Betroffenheit und Nähe

Betroffenheit und Nähe
Wie gut war die Krisenberichterstattung der ARD? Wie hat das französische Fernsehen seinen Job gemacht? Und sollte man Opferzahlen gegeneinander ausspielen? Auch Tage nach den Anschlägen von Paris gibt es mehr Fragen als Antworten. Versuchen wir wenigstens, diese zu ordnen. Und schauen nebenher noch auf die Medienangebote, die auch in Krisenzeiten starten.

Es gibt dieser Tage Menschen, die lieber nicht bei Facebook oder Twitter reinschauen. Und das, obwohl man dort gerade so bequem sein Mitgefühl mit den Anschlägen von Paris bekunden kann. Einfach das Profilbild durch den Peacezeichen-Eiffelturm ersetzen oder durch Facebooks Trikolore-Filter jagen. Fertig.

„Das Profilbild in die französischen Nationalfarben zu tauchen ist eine vereinfachte Solidaritätsbekundung, bei der man sich nicht mit größeren Zusammenhängen befassen muss“,

meint dazu Lea Fauth in der taz.

Sie tut damit sicher manchem Unrecht, der in Schock und Hilflosigkeit einfach etwas tun wollte, und sei es nur einen Akt der Solidarität von Mark Zuckerbergs Gnaden. Aber der Grund, sich aus den vermeintlich sozialen Netzwerken und den dort stattfindenden Diskussionen rauszuhalten, ist natürlich ein anderer: Es ist dort einfach zu laut. Dabei auch nur halbwegs zu verstehen, was da am Freitagabend passiert ist, ist kaum möglich.

Nun ist heute schon Dienstag und dies eine Medienkolumne, die in eben solchen Situationen den Überblick behalten soll. Versuchen wir also mal, zumindest zwei Debatten zu unterscheiden.

1. Wie gut funktioniert die Berichterstattung der öffentlich-rechtlichen Sender im Krisenfall?

„Wirklich schockierend waren neben den stetig steigenden Opferzahlen in den Meldungen die Reaktionen, die auf Twitter formuliert wurden. Es entstand eine Erwartungshaltung gegenüber der übertragenden ARD und auch den Medien insgesamt, die schlicht nicht mehr realistisch ist. Mag sein, dass ein Teil der Kritiker grundsätzlich alles schlecht findet, was öffentlich-rechtliche Sender tun, weil er sich als Zwangsgebührenzahler empfindet. Aber so viele absurde Forderungen habe ich noch nie gelesen“,

schrieb schon am Samstag (der auch für die ARD arbeitende, aber trotz dieser vermeintliche Befangenheit nicht Unrecht habende) Udo Stiehl in sein Blog.

Einige der Antworten auf diese Vorwürfe waren schon gestern hier im Altpapierkorb verlinkt. Beim Mainzer Mediendisput gestern Abend verteidigte auch ARD-aktuell-Chef Kai Gniffke die Berichterstattung. Um nur einen Aspekt aus der zehnminütigen Stellungnahme herauszugreifen, die Jörg Wagner dokumentiert hat:

„Es hat eine sehr intensive Diskussion darüber geben, ob es in der ersten Stunde richtig war, im Fußballstadion zu bleiben, dort wo alles begann. Ich habe das nachhaltig am Freitagabend unterstützt, denn nirgendwo war, meiner Meinung nach, in diesen Moment authentischer der schockierte Zustand dieser Stadt zu transportieren, als in diesem Stadion. (...) Wir haben dann wieder ins Stadion zurückgegeben, um auch der Korrespondentin Zeit zu geben. Wenn wir die nämlich dann permanent auf den Sender gehabt hätten, was wäre passiert? Die hätte immer wieder dasselbe erzählt und hätte nicht eine Minute zur Recherche gehabt.

Die Sportreporter im Stadion zu Krisenreportern zu machen, diese Entscheidung hält Gniffke also weiterhin für richtig. Die andere Frage ist jedoch, ob diese ihren Job gut gemacht haben? Dazu argumentiert Michael Hanfeld heute auf der FAZ-Medienseite:

„Die Detonationen der Bomben waren im Stadion zu hören, in dem es, nach dem Willen der Attentäter, unzählige Opfer hätte geben sollen. Will da wirklich noch jemand ernsthaft Haare spalten, Sätze von Tom Bartels, Matthias Opdenhövel, Mehmet Scholl und Boris Büchler wenden, denen der Schrecken ins Gesicht geschrieben stand, die keine Klarheit von den Dingen haben und nichts anderes tun konnten, als mit dem Fußball irgendwie weiterzumachen, bis die Nachrichtenredaktion übernahm? (...) Die Sportreporter aber wurden in diesem Augenblick zu Betroffenen, zu Zeugen und zu Opfern eines Geschehens, zu dem sie gar keine Distanz haben konnten.“

Betroffene sind keine guten Journalisten. Einerseits. Andererseits hätte die ARD auch schlecht eine aktuelle Folge „Rote Rosen“ einspielen können, um sich Zeit für Recherche zu verschaffen. Dieses Dilemma werden auch folgende Twitter-Diskussionen nicht auflösen können.

2. Warum haben die Anschläge in Paris so viel Aufmerksamkeit absorbiert?

Die Ereignisse von Paris waren nicht die einzige Terrorattacke dieser Woche. Bereits am Donnerstag hatten in der libanesischen Hauptstadt Beirut zwei Selbstmordattentäter 40 Menschen in den Tod gerissen.

„Als meine Leute am 12. November auf den Straßen Beiruts starben, standen die Führer der Welt nicht auf und verurteilten das. Es gab keine Statements, in denen Sympathie mit dem libanesischen Volk ausgedrückt wurde (Anm. d. Red: UN und Barack Obamas Nationaler Sicherheitsrat äußerten sich allerdings sehr wohl). Es gab keine weltweite Empörung darüber, dass unschuldige Menschen, deren einziger Fehler war, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein, nie so etwas passieren sollte oder dass ihre Familien niemals auf solche Weise zerstört werden sollten. Religion oder politischer Hintergrund eines Menschen sollten nicht darüber entscheiden, ob man erschrocken ist, dass sein Körper auf dem Zementboden verbrennt.“

So schreibt es Elie Fares, Arzt aus Beirut, in seinem Blog (die deutsche Übersetzung stammt von sueddeutsche.de).

In der New York Times findet sich ein Artikel, der diesen Denkansatz noch weiter spinnt:

„The compassion gap is even more evident when it comes to the situation in Syria itself, where death tolls comparable to the 129 so far in the Paris attacks are far from rare and, during the worst periods, were virtually daily occurrences. ,Imagine if what happened in Paris last night would happen there on a daily basis for five years,’ said Nour Kabbach, who fled the heavy bombardment of her home city of Aleppo, Syria, several years ago and now works in humanitarian aid in Beirut.“

Und bei sueddeutsche.de stellen Angela Gruber und Hakan Tanriverdi dieselbe Frage vor dem Hintergrund des Facebook-Angebots namens Safety Check:

„Die Anschläge in Paris waren der erste Fall, bei dem das Feature für eine menschengemachte Notfallsituation freigeschaltet wurde - ein ,human disaster’, wie Zuckerberg schreibt. Mit dieser Entscheidung begibt sich Facebook in eine moralische Grauzone. Denn jetzt stellt sich die Frage: Für welches Ereignis wird das Feature freigeschaltet und welcher Anschlag ist noch nicht schlimm genug, um den Betroffenen die Funktion bereitzustellen? Steht dem Unternehmen eine Bewertung von Massakern zu? Und: Misst das Unternehmen Menschenleben mit zweierlei Maß?“

Für Journalisten ist diese unterschiedliche Wahrnehmung Alltag. „100 Tote in Indien. 10 Tote in München. Ein Toter auf dem Kudamm“, so lernt man die Nachrichtenwerte einzuschätzen, wenn man eine Journalismus-Vorlesung an der Berliner FU besucht. In München lautet der Spruch sicher anders, was genau das Problem umschreibt.

Nähe ist wichtig. Auch in einer globalisierten Welt™. Mit allen, die das anders sehen, rechnet Deniz Yücel in der Welt ab:

„Doch den Leuten, die auf Paris mit Beirut antworten, geht es nicht um Anteilnahme. Die 43 ermordeten Menschen im schiitischen Stadtteil Brudsch al-Baradscheh sind ihnen gleich. Es ist bloß moralisierende Wichtigtuerei; es geht um nichts als den eigenen Distinktionsgewinn. (...) Wie viele dieser Leute, die sich über eine angebliche Doppelmoral beschweren, haben in den Stunden nach Beirut über die zu knappe Berichterstattung kritisiert? Wie viele haben, und sei es nur durch ein Facebook-Posting, ihre Anteilnahme bekundet? Wer wirklich Empathie für Beirut oder Ankara empfindet, unterlässt diese schäbigen Vergleiche. Und wer sie anstellt, hat etwas anderes im Sinn. Das ist der Unterschied zwischen moralischem Empfinden und Moralisieren.“

Eine ganz andere Argumentation nutzt hingegen Erin Cunningham, Korrespondentin der Washington Post. Sie antwortet den Vorwürfen auf ihrer Facebookseite wie folgt:

„I guess it's easier and much more gratifying to denounce the ,Western media’ (which is actually made up of thousands of indispensable and skilled reporters from around the world, including the Middle East) than it is to actually read and post a news article about the issue you are so outraged the media is allegedly ignoring. (...) There are many (SO many) critical things you can say about the media. (...) But don't say journalists don't do cover it, because they do - for local, regional, and Western audiences - every single day. They get hurt doing it, they die doing it, sometimes they don't get paid doing it - and for reasons I'm not sure you could even fathom to capture in one viral little meme.

If you think journalists aren't doing enough of it, or aren't covering it well enough, then maybe try buying a subscription to a newspaper or magazine (the ones that are left), or paying for online content. Maybe give news organizations and their reporters the resources they need to shed light on the stories you think need to be told.“

Es fühlt sich ein ziemlich schlecht an, in solchen Situationen über Geld zu sprechen. Aber natürlich ist es richtig, dass Ereignisse wie dieses zeigen, wie wichtig unabhängiger, seriöser Journalismus ist. Die meisten, die in den vergangenen Tagen die Netzwerke mieden, suchten dennoch im Netz, auf Papier und am Fernseher nach Informationen. Und wurden, bei aller Kritik, auch fündig.

Dass die Redaktionen auf Schreckenstaten wie die von Paris nicht perfekt reagieren, weil sie darauf nicht vorbereitet sind, ist ein Privileg, das ich lieber nicht eintauschen möchte. 


Altpapierkorb

+++ Auch in der Krise starten neue Medienangebote: Seit gestern ist der deutsche Business Insider aus dem Hause Springer online. „Was beim Vergleich der deutschen und der amerikanischen Ausgabe des ,Business Insider' sofort auffällt: Die deutsche Version ist im Vergleich zum großen Vorbild aus New York verblüffend simpel und inaktuell“, meint dazu Nikolaus Piper auf der SZ-Medienseite. Bei Horizont urteilt David Hein: „Leider macht das Portal nur wenig aus der nachrichtentechnischen Steilvorlage und setzt lieber auf einen für hiesige Nutzer ungewohnten Mix aus lustigen Listen und bunten Geschichten aus der Welt der Wirtschaft.“ +++

+++ Ebenfalls neu: Burdas eigenes Zettbentobyou namens BNow. Die Pressemitteilung erklärt: „Kern des Angebots ist die BNow!-App, auf der unterhaltende Clips zu unterschiedlichen Themen präsentiert werden. BNow! richtet sich an die Altersgruppe 18-35 und orientiert sich am extrem mobilen Nutzungsverhalten dieser User. Die thematische Vielfalt der Clips reicht von Fun, Entertainment/Promis über Sport bis hin zu Autos oder Technik.“ DWDLs Alexander Krei meint: „Thematisch kommt das Angebot zunächst recht banal daher: Aufmacher des Nachmittags war ein Handy-Video von Ex-Dschungelcamperin Sarah Knappik, in dem sie ankündigte, künftig regelmäßig aus ihrem Leben berichten zu wollen. Hinzu kamen einige mehr oder weniger unterhaltsame Clips aus dem Netz.“ +++

+++ Für die Medienseite der FAZ hat sich Jürg Altwegg angeschaut, wie die französischen Medien die Anschläge von Paris begleitet haben, und er erkennt große Lerneffekte im Vergleich zum Januar, als die Jagd auf die Attentäter auf Charlie Hebdo live übertragen wurde: „Kein Sender hat den Sturm der Polizei auf den Konzertsaal Bataclan live übertragen. Es gab auch danach keine Bilder – obwohl alle Redaktionen ihre Reporter und Kameraleute vor Ort hatten. ,Für uns war ganz klar, das zeigen wir nicht’, erklärte Guillaume Zeller, der Senderchef von i-télé. Catherine Nayl, Nachrichtenchefin bei tf1 und LCI, sagte: ,Wir haben umgehend Aufnahmeteams ins Stade de France und zum Bataclan geschickt. Seit einem Jahr, seit ‚Charlie‘, seit dem verhinderten Attentat im Zug zwischen Brüssel und Paris haben unsere Journalisten eine große Reife im Umgang mit tragischen Situationen erworben. In der Regie waren wir auf Mäßigung und Präzision bedacht.’“ +++

+++ Außerdem finden sich auf der Seite Rezensionen von „Ripper Street“ (heute Abend bei ZDFneo) und „Matterns Revier“ (ab heute im Ersten), dem sich auch die SZ widmet. +++

+++ Die „Tagesschau in 100 Sekunden“ gibt es jetzt auch auf Englisch und Arabisch. +++

+++ Die gestern hier schon im Korb angesprochene Kritik des DJV an Steffen Seiberts Facebook-Strategie hat die Spötter nach sich gezogen: „Es ist ein Skandal, dass den Medien verwehrt wird, was Regierungssprecher Steffen Seibert auf Facebook tut. Es wird Zeit, das Facebook-Verbot für Journalisten aufzuheben! Oder hab ich da was falsch verstanden?“, knüwert Thomas in seinem Blog. Ralf Heimann versucht sich derweil an einer Übersetzung der ursprünglichen DJV-Meldung: „Ein Kollege aus Berlin hat mir heute Morgen ein Fax geschickt. Er hat ziemlichen Ärger mit seinem Redaktionsleiter. Seit Wochen schon. Die Konkurrenz gräbt die dollsten Merkel-Geschichten aus, aber er hat keine Ahnung, woher sie die haben. Per Pressemitteilung kommen sie jedenfalls nicht rein, und das bedeutet wohl, dass Steffen Seibert sie irgendwo anders streuen muss. Der Kollege in Berlin vermutet, das könnte irgendwas mit Facebook zu tun haben.“ +++

+++ Im Lokaljournalismus wird mal wieder was für Demokratie und Unabhängigkeit getan. Was erfahrene Leser von Pressemitteilungen, die derartige Schlüsselwörter enthalten, mittlerweile im Schlaf übersetzen können mit: Es werden Leute entlassen. Diesmal trifft es 18 Kollegen von Madsacks Ostsee-Zeitung, schreibt Bülend Ürük bei kress.de. +++

+++ Das Internet bekommt eine neue Programmzeitschrift, bei der nicht lausige Logarithmen oder Freunde das Empfehlen übernehmen, sondern gute, alte Experten. Das ganze heißt Pigd, startet im Laufe dieser Woche und Dirk von Gehlen erklärt in seinem Blog, wie es funktioniert: „[Die Macher] bitten Experten, Ordnung und Übersicht zu schaffen. Dafür zahlen Unterstützer drei Euro pro Monat – und bekommen die Möglichkeit, exklusiv zu kommentieren, zu bewerten und selber in den Community-Kanälen zu piqen, also Inhalte zu filtern.“ +++

+++ Am Donnerstag kommt ein Sonderheft des Nachrichtenmagazins Der Spiegel mit dem Beinamen „Biographie“ an den Kiosk. „,Spiegel Biografie‘ könnte der Auftakt einer neuen Reihe werden, wir glauben an das Konzept und versprechen uns davon einiges. Zunächst erscheint nur dieses eine Heft, und wir sind gespannt, was wir daraus für die Zukunft lernen“, zitiert Horizont Spiegel-Chefredakteur Klaus Brinkbäumer. +++

+++ Wie die nun in eine zweite Staffel gehenden „Vice Reports“ bei RTL II funktionieren, erklärt Alexander Becker bei Meedia. +++

In diesen Tagen ist das Altpapier 15 Jahre alt geworden. Um das zu feiern, werden in den kommenden Tagen zehn Gastautoren die Medienanalyse übernehmen. Morgen geht es los.