Die Renaissancen kommen auch immer schneller

Die Renaissancen kommen auch immer schneller
Durchmarsch des Sachbezugs: Der Deutsche Presserat bleibt bei seiner Linie, und kreuz und quer durchs Land wird gar nicht übel diskutiert. Entspricht sie der "Realität sozialer Medien"? "Durchmarsch der Serie": Die Grimmepreise bieten Diskussionsstoff auch jenseits von Jan Böhmermanns Mittelfinger. Außerdem: eine Teilung einer türkischen Zeitung.

So viel Aufmerksamkeit hat der Deutsche Presserat schon lange nicht mehr, vielleicht noch nie genossen. Gestern konnte sein Sprecher nach einer Sitzung deren Ergebnis vor einer kleinen Mikrofontraube erläutern. Der Paragraph zur Täterherkunfts-Nennung, der 12.1, bleibt, lautet es:

"Die Vollversammlung des Presserats sei übereingekommen, dass die Richtlinie kein Sprachverbot und keinen Maulkorb für Medien darstelle, sagte [Lutz] Tillmanns", der ebenfalls sehr gefragte Presserats-Geschäftsführer. "Auch den Vorwurf der Zensur wies er zurück. Die Redaktionen seien autonom in ihren Entscheidungen, wann sie die Nationalität mutmaßlicher Straftäter nennen und wann nicht, betonte Tillmanns. Zugleich erkenne man jedoch an, dass unter Journalisten Unsicherheit über die Anwendung der Richtlinie 12.1 herrsche. Geplant sei ein Leitfaden zur Auslegung der Regel, der den Redaktionen zur Verfügung gestellt werden soll."

Der Rat ist also der Argumentation der Großen Koalition aus der Journalistengewerkschaft DJV (Frank Überalls im Altpapier vom Dienstag erwähnter FAZ-Gastbeitrag steht inzwischen frei online) und Stefan Niggemeier gefolgt. Schließlich hatten die meisten deutschen Medien schon nach Silvester begonnen, den 12.1 mit seiner "Sachbezug"-Klausel anders auszulegen, als sie es vorher getan hatten.

"Nach einer Expertenrunde hätten 18 Mitglieder dafür gestimmt, drei hätten sich enthalten. Gegenstimmen habe es nicht gegeben", meldet der EPD. "'Es gab nur eine Gegenstimme und zwei Enthaltungen', sagte Tillmanns" laut der DPA. Egal. Wer jedenfalls dagegen stimmte, weiß der österreichische Standard:

"Die 'Sächsische Zeitung' erwägt, die Herkunft von Straftätern in der Berichterstattung künftig immer anzugeben. Chefredakteur Uwe Vetterick, der an der Sitzung des Presserats teilgenommen hatte, schlug vor, künftig konsequent die Nationalität zu nennen, egal ob es sich dabei um Deutsche handle oder um Ausländer. Vetterick begründete das mit den Ergebnissen einer repräsentativen Befragung ..."

Wovon selbstverständlich auch seine eigene Zeitung berichtet:

"'Die Richtlinie verfolgt prinzipiell ein gutes Ziel, nämlich die Stigmatisierung von Minderheiten zu verhindern', so Vetterick. 'In der Praxis bewirkt sie aber gegenwärtig oft das Gegenteil.'"

Da handelt es sich um eine nicht nur sächsische Sicht, wie die Stuttgarter Nachrichten mit DPA und Blick ins nördliche Rheinland-Pfalz berichten:

"Der Chefredakteur der 'Rhein-Zeitung', Christian Lindner, bedauerte die Entscheidung und erklärte: 'Wir werden uns an die Richtlinie 12.1 nicht mehr gebunden fühlen.' Lindner kündigte eigene Empfehlungen für seine Redaktion an, 'die hilfreicher sein werden als die aus der Zeit gefallene Richtlinie 12.1'.".

Diese Rhein-Zeitung ist ja eine digital recht avancierte Lokalzeitung aus Koblenz, die selbst DPA-Artikel in ihrem Angebot online nur unfrei anbietet. Lindners zuvor geäußerten Wunsch nach einer "Neuformulierung" des 12.1., die "die Medien aus der Ecke des Verdachts rausholt, Informationen aus politischen Gründen verschweigen zu wollen", lässt sich wiederum der Sächsischen SZ entnehmen.

Kurzum: Es gibt viele gute Argumente für wie gegen die Presserats-Entscheidung. Wer sie in einem Beitrag zu verbinden und das in rund 90 Sekunden auch noch in dem Brustton der Überzeugung zu performen weiß, den "Tagesthemen"-Kommentatoren zuallererst beherrschen müssen: "Tagesschau"-Chefredakteur Kai Gniffke. Am Anfang (Sendung von gestern abend, bei Min. 14.50) begrüßt er die Presserats-Entscheidung, am Ende findet er, dass sie der "Realität sozialer Medien" nicht entspricht.

Offenkundig hat der Presserat nicht zuletzt die Gunst der Stunde ("Beschwerderekord beim Presserat/ "2.358 Beschwerden hat der Presserat im Jahr 2015 erhalten, so viele wie noch nie zuvor", steht gerade auf seiner Meldungsseite oben) nutzen wollen. Den angekündigten "Leitfaden zur Auslegung der Regel" sollen weitere "Hilfestellungen für Redaktionen" wie etwa "ein Seminarangebot" (wie die andere SZ, die Süddeutsche, meldet) ergänzen. Solche Seminare könnten ähnlich gefragt sein wie die Sitzung gestern und die durchaus ausbaufähige Stellung des Presserats stärken.

Interessant ist außerdem, wer lieber keine Aufmerksamkeit auf den Presserat lenkt und das Thema (obwohl seine Chefredakteurin sich dazu geäußert hat und natürlich viel beachtet wurde) nicht erwähnt: die Bild-Zeitung.

[+++] Falls Sie sich selbst eine Meinung bilden (oder bestätigen) möchten: Tagesaktuell Gelegenheit bietet eine Folge der Kölner Silvester-Ereignisse, deren Medienecho die Diskussion ausgelöst hatte. Am Mittwoch wurden zwei verdächtige Männer festgenommen. Die Meldung darüber ging via Agenturen rund und wurde unterschiedlich aufbereitet.

Dass "die Polizei ... im Fall der Silvesterübergriffe in Köln zwei Männer im Alter von 26 und 31 Jahren festgenommen" hat, berichtete das Online-Leitmedium Spiegel Online. Bemerkenswert ist, dass die Meldung nicht bebildert wurde (bzw. nur mit kleinen Anzeigenfotos, darunter des Herren, der immer überall den "Euro-Tod 2016" prophezeit ...). Die Rheinische Post, auf die SPON sich berief, hielt es ähnlich und nannte keine Herkunft, zeigt dazu aber die polizeilich veröffentlichten Fahndungsfotos - die die nordafrikanische Herkunft der Männer nahelegen. Und dass der in Kerpen festgenommene Mann "Algerier" ist, meldet der Kölner Stadtanzeiger, der bei der Berichterstattung über die Silvesterereignisse ja ganz gute Figur gemacht hatte.

Offensichtlich teilt das keinesfalls boulevardferne SPON aus Gründen seiner Auslegung des 12.1, seiner politischen Haltung wegen also, nicht mit, was anderswo ohne Weiteres steht. Ob so etwas auf Dauer den Klick-Erfolg verspricht, den auch SPON braucht, scheint zweifelhaft - zumal, wenn künftig manche Medien immer die Nationalität nennen sollten. Doch wenn sich das große Medienangebot, dessen Homogenität häufig beklagt wird, weiter ausdifferenziert, und das so transparent, wie es die bereits vielstimmig kreuz und quer durchs Land geführte 12.1-Diskussion andeutet, könnte das tatsächlich ein Mittel sein, die Bedeutung der Medien zu bewahren.

Was auch immer der Presserat noch hätte formulieren können, von der Prüfung der jeweiligen Umstände im Konkurrenzdruck des Echtzeit-Alltags hätte es Journalisten ja nicht entbinden können.

[+++] Ein Wort, das man besser vermeiden sollte, wenn einem ein anderes einfällt (und man nicht gerade vergangene Blitzkriege beschreibt oder halt Fußballreporter ist), lautet  "Durchmarsch".

Wo es jedoch prominent auftaucht: ganz am Anfang der Preisträger-Pressemitteilung des Grimme-Instituts.

Der "erstbeste Fernsehpreis" des Jahres wurde ja schon im Januar verliehen. Der einstweilen wichtigere wird am 8. April in Marl vergeben. An wen, wurde gestern bekannt gegeben. Wichtigstes Merkmal der diesjährigen Preise laut Institutsdirektorin Frauke Gerlach ist der "Durchmarsch der Serie", der insbesondere ins Auge springt, wenn man auf die sog. Königsdisziplin des deutschen Fernsehens achtet, den 90-minütigen Fernsehfilm.

"So wird im Wettbewerb Fiktion in diesem Jahr nur ein einziger Film ausgezeichnet: 'Patong Girl', eine laut Jury 'kitsch- und klischeefreie Liebesgeschichte' von der Hanfgarn & Ufer Filmproduktion in Koproduktion mit dem Kleinen Fernsehspiel des ZDF. Dafür finden sich aber gleich drei Serien unter den Preisträgern" (dwdl.de).

Heißt:

"Der Sieg der Serie bei Grimme 2016 geht einher mit der Niederlage des Einzelstücks, in anderen Jahren die Königsdisziplin bei Grimme. Nur der ZDF-Film „Patong Girl“ um das Thema 'Transsexualität' schafft den Preissprung, aber kein 20-Uhr-15-Film der ARD am Mittwoch, kein Fernsehfilm der Woche im Zweiten am Montag – und kein 'Tatort'?" (Joachim Huber im Tagesspiegel, der dann gleich einen "Tatort" nennt, den er gerne ausgezeichnet gesehen hätte).

Falls Sie täglich einen 90-Minüter gucken, Ihnen aber ausgerechnet dieses "Patong Girl" entgangen sein sollte: "Am Montag, 28. Dezember, 00.05 Uhr" (ZDF) lief es.

Auch wenn man nicht auf Jan Böhmermanns (oder war's Yanis Varoufakis'?) "Stinke-" (SPON) bzw. "Goldfinger" (SZ) abhebt, gibt es also für Grimme-Verhältnisse tatsächlich eine ziemliche Zäsur bei den Grimmepreisen. Volker Herres, der Programmdirektor der ARD, die dieses Jahr über 156 Fernsehfilme, aber kaum mehr als eine neue Serie ausstrahlen wird, muss sich für kommende Qualität-und-Quote-Reden einiges einfallen lassen. Zum Glück liefert faz.net ("Der Grimme-Preis zeigt sich auf der Höhe der Zeit: So sind unter den diesjährigen Preisträgern einige ambitionierte Serien. Und die laufen nicht bei ARD und ZDF") eine kleine Steilvorlage, schließlich lief ein Drittel der prämierten Serien ("Weissensee" ) doch in der ARD.

Gleich noch so eine kraftvolle Frauke-Gerlach-Formulierung (Ließe sich der Anglizismus Bingewatching mit Durchmarschgucken eindeutschen?) lautet:

"Wir sehen hier die Renaissance eines Formats – und dass sich Ausdauer und Risikofreude lohnen".

Ist die uralte Fernsehform Fernsehserie einfach ein "Format"? Jedenfalls stimmt das mit der Renaissance, wie im großen Aufmacher-Interview der SZ-Medienseite die Nachfolger des in der Hierachie nach oben gerückten Nico Hofmann bei der Firma Ufa Fiction bestätigen.

Obwohl die beiden Produzenten Jörg Winger und Benjamin Benedict natürlich eng am Nico-Hofmann-Sound ("Am Ende entscheidet die erzählerische Qualität ...") bleiben, ist das online unfrei verfügbare Interview auch unter Metaebenen-Gesichtspunkten (Benedict: "Wenn man die Anzahl der produzierten Serienstunden mit der Freizeit eines Menschen abgleicht, ist völlig klar, dass das niemand bewältigen kann ...") lesenswert. Und Winger, der für seine RTL-Produktion "Deutschland 83" auch einen Grimmepreis bekommt, sagt auf eine Frage nach ersten deutschen Netflix- und Amazon-Serien, für deren Produktion die Ufa keinen Zuschlag bekam:

"Ich persönlich finde den Serienrausch großartig, aber auch so extrem, dass man den nächsten Wendepunkt erwarten kann. Ich bin mir sicher, dass wir innerhalb der nächsten fünf Jahre eine Renaissance der kürzeren Formen erleben werden."

Die Renaissancen kommen auch immer schneller, auch das gehört zum Medienwandel.


Altpapierkorb

+++ Von der türkischen Zeitung Zaman, die gerade von der brachialen Medienpolitik des türkischen Staatspräsidenten Recep Erdogan geentert wurde, war hier im Altpapier schon die Rede. Ein spannender Aspekt: Diese Zeitung hat weiterhin internationalen Ausgaben, die bislang nicht geentert wurden, schon weil europäische Gesetze so etwas nicht gestatten, und auf der alten Linie weiter machen. Die Neue Zürcher Zeitung berichtet über die in Altstetten hergestellte schweizerische Ausgabe. Und eine deutsche müsste ja auch geben. Tatsächlich, siehe hier nebenan. +++

+++ Auch das könnte spannend werden: Der Kabelnetzbetreiber Unitymedia NRW, der zum weltweit elfgrößten Medienkonzern Liberty gehört, will ein 25.000-Euro-Bußgeld nicht bezahlen, das die nordrhein-westfälischen Medienwächter verhängt haben. Es geht darum, dass Kunden im analogen Kabelnetz "die öffentlich-rechtlichen Programme Kinderkanal (Kika) und Arte sowie Phoenix und 3sat nur noch zeitpartagiert auf jeweils einem Kanal" zu sehen bekommen. Und darum, dass die Kabel-Konzerne weiterhin Geld von ARD und ZDF bekommen wollen (medienkorrespondenz.de). +++

+++ Die FAZ-Medienseite stellt heute mal keine US-amerikanische Serie vor, aber das US-Elefantenrunden-Prinzip als Vorbild hin ("Wir brauchen endlich feste Regeln für die Wahldebatten im Fernsehen. Amerika macht es uns vor"). +++ Die Serie "Der Mann an ihrer Seite" auf Arte, die Michael Hanfeld vorstellt (und die SZ auch), ist eine englische. +++

+++ Eine im deutschen Pay-TV zirkulierende US-amerikanische Doku stellt Korrespondent Konrad Ege bei epd medien vor: "Bill Cosby - Frauen brechen ihr Schweigen". +++

+++ "Man begibt sich voll und ganz in die Hände von Facebook, bezieht ein Zimmer auf dem Todesstern", aber Karsten Lohmeyer (lousypennies.de) will es tun. Da geht's um "Instant Articles". +++

+++ Deutsche Facebook-Justiz I: "Der Amtsrichter zog einen Vergleich des Forums mit der Reichweite einer Lokalzeitung. Insofern sei auch eine geschlossene Gruppe bei Facebook geeignet, den Tatbestand der Volksverhetzung zu erfüllen", berichtet die SZ aus Bayern. +++ Deutsche Facebook-Justiz II: Eine der als netzpolitischer Akteur wichtigsten Institutionen, eine Verbraucherzentrale, hat vorm Landgericht Düsseldorf ein Urteil zu "Gefällt mir"-Buttons auf Internetseiten anderer Unternehmen erstritten. Unternehmen mit solchen Buttons "müssen die Nutzer ihrer Seiten darüber aufklären, was mit den Daten geschieht, die über diesen Button generiert werden" (wdr.de). +++

+++ Radio Bremen steht selten im Blickpunkt, weil es außer einem oder zwei "Tatorten" im Jahr auch kaum etwas Überregionales herstellt. Aber das geplante neue Radio-Bremen-Gesetz erhält Aufmerksamkeit. Einerseits, weil neu im Rundfunkrat u.a. die in deutschen Debatten selten beachtete Religionsgemeinschaft der Aleviten im Rundfunkrat vertreten sein dürfte (Tagesspiegel). Andererseits, weil "die rot-grüne Regierung ... mit ihrer Gesetzesnovelle" auch erreichen will, "dass im neunköpfigen Verwaltungsrat von Radio Bremen demnächst sechs Experten vertreten sind", und das erscheint der Opposition falsch (MK noch mal). +++

+++ Und wer jetzt noch Zeit hat: Hier gäbe es als PDF den 117-seitigen Bericht  "Die finanzielle Situation des Bayerischen Rundfunks" vom Bayerischen Obersten Rechnungshof, der auch für allerhand Aufsehen sorgte und noch sorgen wird (und zum Beispiel, wie Heiko Hilker es tat, ermöglicht, Bundesliga-"Sportschau"-Sendeminuten-Preise mit der Funkhaus Europa-Einsparplanung des WDR zu verrechnen. +++

Neues Altpapier gibt's wieder am Freitag.