel „Tatortreiniger“. +++

+++ Noch einmal Glück gehabt haben Leute, die sich gerne die mittelansehnliche Verleihung eines deutschen Musikpreises ansehen: Statt des Ersten wird im kommenden Jahr Vox den Echo übertragen (DWDL, Meedia). +++

+++ Wer aus Sicht der DWDL-Redaktion im Medienjahr 2016 besonders peinlich war, lässt sich hier nachlesen bzw. durchklicken. +++

Neues Altpapier gibt es am Mittwoch.