Der Trend geht zurück zum Mittelalter

Der Trend geht zurück zum Mittelalter
... ließe sich zumindest sagen, wenn Pranger, Galgen und Guillotine nicht durchaus auch zur Neuzeit gehörten. Der kleine Akif noch mal groß in den Schlagzeilen, sein großer, ehemaliger Verlag, sein kleinerer neuer, die Grundrechte der Flachzangen und Vollpfosten. Gewalt gegen Journalisten aus unterschiedlichen Richtungen, gefragte Medienanwälte, Online-Diskurse als Werberahmenprogramm.

Der vielleicht beste Textbeitrag zu den natürlich ungeheuer textbeitragreichen Diskursen rund um das nun einjährige Phänomen Pegida kursiert zurzeit nur als Foto. Also als Screenshot von einer Webseite, die am Mittwochmorgen, so wie seit Dienstagnachmittag, nicht zu erreichen ist, von der Webseite der-kleine-akif.de. Unter diesem neckischen Namen publizierte bislang der Autor Akif Pirincci Online-Texte, zumindest die, die zu lang für Twitter sind. Dann aber schrieb "Dein Webmaster Torsten" ihm einen Offenen Brief. Um einen sehr guten Textbeitrag handelt es sich, weil Torsten seinen Adressaten ernst nimmt und dennoch sehr grundsätzlich und persönlich wird.

"Und wenn wir von der Scham sprechen, die wir Deutsche, vielleicht wie kein anderes Volk auf der Welt, empfinden, und sei es nur unbewusst, dann lass dir von mir sagen, worauf sie gründet.

Darauf, nicht rechtzeitig aufgestanden zu sein und den alles humanistische verleugnenden Elementen in unserer Gesellschaft die Stirn geboten zu haben.

Darauf, weggeschaut zu haben, als nach den Kommunisten und Sozialdemokraten auch die Juden verschwanden.

Darauf, die Welt in einen unvorstellbaren Vernichtungskrieg geführt zu haben und letzten Endes ... ",

und lesen Sie am besten noch weiter.

Überraschender und aufschlussreicher als zweifellos mit viel Reporter-Einsatz entstandene Reportagen über Pegida-Demonstrationen, wie heute nur zum Beispiel wieder eine auf S. 3 der Süddeutschen steht ("Bald wird man müde, das alles mitzuschreiben, zu oft wiederholt sich in den Gesprächen ein struktureller Dreisatz. Erstens: Die anderen finden uns alle doof, aber das ist mir egal. Zweitens: Eigentlich sind es die anderen, die doof sind. Drittens: Wir hier, wir versteh’n uns, was? ..." Irgendwie kein guter Abend, den Vorzügen von Meinungs- und Demonstrationsfreiheit in der Praxis nachzuspüren ...") ist der Offene Brief. Schließlich haben solche Ansätze, Aussagen von Demonstranten zu bekommen, die meist aber nichts sagen wollen, weil sie vermutlich antizipieren, dass sie doof rüberkommen werden, sich auch nicht selten wiederholt, seit es Pegida gibt.

Dieser Torsten, den Johannes Boie im zweiten Artikel auf  der heutigen SZ-Seite 3 würdigt (unfrei online), ist jetzt jedenfalls nicht mehr Pirinccis Webmaster. Vielleicht kann Pirincci den Text nicht von der-kleine-akif.de entfernen und lässt erst mal seine ganze Webseite abgeschaltet, um diesen Text dort nicht zu stehen zu lassen, vielleicht ist Webseite einfach überlastet, nachdem der Autor noch mal groß durch die Medien ging.

Dazu bei trugen "die Verlage Diana, Goldmann und Heyne" alias "die Verlagsgruppe Random House" bzw. Bertelsmann, das sich gestern auch öffentlich "mit großer Bestürzung und Unverständnis" von seinem Autor Pirinçci distanzierte und seine "bereits vor Jahren veröffentlichten, ausschließlich belletristischen Bücher" nun nicht mehr verkauft.

Pirinccis unsäglichste Äußerung haben Sie natürlich so oder so mitbekommen. Zwar ist es zum Glück weitestgehend Konsens in Deutschland, dass es völlig gleichgültig ist, aus welchem Kontext ein Satz wie "Die KZs sind ja leider derzeit außer Betrieb" stammt, sondern dass der Satz in jedem Kontext unsäglich ist. Aber Kontext zu kennen schadet nie. Am besten arbeitet ihn Christian Rath in der TAZ ihn heraus:

"Die Äußerung ... bezog sich einerseits auf einen CDU-Politiker, der Asylgegnern die Auswanderung aus Deutschland nahelegte, andererseits war in seinem nächsten Satz aber von der 'Macht' die Rede. Sein KZ-Hinweis betraf also wohl alle regierenden Politiker und damit 'Teile der Bevölkerung'".

Zurück zu für Bertelsmann. Was was wohl gerade noch auf den randomhouse.de-Seiten stand, hat Kai-Hinrich Renner (handelsblatt.com) zeitnah nachgeschaut:

"Es ist wohl nur eine Frage der Zeit, wann das Zitat der Zeitschrift 'Allegra' verschwindet: 'Akif Pirincci ist so etwas wie der deutsche Stephen King', steht noch auf der Website des Heyne Verlags ..."

Jetzt steht es nicht mehr da (und wer überlegt, was noch mal Allegra war: eine inzwischen sehr ehemalige Zeitschrift des Springer-Verlags, die das Zitat also wahrscheinlich zu einem Zeitpunkt schöpfte, an dem Pirincci noch nicht abzudrehen begonnen hatte).

Die naheliegende Frage, wo Pirinccis aktuelle und, worauf Bertelsmann Wert legt: nicht-belletristische Bücher denn erscheinen, wird auch oft beantwortet. In der "Edition Sonderwege" des Verlags namens Manuscriptum, dessen Name und erst recht Logo nicht von ungefähr an einen anderen bekannte Markennamen erinnert. Es ist das

"Haus des früheren Manufactum-Eigners Thomas Hoof. Dort befindet sich der Skandal-Autor in durchaus bürgerlicher Gesellschaft: Zu den Autoren von Hoofs Label 'Edition Sonderweg' gehören auch Volker Zastrow, Politikchef der 'Frankfurter Allgemeinen Zeitung', CDU-Politiker Jörg Schönbohm und der nationalkonservative 'FAZ'-Feuilletonist und AfD-Mitgründer Konrad Adam",

berichtet etwa das scharfer Kritik am Werben und Verkaufen unverdächtige wuv.de. Um aber fair zu bleiben:

"Der Verlag hat eigenen Angaben zufolge die Zusammenarbeit mit dem Autor [Pirincci] allerdings schon vor einer Weile beendet, kündigt das Buch aber trotzdem groß auf seiner Homepage an. 'Unsere Wege haben sich schon vor dem gestrigen Vorfall getrennt', sagte der Verlagsleiter Andreas Lombard der Deutschen Presse-Agentur in Berlin. 'Und seit gestern bedauern wir diese Trennung noch weniger.'"

Dieses Zitat stammt aus dem instruktiven, sozusagen, gestrigen Liveticker des Neuen Deutschlands. Dort ist auch, wie in vielen anderen Medien, dann von Angriffen auf Journalisten am Montagabend die Rede. Drei zählten die Reporter ohne Grenzen: Erstens wurde der Deutsche-Welle-Fernsehjournalist Jaafar Abdul Karim, der den Vorfall in seinem Spiegel Online-Videoblog ("#3: "Sie lügen nur, hauen Sie ab") selbst schilderte, geschlagen. Zweitens wurde ein "Kameramann der russischen Videoagentur Ruptly angegriffen, als er unter Pegida-Anhängern filmte", was überraschender scheinen mag, da die staatlichen russischen Auslandsmedien nicht als Pegida-kritisch gelten. Drittens wurde "ein Deutschlandradio-Mitarbeiter ... vor einem Übertragungswagen des Senders von einem betrunkenen Gegendemonstranten angegriffen und leicht verletzt", berichten die ROG, jeweils mit Link.

"Damit verabschiede sich 'Pegida' eindeutig aus dem demokratischen Diskurs in Deutschland", zitiert der Tagesspiegel den Deutsche Welle-Intendanten Peter Limbourg, natürlich wegen des erstgenannten Vorfalls.

[+++] Andererseits, diesen Diskurs zu idealisieren, besteht schon lange kein Anlass. Bzw.: Ein gesamtgesellschaftlicher Diskurs gelingt offenbar gar nicht mehr.

Gelegentlich Vertreter Pegida-naher Milieus in Talkshows einzuladen, nützt alleine nichts. "Genau hinhören und detailliert reagieren ... wäre richtig" gewesen, analysierte zeit.de die Einladung Björn Höckes in Günther Jauchs jüngste Talkshow, die auch der Tagesspiegel nach-analysierte (und sich das "komplette Moderatorenversagen" dabei von der Medienwissenschaftlerin Sabine Schiffer vom Institut für Medienverantwortung bescheinigen lässt. Wie hilfreich genau das nun ist, darüber ließe sich vielleicht auch streiten, aber ...)

Das, was das Diskurse-Antreiben, trotz allem leider wichtigste privatwirtschaftliche Medium Deutschland, die Bild-Zeitung, entblödet sich weiterhin (siehe Altpapier gestern) nicht, inmitten des üblichen Bullshit-Bundles (gestern: "Das ist die Mutter, die ihren Sohn vor die U-Bahn stieß", "Deutschlands niedlichste Rockergang!", "Ist Bayern noch sexy genug für Guardiola?") "die Hetzer an den Pranger", ja, den "Pranger der Schande", wie es in der URL heißt, zu stellen, so "als wäre ein medialer Pranger zielführender als ein symbolischer Galgen" (wiederum bildblog.de).

Der Trend geht zurück zum Mittelalter, ließe sich sagen, wenn Pranger, Galgen und erst recht die im selben Kontext auch wichtige Guillotine nicht durchaus auch zur Neuzeit gehören würden. Umso wichtiger ist Mats Schönauers Hinweis in diesem Artikel, "dass auch besorgte Flachzangen Grundrechte haben" (den Bettina Schmieding im Deutschlandradio-Kommentar später sehr leicht zu "Auch Vollpfosten haben Grundrechte" variierte).

Indes zeigte sich die zurzeit schärfste Bild-Zeitungs-Reizfigur "stolz" auf erste Presserats-Beschwerden und vermutlich auch oder erst recht darauf, "in einen juristisch bedenklichen Bereich" zu agieren, wie wiederum der Tsp. sich vom Medienanwalt Christian Solmecke sagen ließ.

[+++] Schließlich beschäftigt gerade auch Springer Heerscharen von Anwälten, die nun auch ein "Katz-und-Maus-Spiel" (Standard) rund ums Medienmedien-Topthema Werbeblocker aufgenommen haben und, wie golem.de berichtet,

"einen Nutzer ... , der auf Youtube.com ein Video veröffentlichte, wie sich die Sperre mit Hilfe von Filterbefehlen in dem Werbeblocker Adblock Plus umgehen lässt",

abmahnen ließen. Ob die "originelle Argumentation" des Konzerns durchkommt, sei durchaus spannend, meint Golem-Redakteur Friedhelm Greis:

"Es ist offensichtlich, dass mit diesem Paragrafen vor allem der Kopierschutz von DVDs geschützt werden soll. Schließlich geht es in besagtem Paragrafen explizit um 'Laufbilder'. Ob diese Gesetzesvorschrift auch auf eine textbasierte Internetseite anzuwenden ist, dürfte fraglich sein. Falls ja, könnte Springer damit einen Hebel gefunden haben, um gegen die Adblocker selbst vorzugehen."

Auch zum Werbeblocker-Thema lassen sich unterschiedliche Meinungen vertreten (Altpapierkorb gestern). Dass Journalismus online wenig andere Möglichkeiten besitzt, sich zu finanzieren, ist dabei ein wichtiges Argument.

Und dass sogenannte soziale Netzwerken Online-Diskurse ganz ohne Interesse am Inhalt als Werberahmenprogramm nutzen, außer Facebook auch Googles Youtube (SPON mit Beispielen) gleich noch ein ganz anderes.


Altpapierkorb

+++ Facebooks anwaltliche Ankündigung "konstruktiver Mitarbeit" bei den Untersuchungen irischer Datenschützer, die nun anlaufen sollen, zitiert zeit.de. +++ Es gibt einen Pressesprecher des Bundesjustizministeriums für "Digitale Agenda", und der EPD hat ihn nach dem Stand der Gespräche mit Facebook zur Hasskommentare-Löschung befragt (evangelisch.de). +++

+++ Wie die grooße Spiegel-Titelstory rund ums womöglich nur mutmaßliche Sommermärchen vor fast einem Jahrzehnt zu einer Springer-Freunde-vs.-Springer-Gegner-Sache zu werden droht, hat Jürn Kruse für die TAZ aufgeschrieben. +++

+++ "Dramatischer denn je" ist zurzeit vieles, sind auch die neuen Zeitschriftenauflagen-Zahlen. Jens Schröder (meedia.de) analysiert: "Für TV Movie ging es um 7,3% nach unten, für den Spiegel um 5,5%, für den stern sogar um 8,6%." +++

+++ Medienmedien-Thema "ARD-Check" (siehe wiederum AP gestern): Auf der SZ-Medienseite sowie bei dwdl.de geht es um die Detailfrage, ob aus der schon öfters angekündigten, aber noch nicht in Dreh gegangenen "hochwertigen seriellen Eigenproduktion auf internationalem Niveau" namens "Babylon Berlin", einer ARD-Sky-Koproduktion, vielleicht gar nichts wird. Doch entsprechende Andeutungen waren wohl nicht so gemeint. +++ Einen Hintergrundbericht aus dem Studio mit Fokus auf dem zumindest erfolgreichen Warmupper hat die TAZ. +++ "Inszenierte Transparenz", würde publikumsrat.de (eine Initiative u.a. der oben erwähnten Sabine Schiffer) sagen. +++ Und Kommissar Siebenhaar von handelsblatt.com (wofür auch ich schreibe) spannte das Thema damit zusammen, wie "das ARD-Urgestein Bettina Reitz den Intendanten den Kopf gewaschen" hat, also am letzten Donnerstag (Altpapier) in der Zeit. +++ "Klare Worte über das öffentlich-rechtliche Fernsehen – geäußert von einer, die einzog in das System, und das System nun kritisiert, nachdem sie es gerade wieder verlassen hat", schrieb, zum Reitz-Interview, Dietrich Leder (medienkorrespondenz.de) dazu.

+++ Die schon öfters angekündigte, aber noch nicht in Dreh gegangene Nico-Hofmann-RTL-"Hitler"-Serie soll Niki Stein inszenieren, dessen Film "Öl - Die Wahrheit über den Untergang der DDR" heute abend um 22.45 Uhr die ARD zeigt. "Mit Verlaub: Eine Nummer kleiner und ein bisschen Humor hätten dieser – Achtung: Neuwort! – Schmockumentary, dieser verschmockten Scheinrecherche also, sehr viel besser getan", meint Bernd Graff in der SZ. +++ "Weil er so gut gemacht ist, bereitet der Film großes Vergnügen", würde Michael Hanfeld auf der FAZ-Medienseite sagen. +++

+++ Und um eine gemeinnützige Berliner Organisation, die "an eine Steckdose, eine Autobatterie oder eine Solarzelle" anschließbare Satellitenradiosender nach Syrien bringt, geht's auch noch auf der SZ-Medienseite. +++

Neues Altpapier gibt's wieder am Donnerstag.