1933? Nein, 1930!

1933? Nein, 1930!
Ein AfD-„Bezwingzwang“ sei kontraproduktiv, meint ein Chefredakteur aus Österreich. Außerdem müssen wir mal über BDSM-Journalismus reden. Plus: Was hat es mit dem „dänischen Modell“ der Presseförderung auf sich? Ist die ideale Zeitung so eine Art „Mischung aus Tiger und Ente“? Gibt es einen „fairen Buy-Out“?

Lange nichts von Walter Benjamin gelesen? Zumindest die meisten Journalisten haben es in letzter Zeit wohl nicht getan, sonst wäre ihnen möglicherweise aufgefallen, dass er vor 90 Jahren Profundes über Deutschland 2016 geschrieben hat:

„In dem Schatze jener Redewendungen, mit welchen die aus Dummheit und Feigheit zusammengeschweißte Lebensart des deutschen Bürgers sich alltäglich verrät, ist die von der bevorstehenden Katastrophe – indem es ja ,nicht mehr so weitergehen‘ könne – besonders denkwürdig.“ 

Wolfram Eilenberger zitiert diese Passage aus dem Buch „Einbahnstraße“ nun in einem vorab veröffentlichten Artikel der morgen erscheinenden neuen Ausgabe des Philosophie Magazins und bemerkt, dies sei „die bis heute treffendste Analyse für den Aufstieg der AfD zur neuen politischen Macht“.

Die Analyse weist aber weit über die AfD hinaus, denn die Platte, dass es „nicht mehr so weitergehen“ könne, legen ja schon seit vielen, vielen Monden auch Politiker auf, die nicht Mitglied der AfD sind. Und nicht zuletzt Journalisten, die, wenn man sie danach fragte, bestreiten würden, dass sie mit der AfD sympathisieren.

Eilenberger schreibt weiter:

„Nach Benjamin beruht die politische Wirksamkeit solcher Untergangsappelle insbesondere auf einer ‚hilflosen Fixierung an den Sicherheits- und Besitzvorstellungen vergangener Jahrzehnte‘. Wieder ein Volltreffer! Denn auch der gemeine Angstbürger von heute erahnt seine Fixierung auf vergangene Besitzstandshorizonte ja als letztlich hoffnungslos. Gerade deshalb beharrt er mit besonderer Aggressivität auf ihnen. Zur vollendet verstellten und also im wahrsten Wortsinne perversen Paranoia mutiert solch eine Haltung schließlich, wenn sich, wie Benjamin schreibt, ‚die Volksgemeinschaften Europas‘, angeheizt von rechtspopulistischer Rhetorik, ‚wie Einwohner einer rings umzingelten Stadt‘ fühlen, ‚denen Lebensmittel und Pulver ausgehen und für die Rettung menschlichem Ermessen nach kaum zu erwarten ist.‘“

Auch dies liest sich wie eine Analyse aktueller Frankfurter Allgemeiner Meinungen.

Um nach dem Philosophen Benjamin und dem Philosophie-Magazin-Chefredakteur Eilenberger mal einen Gewährsmann aus anderen Gefilden ins Spiel zu bringen: Das Magazin Intro hat den früheren Titanic-Chefredakteur Leo Fischer zur AfD befragt, und der konstatiert dort eine

BDSM-Beziehung, die die Medien schon seit der Abwahl Bernd Luckes zur AfD pflegen: Man lässt sich als Lügenpresse beschimpfen, aus Veranstaltungen werfen und auf Demos anspucken, um den Leuten dann ganz galant den Hof zu machen und ihnen ganze Talkshows auf den Leib zu schneidern.“ 

Der sozialpsycholgischen Analyse aktuellen Journalistenverhaltens (siehe Altpapier vom vergangenen Mittwoch) hätten wir hiermit - Stichwort BDSM - nun eine im weiteren Sinne sexualpsychologische hinzugefügt.

Fischer sagt in dem Interview des weiteren: 

„Besonders kinky ist man da bei der Tageszeitung Die Welt drauf: Nach den Wahlen erklärte der stellvertretende Chefredakteur Ulf Poschardt, nun sei es an der Zeit, sich zu beruhigen und die Lage nüchtern zu sehen, insbesondere verbitte er sich Vergleiche mit 1933. Ich möchte ihm da zustimmen: Die Situation ist nicht, wie sie 1933 war, sondern wie sie 1930 war. Und die AfD ist auch viel schlechter gekleidet als die NSDAP. Das sind die wesentlichen Unterschiede.“

In gewisser Hinsicht „kinky“ war möglicherweise auch die Art und Weise, wie zumindest Teile der österreichischen Medien einst über Jörg Haider berichteten, also den männlichen Frauke Petry der 1990er Jahre (um hier mal eine neue Vossianische Antonomasie zu kreieren) 

„Im öffentlich-rechtlichen Fernsehen filmte man Haider und seine Knaben-Entourage, die später großteils gerichtsnotorische sogenannte Buberl-Partie, am liebsten von unten, aus devoter Kameraperspektive, und verdammte die Knaben lustvoll im Kommentar. Die meisten Berichte in kritischer Absicht erlagen vollkommen dem bildlichen, Reichweite und Aufmerksamkeit verheißenden Appeal des Objekts ihrer Berichterstattung“, 

Dies steht in einem Text, den Armin Thurnher, der Chefredakteur der Wiener Wochenzeitschrift Falter, für Zeit Online geschrieben hat. Der Artikel soll „eine Lehre für den Umgang mit der AfD“ sein, und instruktiv ist er zumindest insofern, als er sich ausführlich mit einem Aspekt dieses „Umgangs“ befasst, der sonst in der Hintergrund gerät: Welche Bilder sind adäquat für die Berichterstattung über die Kameradinnen und Kameraden? Thematisch verwandt: „Brauchen wir eine andere Bildsprache bei der Berichterstattung von Pegida-Demonstrationen?“ (siehe Teaser des Altpapiers vom 4.12.15)

Welchen Einfluss die AfD auf ARD und ZDF über die Mitgliedschaft in Senderkontrollgremien nehmen könnte, war in den vergangenen Tagen bereits ein Thema (siehe die aktuelle Medienkorrespondenz bzw. Altpapier von Freitag, Tagesspiegel gestern). Heute greift die FAZ-Medienseite - Bezug nehmend auf den von Correctiv geleakten Parteiprogrammentwurf - auf, was die AfD täte, wenn sie richtig viel zu melden hätte: Sie will den Beitragsservice 2018 abschaffen, ARD und ZDF „privatisieren“ und neue steuerfinanzierte Staatssender schaffen, „den Einfluss der Politik auf das Fernsehen und die Nachrichten also stärken, statt schwächen“ (Correctiv).

Für den Umgang der AfD mit den Medien möglicherweise auch aufschlussreich ist eine aktuelle Begebenheit aus der Blogosphäre: Ist ein Beisitzer des Vorstands der AfD Berlin-Mitte, der u.a. ein „deutscher Schriftsteller“ ist (die lexikalische Standardformulierung von Wikipedia liest sich in diesem Fall wie eine Wertung), ein „neuer Barde des Faschismus“? Ist der Blog dieses Barden „ein komplett gefüllter Krämerladen für den gewöhnlichen Reichsbürger- und Klemmnazibedarf“? Der dichtende und bloggende Lokalpolitiker findet das nicht, weshalb er dem Blogger Michael Bittner, von dem die zitierten Formulierungen stammen, nun droht, den „Vorgang polizeilich zur Anzeige“ zu bringen.

[+++] Um die Zukunft des Journalismus unter Nicht-Berücksichtigung der AfD soll es heute aber noch gehen:

„Sollen öffentliche Fördermodelle den Zeitungen aus der Krise helfen?“ 

So lautet eine Frage, um die es bei „einer Aussprache zum Thema ‚Die Zukunft der Medien in Mecklenburg-Vorpommern‘“ ging, die in der vergangenen Woche im Schweriner Landtag stattfand und über die Thomas Hahn für die SZ-Medienseite (Teaser für den zu bezahlenden Text hier). Er schreibt: 

„CDU-Fraktionschef Vincent Kokert findet das ‚dänische Modell‘ interessant: ‚Dort wird der Aufbau von Redaktionen mit öffentlichen Mitteln gefördert, über deren Vergabe ein unabhängiger Ausschuss aus Wissenschaftlern, Wirtschaftsberatern und Journalistenverbänden entscheidet.‘“

Daran anschließen ließe sich mit Äußerungen, die Frank Lobigs, Professor für Medienökonomie am Institut für Journalistik der TU Dortmund, auf dem „LPR-Forum Medienzukunft“ machte, also einer von der hessischen Landesmedienanstalt veranstaltenden Tagung (über die die Medienkorrespondenz berichtet):  

„In etwa zehn Jahren seien (...) die meisten Zeitungen verschwunden, prognostizierte Lobigs (...) Sollte mit den Zeitungen auch der Journalismus bedroht sein, müsse das öffentliche Gut Meinungsfreiheit künftig stärker öffentlich finanziert werden, meinte er mit Blick auf die Zukunft.“

Und wem das nun schon zu düster klingt, der sollte das nächste Zitat ignorieren und erst im Altpapierkorb weiterlesen: Peter Praschl hat für die Welt die neuen Bücher von Stefan Schulz („Redaktionsschluss. Die Zeit nach der Zeitung) und Uwe Krüger („Mainstream. Warum wir den Medien nicht mehr trauen") gelesen und folgende Erkenntnisse gewonnen: 

„Schulz macht einem klar, wie wenig der Journalismus davon hätte, beschlösse er, so zu werden, dass seine Kundschaft ihn wieder für vertrauenswürdig, ausgewogen, grundsolide und dennoch nicht für langweilig hielte. Ihr ist Glaubwürdigkeit nämlich gar nicht so wichtig, wie sie selbst denkt und in Umfragen äußert (...) Selbst wenn alle Journalisten begännen, so zu arbeiten, dass Stefan Niggemeier, Joachim Gauck und Publizistikordinarien nichts mehr zu mahnen hätten, würden die Unternehmen, von denen sie beschäftigt werden, davon nicht so profitieren, dass sie plötzlich wieder hohe Auflagen oder beruhigende Anzeigenerlöse vermelden könnten. Schulz und Krüger sind beide keine Sarkasten, doch beim Lesen ihrer Bücher kann man leicht einer werden.“


Altpapierkorb

+++ „Wie kann man Kreative bloß gerecht bezahlen?“ - so überschreibt die Welt Christian Meiers Text zum heute im Bundeskabinett auf der Tagesordnung stehenden neuen Urhebervertragsrechtsentwurf. Es geht in dem Text auch um die für nicht wenige Leser dieser Kolumne wichtige Frage, „ob und wie Urheber für die mehrfache Nutzung ihrer Werke entlohnt werden sollen. Vor allem die Digitalisierung hat Verwertern zahlreiche neue Abspielkanäle eröffnet. Eigentlich sollten Pauschalvergütungen, auch ‚Total-Buy-Out‘ genannt, im Gesetz de facto untersagt werden. Urheber hätten für jede einzelne Nutzung ihres Werkes honoriert werden müssen. Bisher lassen sich Verwerter häufig in Verträgen die kompletten Nutzungsrechte übertragen – selbst für Nutzungen, die es noch gar nicht gibt. Dem wollte das Justizministerium ein Ende bereiten. Es hat sich nun aber eines Anderen besonnen, wie Meier fortfährt: „Den Anspruch auf eine zusätzliche Vergütung einer bisher unbekannten Nutzung hat ein Urheber laut dem neuen Regierungsentwurf zwar immer noch. Darüber hinaus heißt es allerdings jetzt, die ‚Häufigkeit‘ einer Nutzung sei bei der Vergütung zu berücksichtigen. In den Erläuterungen zum Entwurf steht dann deutlich: ‚Buy-Outs sind nicht per se abzulehnen‘ (...) Doch müssten sie ‚fair‘ ausgestaltet sein, mahnt der Entwurf. An solchen Formulierungen kann man sich im Zweifel freilich die Zähne ausbeißen.“ Siehe auch Tagesspiegel („Die Novelle zum Urhebervertragsrecht wurde an zentralen Stellen entschärft“) und Altpapier von Montag (direkt unter dem Strich) 

+++ Die ARD-Zeitschrift Media Perspektiven klamüsert auf 28 Seiten (der Link zum PDF findet sich unter dieser Zusammenfassung) auseinander, welche Themen im vergangenen Jahr die „sechs wichtigsten Nachrichtensendungen im deutschen Fernsehen“ dominiert haben: „Nachdem in den vorausgegangenen Jahren Kriege, Krisen, Katastrophen und internationale Sportevents zur Ausweitung der Auslandsberichterstattung geführt hatten, änderte sich 2015 mit der Flüchtlingskrise die geopolitische Perspektive der deutschen Fernsehnachrichten. Mit dem Näherrücken von Bedrohungen aus Krisen- und Konfliktregionen verlagerte sich die mediale Aufmerksamkeit wieder stärker auf Europa und Deutschland“, was wiederum „manch anderen Themen Aufmerksamkeit entzog.“ Unter den „Top-20-Themen“ landete i.Ü. „Pegida“ auf Platz zwölf mit 323 Sendeminuten, vor beispielsweise „Wahlen im Ausland“ (302) und „Lage in Afghanistan“ (220).

+++ Dass mehrere Journalisten, die den #marchofhope nach Mazedonien begleiteten, zeitweilig von der dortigen Polizei „festgesetzt“ worden seien, berichtet Metronaut. Radio Eins (RBB) hat mit einem der zwischenzeitlich seiner Freiheit beraubten Kollegen, dem Fotojournalisten Björn Kietzmann, gesprochen.

+++ Sie ist „schon jetzt auf der Halbpromi-Rampe, nach der sich so viele deutsche Journalisten sehnen, die mehr sein wollen als deutsche Journalisten“, aber in ihrem ersten Roman offenbart die Welt-Redakteurin Ronja von Rönne eine „schlaffe Haltung gegenüber dem eigenen Text“ bzw. erweckt den „Eindruck, als wäre ihr der eigene Text genauso egal wie alles andere auch“. Das schreibt Meredith Haaf in einer Rezension für die SZ-Literaturbeilage.

+++ Reklame für uns: Günther Willen, einst Redakteur des Humormagazins Kowalski, hat im Journalisten-Fragebogen der Prinzessinnenreporter auf die Frage „Wie würde eine Zeitung aussehen, bei der Du ganz alleiniger Chefredakteurkönig wärst? Und wie würde sie heißen?“ Folgendes geantwortet: „Aufklärerisch wie The Guardian, unabhängig wie Der Postillon, aktuell wie Das Altpapier, sachlich-elegant wie die NZZ und lustig wie ‚Welt im Spiegel‘ (WimS). Kurz: Eine Mischung aus Tiger und Ente.“ Hier muss man vielleicht hinzufügen, dass „Welt im Spiegel“ eine von 1964 bis 1976 existierende Pardon-Kolumne war. „WimS war der Versuch, die unfreiwillige Komik der Medien zu überbieten, eine Komik, die aus der Anstrengung entsteht, eine jede Begebenheit zu größtmöglicher Bedeutung aufzupumpen, schrieb die Berliner Zeitung vor nun auch schon wieder fast zwei Jahrzehnten anlässlich eines Nachdrucks.

+++ In Zeiten, in denen die AfD zumindest mittelfristig Einfluss auf den öffentlich-rechtlichen Rundfunk nehmen könnte (siehe oben), wächst möglicherweise das generelle Interesse an der Ausgestaltung der Landesmediengesetze. In Niedersachsen - in dessen Landtag die AfD nicht vertreten ist - gilt seit Anfang des Monats ein neues, das unter anderem vorsieht, dass das Aufsichtsgremium der Niedersächsischen Landesmedienanstalt öffentlich tagt. Die Medienkorrespondenz berichtet.

+++ Thomas Gehringer (epd medien) findet, dass WDR-Intendant Thomas Buhrow keine gute Figur abgegeben hat in der Debatte um das Programm von Funkhaus Europa  (siehe u.a. dieses Altpapier und dieses Altpapier): „Kritische Einwände als ‚Kampagne‘ abzutun, ist (...) schon bemerkenswert dünnhäutig. Zweifelhaft ist auch das Verständnis von Transparenz in solch strittigen Fragen. Der Rundfunkrat entscheidet als Aufsichtsgremium über die Reformpläne. Aber bedeutet das, dass nur dort darüber beraten, diskutiert, gestritten werden darf? Angeblich aus Respekt vor den Gremien sollen Informationen möglichst nicht vorzeitig an die Öffentlichkeit dringen. Damit wird jedoch eine breite Diskussion erst möglich, wenn über das Thema bereits entschieden wurde.“ Siehe zu letzterem Aspekt auch das WDR-Dschungelbuch neulich.

+++ Was wollen Männer zwischen 45 und 60? Unter anderem einen Doku-Kanal im privaten Free-TV. Die Pro-Sieben-Sat1-Gruppe glaubt das und plant jetzt einen (turi2).

+++ Der DJV ist nicht mehr zufrieden mit dem Verlag Rommerskirchen, jenem Dienstleister, der das Verbandsmagazin journalist (für das ich regelmäßig schreibe) produziert und in diesem Monat eine Ausgabe von rekordverdächtig schmalen Umfang an die Abonnenten expedierte. meedia.de weiß Näheres.

+++ Bei nzz.at, dem Österreich-Ableger der NZZ, fallen neun von 20 Stellen weg, berichtet die SZ. „Der jetzige Umbau kommt für die Mitarbeiter wohl nur bedingt überraschend. Die Abo-Zahlen von nzz.at lagen von Anfang an unter den Erwartungen.“

+++ Verstorben ist am Montag im Alter von 57 Jahre Carlo Rola, „der Erfinder der ZDF-Krimireihe ‚Rosa Roth‘" (Spiegel Online) bzw. „Hausregisseur von Iris Berben“ (SZ). „Sein früher Tod ist für jeden Zuschauer eine sehr traurige Nachricht, der sich vom Fernsehen noch überraschen lassen konnte und wollte, meint das Hamburger Abendblatt.

Neues Altpapier gibt es wieder am Donnerstag.