Die AfD ist die Wahlgewinnerin. So krachend und vor allem: aus dem Stand, dass in den ersten Minuten nach der Bestätigung des Einzugs der AfD in die Landesparlamente von Rheinland-Pfalz (12,6 Prozentpunkte), Baden-Württemberg (15,1) und Sachsen-Anhalt (24,2) sogar Twitter für einen Moment den Atem anhielt. Aber womit haben die werten Beobachter denn gerechnet, nach einem Wahlkampf, in dem wochenlang von nichts anderem berichtet wurde als von Flüchtlingen, Merkels Fehlern und der AfD; nachdem fast alles Politische in seiner Relation zur oder als Reaktion auf die AfD dargestellt wurde? Was für ein Wählerverhalten haben die in dem einen oder anderen Sinn zu Propagandisten gewandelten Kommentatoren – auch die öffentlich rechtlichen – nach solcher Dauerbearbeitung denn erwartet?
Die Parteien scheinen ebenfalls nicht ganz da gewesen zu sein. So berichtet Altpapier-Autor Frank Lübberding über Frau von der Leyens bemerkenswerte Rezeption der Realität bei „Anne Will“:
„Man kann sich wirklich nicht an vergleichbare Diskussionen nach einer Wahl im Deutschland nach 1949 erinnern. Eine amtierende stellvertretende Bundesvorsitzende der CDU deklariert die Wahlsiege zweier anderer Parteien als die ihrer Kanzlerin, und argumentiert damit in der Diktion einer Einheitspartei.“
Auch von der Leyens Spitze gegen Frau von Storch, in Zukunft gebe es keine „mausgerutscht“- oder „Lügenpresse“-Ausreden mehr, sondern überprüfbare Landtagsprotokolle, mag sachlich richtig sein – Wähler gewinnt man mit Selbstherrlichkeit nicht zurück.
Sage keiner, „das konnte ja niemand ahnen": Der Absturz der FDP 2013 war ein deutliches Zeichen, dass längerfristige, größere Veränderungen bevorstehen, und was, für alle sichtbar, im Osten los war, kann man bei Christian Gesellmann nachlesen. Doch selbst der kaltschnäuzige Neoliberalismus der FDP hat uns nicht auf den Ton vorbereitet, der seit letztem Herbst in Deutschland herrscht: Mit rhetorischen Tricks darf man rechtssicher ganz unbesorgt sagen, was man will. Gegner werden bar jeder konventionellen Höflichkeit niedergebrüllt, Journalisten sogar geschlagen. (Viele von denen, die gerade zögernd feststellen, die Kommunikation habe sich verändert, meinen damit aber nach wie vor den Unterschied zwischen On- und Offline.)
Für viele Bürger scheint der neue Ton geradezu eine Befreiung zu sein, stellt Dennis Horn ein bisschen erschrocken fest. Auf Facebook finden sie Gleichgesinnte, die sie in ihrem Weltbild bestärken und in ihrer Lautstärke noch übertreffen können, wie auch Jasmin Schreiber nach einem Selbstversuch bedrückend schildert. Und nun können sie endlich wählen gehen, weil sie – offenbar erst jetzt – eine Wahl haben. Auch gemeinsamer Hass stiftet Gemeinschaft.
Bernd Ulrich spricht „angesichts dieser Umstände“ von einem maßvollen Wahlergebnis:
„Eine Million überwiegend muslimische, überwiegend männliche Migranten sind nach Deutschland gekommen, ein Stresstest sondergleichen war das und ist es noch immer, administrativ, kulturell, politisch, menschlich. Und dann passierte zwischendrin auch noch Köln. Der Bundeskanzlerin ist es unterdessen bis heute nicht gelungen, ihr europäisches Konzept ohne harte Grenzen umzusetzen, es gibt also wirklich handfeste Gründe beunruhigt, besorgt, auch genervt oder verärgert zu sein. Und das alles, während niemand weiß, wie sich Chaos und Bürgerkriege in der südlichen Nachbarschaft der EU weiterentwickeln, wie viele Menschen also noch hierher kommen wollen.“
Die wichtigen Fragen müssen endlich auf den Tisch. Dringend ist das nun endgültig bestätigte, tatsächliche Bestehen einer „Protestbewegung – einer Bewegung von rechts, einer Bewegung der Bürger“ zur Kenntnis zu nehmen, wie sie Malte Henk in einem ausführlichen ZEIT-Text beleuchtet:
„Ich glaube, diese Bewegung gibt es wirklich. Es fällt nur schwer, sie einzuordnen, weil sie ziemlich chaotisch ist. Und weil sie, wie jeder soziale Protest, das Gewohnte durcheinanderschüttelt.“
Diese Erkenntnis hätten Redaktionen bereits im Sommer 2014 gratis und franko haben können (der Beginn der Ukrainekrise, wir erinnern uns verschwommen). Doch viel zu viele Journalisten haben sich damals auf aus Print-Zeiten im Stall zurückgebliebene hohe Rösser gesetzt, mit Abschaffung der Kommentare gedroht, gegen die Leser gewettert und sie auch noch diskreditiert. Die Quittung (allerdings keine Kohlersche) haben wir gestern bekommen. Die können wir ignorieren – oder damit umzugehen lernen.
+++ Wieder nix: Heiko Maas gibt bei der geplanten Reform des Urhebervertragsrechts gegen die Verleger klein bei. Dabei ist es wirklich Zeit für eine Neuregelung: Wolfgang Michal etwa mahnt sie mindestens seit 2011 an. +++
+++ Verleger 2: Ein Urteil des Bundesgerichtshofs in der Sache Vogel gegen die VG Wort wird erst am 21. April verkündet. Als mögliche Option erscheint eine Entscheidung für die Vorlage zum EuGH in Luxemburg, da eine nationale Regelung ohnehin nicht mehr sinnvoll ist. +++
+++ Noch mehr Verlegergedöns: Netzpolitik.org hat durch eine erste Entscheidung des Verwaltungsgerichts Berlin immerhin den Zugang zu der Teilnehmerliste der Kabinettsitzung am 29. August 2012 erreicht, „an dem das Kabinett über das Leistungsschutzrecht beriet – nicht jedoch zum [tatsächlich „vom Kanzleramt recht willkürlich als ‚geheim‘ eingestuft“en] Kurzprotokoll selbst“.
Nur ganz leicht süffisant merkt Markus Beckedahl an: „Eine Einstufung des Protokolls zum LSR als ‚geheim‘ würde voraussetzen, dass die Veröffentlichung der Information ‚die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland oder eines ihrer Länder gefährden oder ihren Interessen schweren Schaden zufügen kann‘.“ +++
+++ Michael Schumachers Managerin, die frühere Journalistin Sabine Kehm, spricht anlässlich der Tutzinger Journalistentagung über ihre schwierige Arbeit als „Schutzschild“ nach dem Unfall ihres Klienten. Ungewöhnlich: Die Autorin des Artikels über Sabine Kehm, Christine Schröpf, hat dessen Inhalt vorab auch gleich selbst eingeordnet. +++
+++ Weiterhin ihr Ohr an den Geschehnissen vor der Intendantenwahl beim rbb hat Ulrike Simon: „die drei internen Bewerber sind aus dem Rennen […]. Es obliegt damit der aus dem Rundfunkrat rekrutierten, zehnköpfigen Findungskommission, auf eigene Faust Kandidaten zu finden. Zwei sollen es mindestens sein, maximal aber drei Namen, die den Mitgliedern des Rundfunkrats bis Freitag genannt werden müssen. Die Wahl wird am 7. April in Potsdam stattfinden.“ +++
+++ Jacob Appelbaum hat beim Logan-Symposium tüchtig ausgeteilt, weil er, statt als investigativer Journalist Anerkennung zu finden, immer noch und immer wieder „nur“ als Netzaktivist verschlissen wird. Das hat weniger mit Bestätigung als vielmehr mit seinem Schutz zu tun: Als Journalist gälte in seiner Heimat USA die Pressefreiheit für ihn – als Aktivist drohte ihm ein ähnliches Schicksal wie Chelsea Manning.
Sonst war die Veranstaltung wohl laut taz nur „ein Schaulaufen schöner Projekte“, denn: „Die Elite – oder sagen wir, um sie zu schonen: die Avantgarde – der digitalen Recherche hat vergessen, politische Fragen zu stellen.“ +++
+++ Um nochmals auf journalistischen Hochmut zurückzukommen: Unter der Überschrift „Dear Reader, I knew you never really loved us but I thought it didn’t matter“ nimmt Peter Fray sich vor: „When I leave J[ournalism]-school this time, I will know that only a fool can afford to think that way. The challenge in front of me is to work out what to do about it.“ +++
+++ Voraussichtlich brauchen wir auch in der neuen Woche nicht auf eine Fortsetzung der Miniserie „Sloterdijk und keine Freunde“ zu verzichten. (Siehe auch im Altpierkorb vom 7. März.) +++
Morgen gibt es frisches Altpapier.