Möwen im Sturm

Möwen im Sturm
Das gibt's jeweils selten: einen Grimmepreis für einen, gegen den die Staatsanwaltschaft ermittelt. Eine Intendantenwahl bei einer öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalt, bei der es spannend zugeht. Einen "offenen Affront" einer weiteren ARD-Anstalt gegen eine amtierende Bundesministerin (wenn auch bloß die für Kultur).

Das ZDF bittet in nicht ungewundenen Worten

"um Verständnis dafür, dass wir zu diesem Zeitpunkt eines beginnenden Ermittlungsverfahrens dazu nicht weiter Stellung nehmen können",

hat sich zu diesem Standpunkt also weder von seinem Moderator Jan Böhmermann getrennt, noch dessen heutige Abendshow im Nebenkanal Neo aus dem Programm gekickt. Das

"Grimme-Institut teilte unterdessen mit, die Einladung zur Preisverleihung an Jan Böhmermann aufrecht zu halten",

hat die elektronische Presse des MDR sich erkundigt ("Grimme-Preis für Böhmermann nicht gefährdet"). Jan Böhmermann selbst teilt in sog. soz. Medien auch dieses und jenes, bei Twitter am Morgen einen weiteren Meta-Scherz, bei Facebook bekomme ich "die Seite ist nur für eine Zielgruppe sichtbar, in der du nicht enthalten bist", angezeigt (was belegt, wie gut dieser Datenkrake auch seine Nichtnutzer kennt) ...

Es darf also davon ausgangen werden, dass der populäre Brachialprovokateur an diesem Vormittag, womöglich "zufrieden lächeln"d (Karoline Meta Beisel, SZ), an neuen Feuerwerken feilt, die er heute abend um 22.30 Uhr und morgen abend dann bei der Preisentgegennahme in Marl auf spitze Zielgruppen mit hohem Multiplikatoren-Potenzial loslassen wird.

Schließlich wurden in den letzten Tagen bereits das ZDF, die Mainzer Staatsanwaltschaft und Bundeskanzlerin Merkel 

"zu einem Teil eines Drehbuches, das er", Böhmermann, "schon längst geschrieben und veröffentlicht hatte. Böhmermanns satirische Kunst spielte auf einer Reflexionsstufe, der offenbar nicht alle gewachsen sind",

lobt im zurzeit überdrehtesten Kommentar unter der alarmischsten Überschrift ("Wie lange gilt in Deutschland noch die Meinungs- und Pressefreiheit?") Christian Schlüter von der Berliner Zeitung den Clou aus Böhmis Show der vorigen Woche:

"Böhmermann erkannte ... , dass unsere Meinungs- und Pressefreiheit viel zu wichtig ist, um sie den Sonntagsrednern zu überlassen. Deswegen machte er in seiner Sendung 'Neo Magazin Royale' die Probe aufs Exempel mit einem bewusst verletzenden und vor allem bewusst justiziablen, 'Schmähkritik' genannten Gedicht gegen den türkischen Präsidenten Erdogan."

Um kurz zusammenzufassen, was zuletzt (seit gestern morgen, darum z.T. im Altpapier gestern enthalten) geschah: Erst vermeldete der in Regierungskreisen gut verdrahtete Tagesspiegel eine "interne" Auswärtiges-Amts-Studie, derzufolge Böhmermann sich mit der erwähnten Schmähkritik "höchst wahrscheinlich strafbar gemacht" habe, zumindest falls die Türkei, deren Präsident geschmäht wurde, "ein Strafverlangen" äußern würde. Später am Tag meldete Spiegel Online, dass aufgrund von "bislang rund 20 Strafanzeigen von Privatpersonen" die Staatsanwaltschaft Mainz auch ohne türkisches Verlangen schon Ermittlungen aufgenommen und "zur Sicherung der Beweise" beim ZDF einen "Mitschnitt der Sendung" angefordert habe, aus der das ZDF in seinen Mediatheken rund fünf Minuten gelöscht hat:

"Laut Experten erscheint es ziemlich unwahrscheinlich, dass Böhmermann wegen des Schmäh-Gedichts tatsächlich mit einer Freiheitsstrafe rechnen muss. Selbst gegen die Verhängung einer Geldstrafe gibt es demnach viele Argumente. Gleichwohl muss die Staatsanwaltschaft feststellen, ob es sich um eine Beleidigung handelt oder nicht - schon dieser Befund ist politisch brisant."

Und irgendwann zwischendurch hat Regierungssprecher Steffen Seibert "hier in der Feuilleton-Redaktion" angerufen, "um eigens darauf hinzuweisen, dass in dem Telefonat Merkel/Davutoglu von der Böhmermann-Satire tatsächlich im" gestern auch von der FAZ (Edo Reents' gestern hier erwähnte Glosse inzwischen frei online) "dargestellten Sinne die Rede war; hauptsächlich aber sei es um die Flüchtlingspolitik gegangen", wie das FAZ-Feuilleton (S. 11) heute eigens 19-zeilig vermeldet.

So weit, so absehbar und kalkuliert. Solche Mechanismen außer Kraft zu setzen und die Justiziabilität von der Reflexionsstufe abhängig zu machen, wie es die BLZ offenbar will, wäre aber wohl keine gute Idee. Das könnten dann auch Zeitgenossen ausnutzten, die einem selbst weniger sympathisch sind als Böhmermann Christian Schlüter.

Was nun? Falls Sie digital nativ sind und voten wollen: Lorenz Maroldt hat in seinem Morgen-Newsletter etwas vorbereitet, das ganz lustig ist ("c) Degradierung zum stv. Regierungssprecher"), zumindest bis er auch noch die Verbindung zum ähnlichen toppen Thema Panamapapers herstellen möchte. Immer Zusammenhänge herstellen zu müssen, das ist ein alter Kolumnistenfluch.

[+++] Hier geht's nochmals zurück in den o.g. Tagesspiegel-Artikel, in dessen Updates dann auch "ein Verantwortlicher" des ZDF-Studios in Istanbul zu Wort kommt ("bestätigte ..., dass eine Gruppe von etwa 30 Personen am" Samstag "Nachmittag vor dem Gebäude skandiert und mit Eiern geworfen hatte. 'Es stinkt heute noch', so der Sprecher. ... Das ZDF-Studio ließ die Metallrolladen herunter"), und in dem in ein Medienmilieu verlinkt wird, das hier im Altpapier selten vorkommt.

"Und der Hetzer Jan Böhmermann darf mit unseren GEZ-Zahlungen weiterhin sein unberechtigtes Dasein im deutschen Fernsehen führen?",

heißt es bei sabahdeutsch.de unter der Überschrift "Dreckskerl, du bist kein Humorist, sondern ein Hetzer". Die im selben Artikel erwähnte, kritisierte "populistische Massenzeitung" ist übrigens die Bild-Zeitung.

Die Zeitung Sabah (keinesfalls mit der Zaman zu verwechseln) ist laut Tsp. "eine der größten und auflagenstärksten Tageszeitungen in der Türkei" und "im Besitz der Calik Holding, deren CEO Berat Albayrak ist, der Schwiegersohn von Präsident Erdogan". Sie zählt also zu den Medien, die vom brachialen Runterfahren der Medienfreiheit in Erdogans Türkei profitieren, und ist vermutlich selbst populistisch.  ...

Dass für dieses große und durch die opportunistische Haltung der Bundesregierung verschärfte Problem Ziegen-Fick-Vorwürfe gleich welcher Reflexionsstufe einen Teil der Lösung bilden könnten, lassen solche Artikel allerdings noch unwahrscheinlicher erscheinen.

[+++] Apropos GEZ. Die heißt ja gar nicht mehr so, ließe sich formal einwenden. Doch andererseits muss zwar beinahe jeder den Rundfunkbeitrag zahlen, aber niemand das werbliche Wording der davon finanzierten Institutionen übernehmen. "Wie man wegen GEZ-Gebühren im Gefängnis landet", ist ein in diversen Milieus gerade populäres Thema.

Der Link eben führt zur Rheinischen Post, da diese Zeitung außerdem von einer Geldbeschaffungsmaßnahme des WDR über völlig andere Kanäle berichtet. Bzw. meldet der WDR selbst, dass er nun also "ausgewählte Kunstwerke über das Auktionshaus Sotheby’s verkaufen" wird. Und die dürre Pressemitteilung im Werbesound wird von der RP ergänzt:

"Zur Prüfung vorgelegt hatte der WDR dem NRW-Kulturministerium eine bislang öffentlich nicht bekannte Liste mit 48 Kunstwerken. Die Liste liegt unserer Redaktion vor. Das NRW-Kulturministerium hatte zu prüfen, ob sich unter den Werken auch solche mit besonderer Schutzwürdigkeit befinden. Für diese hätte NRW-Kulturministerin Christina Kampmann (SPD) eine Eintragung in das Verzeichnis national wertvollen Kulturgutes einleiten können, was den Verkauf faktisch verhindert hätte. 'Für zwei Werke auf dieser Liste hatte das Ministerium ein Verfahren zur Eintragung in das Verzeichnis eingeleitet', berichtet die Ministeriumssprecherin Hayke Lanwert."

Dann hat die Ministerin aber auch für Max Beckmanns "Möwen im Sturm" und für "Berglandschaft mit Almhütten" von Ernst Ludwig Kirchner solch ein Verfahren nicht eingeleitet, sodass auch diese Gemälde unter den Hammer kommen.

"Der Verkauf ist ein offener Affront gegen Kulturstaatsministerin Monika Grütters",

schreibt Jörg Häntzschel im SZ-Feuilleton. Die "drastische Verschärfung des Kulturgutschutzgesetzes", die noch auf dem Weg und nicht unumstritten ist, war mit von den WDR-Plänen initiiert worden.

Um das Positive zu sehen: Einen "Affront" gegen eine amtierende Bundesministerin trauen sich ARD-Anstalten nicht oft zu begehen. Wobei auch dem WDR klar sein dürfte, dass Kultur und Medien für die Bundesregierung eine funktionale Rolle spielen.

Falls Sie die Gemälde in diesem Internet noch mal sehen wollen, fördert das auch interessante Ergebnisse zutage, z.B. dass "Möwen im Sturm" auf der Webseite kulturgutschutz-deutschland.de offenbar enthalten war, aber entfernt worden ist (duckduckgo.com). Z.B., dass sich im Juni 2015, als die WDR-Pläne, im Haus vorhandene Kunst in London zu versteigern, bekannt wurden, ein Kölner Auktionator "Dadurch entgehen uns Steuern in Deutschland, wo die Kunst angeschafft wurde" beklagte (Rheinische Post damals; und in einer pressreader.com-Ansicht, die Google ausspuckt, sind Beckmanns "Möwen" dann auch, klein, zu sehen ...).

Legalität und Legitimiät von Steuervermeidung ist ja ein weiteres aktuelles Trendthema.

So sehr überschlagen sich die Ereignisse, dass die erste spannende Intendanten-Wahl in einer öffentlich-rechtlichen Anstalt seit ... seit ... seit Markus Schächters Wahl beim ZDF? jedenfalls: in den Altpapierkorb muss.


Altpapierkorb

+++ "Spannung im Rundfunkrat": Folgt Patricia Schlesinger oder Theo Koll auf Dagmar Reim beim RBB? Die Kandidaten vor stellen Ulrike Simon (MAZ), Markus Ehrenberg und Kurt Sagatz (Tagesspiegel) sowie Torsten Wahl in der BLZ. "Die Kandidaten sind nicht eindeutig der rot-schwarzen Parteifarbenlehre zuzuordnen" (Tsp.), aber das ist in der Politik ja auch kaum mehr jemand. Viele Mitglieder des wahlberechtigten Rundfunkrats seien "unzufrieden damit, dass es keiner der drei internen Bewerber oder ein anderer Kandidat aus dem Haus in die Endausscheidung geschafft hat". Nur Michael Hanfeld in der FAZ ist zufrieden (mit beiden Kandidaten "stünde der Sender gut da"). Als dritter letzte Woche abgesagt hatte bekanntlich Volker Herres. +++ Zufrieden mit dem RBB ist eigentlich kaum jemand. Eine prägnante "kurze Analyse über Stärken und Schwächen" hat wiederum die MAZ. "Die schlechte Stimmung in dem rund 3400-köpfigen Haus (1915 Mitarbeiter sind festangestellt, dazu gibt es rund 1500 freie Mitarbeiter)" beschreibt auch der Tagesspiegel, der sich, was schlechte Stimmung freier Mitarbeiter angeht, ja auskennt. +++ Überdies hat er eine alberne Umfrage bei "Menschen aus der Medienbranche" angestellt, in der "die Entertainerin Desireé Nick" etwa "Nach tausend Jahren Männerherrschaft bin ich natürlich für die Frau, die Männer hatten ihre Chance und da ist noch viel Luft nach oben" sagt, als hätte sie von Dagmar Reim noch nie gehört. +++

+++ Die TAZ stellt das "NDR-Gewächs" und das "ZDF-Gesicht" für den RBB auch noch vor. +++

+++ In Kürze wird die Rundfunkgebühr wahrscheinlich um ein weiteres knappes Brötchen im Monat gesenkt, aber "egal was jetzt passiert – 2021 steigt der Beitrag so oder so. Und zwar kräftig". Ja, Anfang der 2020-er Jahre werden die öffentlich-rechtlichen Sender "garantiert zur politischen und populistischen Kampfzone": Da bereitet Claudia Tieschky auf der SZ-Medienseite den Altpapier-Lesern natürlich bekannten Medienkorrespondenz-Artikel zur mittelfristigen Gebührenentwicklung auf. +++

+++ Ein 30-minütiger Making-of-Film zu den Panamapapers, den die NDR-"Zapp"-Redaktion zwischen Island, Dakar und "München, Deutschland" drehte, wurde gestern gesendet und ist online abrufbar. +++

+++ Neue Meinungen zum Thema: "Es ist schade, dass bei einem so ambitionierten Projekt wie den „Panama Papers“ dieses Element der Aufbereitung vernachlässigt wurde: die Auseinandersetzung mit dem Publikum und seinen Reaktionen" (Stefan Niggemeier, uebermedien.de) +++ "Das sollte eigentlich eine Lehre aus den Snowden-Leaks sein: Es geht doch nicht um den Überbringer der schlechten Nachrichten" (netzpolitik. org empfiehlt, "sich ... selbst ein Bild" zu machen "statt vorschnell zu urteilen oder anderen nach dem Mund zu reden"). +++ "Das Mossack-Fonseca-Leak ist Pop, weil das wichtigste daran (noch) nicht die Inhalte sind - sondern wie sich wer dazu verhält" (Sascha Lobo bei SPON). +++ "Viel Lärm um nichts? Oder viel nichts um Lärm", "eine großartige Inszenierung ist es auf jeden Fall" (Alf Frommer, newsroom.de). +++ Die "Überlegung, dass Bürger einander mehr sein könnten als Steuervermeider, Trittbrettfahrer also, die das Gemeinwesen prima finden, wenn es Universitäten finanziert oder Straßen oder Polizisten oder Notfallsanitäter, die es aber, was ihr eigenes Einkommen angeht, das sie als 'Leistungsträger' selbstverständlich nur sich selbst verdanken, prinzipiell als Gegenspieler begreifen", entwickelt Jürgen Kaube im FAZ-Feuilleton. +++ Und mit einem Anwalt, der "die Achtung der Privatsphäre von Politikern und Prominenten" anmahnt, sprach der EPD (hier nebenan). +++

+++ "Die Degeto-Filme etwa, die am Freitagabend, einem vorwiegend für Frauen konzipierten Sendeplatz liefen, haben zu mehr als 80 Prozent Männer gemacht. ... Dadurch entsteht ein ziemlich verblödetes Frauenbild. Aber die Degeto gelobt Besserung und will künftig 20 Prozent aller Filme von Frauen inszenieren lassen" (Regisseurin Claudia Garde im sueddeutsche.de-Interview). +++

+++ Die erste Ausgabe der Gruner+Jahr-Zeitschrift Barbara "im Oktober vergangenen Jahres verkaufte sich nach Verlagsangaben rund 250.000 Mal, Ausgabe zwei ging noch 150.000 Mal über die Ladentheke. Aktuelle Zahlen hat das Haus noch nicht kommuniziert", aber "einen siebenstelligen Betrag locker gemacht, um das Heft noch populärer zu machen" durch Fernsehwerbung (meedia.de). Die Editorin-at-large des Magazins ist heute abend sowieso wieder ausführlich im Fernsehen zu sehen. +++

+++ Die FAZ-Medienseite verrechnet, dass Facebooks Whatsapp einerseits nun Daten verschlüsselt, damit, dass Facebooks Oculus andererseits Nutzer "entschlüsselt" (Es "werden die Bewegungen der" Virtual Reality- "Brillenträger erhoben, Körpermaße und Körperform. Oculus nimmt sich das Recht, diese Daten auszuwerten, zu vermarkten, mit öffentlich verfügbaren oder zugekauften Daten zu verknüpfen und die Nutzer gezielt mit Werbung zu beschicken"). +++  Und sie erzählt nun auch von den Geschäften der Nachrichtenagentur Associated Press (AP) mit den deutschen Machthaber in der Nazizeit (siehe Altpapier neulich, im Korb). +++

+++ Und die Stiftung Warentest hat den deutschen Browser namens Cliqz getestet. +++

Neues Altpapier gibt's wieder am Freitag.