Die Tagesordnung muss warten

Die Tagesordnung muss warten
Jörg Kachelmann, Kai Diekmann, 2,25 Millionen Euro und ein Gerichtstermin. Der Spiegel klingt schlimmer als jede Haltestellenansage. Sat1 bleibt verliebt in Berlin. Warum hat sich die Lepra-Gruppe aufgelöst? Das ZDF ist von der horizontalen Erzählweise besessen.

Beginnen wir mit dem Positiven: Immerhin ist es nicht Hitler. Es gab Zeiten, da schien dieser ein ganz besonderes Spiegel-Abo zu besitzen, nämlich eins auf das Titelbild. In dieser Woche ist es aber nicht er, und auch nicht Angela Merkel mit seinen Helfern (was nur so lange lustig erscheint, bis man sich daran erinnert, dass genau das Anfang des Jahres schon der Fall war), sondern Merkel alleine bzw. lediglich in Begleitung von Mutter Teresas Kopfbedeckung.

Ganz recht: Den Spiegel-Titel dieser Woche ziert Mutti Teresa Mutter Angela und wir werden jetzt hier trotzdem so tun, als sei das noch Deutschlands Top-Nachrichtenmagazin und nicht der Gnadenhof für den turi2-Hausgrafiker aus Zeiten, als man zur Bildbearbeitung noch Paint bemühte (jüngere Leser können sich hier einen Scherz mit Photoshop-Philipp hindenken).

Anlässlich der großen Festtage des Bild-Zeitungs-Bashings hat Alexander Kühn beschlossen, dieses nicht allein Fußballvereinen und ihren Fans zu überlassen, sondern einen Experten aus der Wetterbranche ins Boot zu holen: Jörg Kachelmann.

„Die Redakteure des Boulevardblatts beschimpft der 57-Jährige auf Twitter als ,Schmierlappoiden’ und ihre Arbeit als #vollpfostenjournalismus. Um ,Bild’-Chef Kai Diekmann, selbst ein eifriger Twitterer, tänzelt er herum wie die Zeichentrickmaus Jerry, wenn sie den Kater Tom reizen will. Im Cartoon trägt immer der Kater die Beulen davon, beim Fight Kachel- vs. Diekmann hingegen ist der Sieger noch nicht ausgemacht. Zumal die Schlacht nicht im Netz entschieden wird, sondern am Landgericht Köln, wo Kachelmann gegen ,Bild’ und den Verlag Axel Springer klagt.“

(Online kann man den kompletten Text für 75 Cent bei Blendle kaufen; für Sparfüchse hat der Spiegel eine Vorabmeldung herausgegeben.)

2,25 Millionen Euro hätte Kachelmann gerne als Entschädigung für Schlagzeilen wie „50 heiße Flirt-SMS! So baggerte Jörg Kachelmann Pop-Star Indira an“ oder „Hatte Jörg Kachelmann 6 Frauen gleichzeitig?“ Ende September wird ein Urteil erwartet.

„Einzigartig ist der Feldzug schon jetzt. Nicht nur, weil es sich bei der geforderten Summe um einen Rekordbetrag handelt. Sondern auch, weil noch niemand so heftig gegen Deutschlands mächtigstes Boulevardorgan aufbegehrt hat wie nun der Schweizer Jörg Kachelmann. Kachelmann sagt: ,Ich weiß, was für ein Bild viele von mir haben. Die denken: Der Kerl sitzt mit hochrotem Gesicht vor seinem Computer und hat sein Beißholz zwischen den Zähnen. Aber da ist kein Hass, auch keine Wut. Ich weigere mich einfach nur, zur Tagesordnung überzugehen.’“

Kühn hat Kachelmann in der Schweiz und seinen Anwalt Ralf Höcker in Köln besucht. Für den Text hätte aber auch eine Visite von Kachelmanns Twitter-Profil gereicht, das nur zwei Themen kennt: Die Wettervorhersage und die Machenschaften der Bild-Zeitung.

Auch wenn Kachelmann das abstreitet, kann man sich nicht vorstellen, was einen zu einer solchen Fokussierung bewegen könnte, wenn nicht Hass und Wut.

Nun erscheinen Menschen mit einem solchen Motor nicht unbedingt sonderlich sympathisch. Auf der anderen Seite wird hier erschreckend deutlich, wie Menschen reagieren, die das noch können, nachdem die Bild-Zeitung mit ihnen fertig ist.

Vorverurteilungen, Nachverurteilungen, Verbreitung von Intimitäten und Lügen. Das wirft Anwalt Höcker der Zeitung alles vor. Weder sie noch ihr Verlag wollten dazu im Spiegel Stellung nehmen, und selbst ihr sonst nie um einen Tweet verlegene Chef Kai Diekmann schweigt. Gestern war er aber auch damit beschäftigt, jedem der noch bei der Bild-Aktion „Wir helfen“ verbliebenen Fußballer einzeln zu danken sowie die Junge Freiheit zu ver- und wieder entfolgen.

„Das war ein Versehen! Passiert hoffentlich nicht wieder. Tut mir aufrichtig leid! #Entfolgt“,

vermeldete er dazu.

Woraus wir lernen: Manches ist Kai Diekmann peinlich. Im Umkehrschluss sind es aber alle Dinge, die ohne Entschuldigung bleiben, nicht.

[+++] Um zwei an dieser Stelle lose herumliegende Überleitungsmöglichkeiten aufzunehmen:

1. Wie es jemandem ergeht, der ungewollte mediale und sozialmediale Aufmerksamkeit – in ganz anderen Zusammenhängen – nicht so strategisch verarbeiten kann wie Kachelmann, hat Josef Kelnberger am Samstag auf Seite 3 der SZ am Beispiel Andreas Kümmert beschrieben. Der Sänger wollte erst Deutschland beim ESC vertreten und dann doch wieder nicht. Das hat man ihm übel genommen.

„Idiot, das Wort klingt noch heute in ihm nach, wie eine Überschrift für die rasante Karriere, die er seit jenem Abend in Hannover gemacht hat. Das schwer erziehbare Kind der Nation. Die einen warfen ihm vor, er habe billige PR betrieben, die anderen hielten ihn für einen Feigling. Was auf Facebook über ihn geschrieben wurde, hat sich bis heute eingebrannt in sein Gehirn. Von Dingen, die im Netz geschrieben stehen, kann er sich nur schwer lösen. Während des Gesprächs schaut er immer wieder auf sein Smartphone, wie in einen großen Spiegel. Natürlich war es nicht hilfreich, dass er seinen Rückzug öffentlich nie erklärt hat, stattdessen Facebook-Wüteriche als ,degenerierte Arschlöcher’ bezeichnete. ,Ich habe geblutet’, sagt er, und genau genommen ist er noch dabei, diese Blutung zu stoppen. Auch deshalb sitzt er nun hier.“

2. Wer glaubt, das Cover sei das Absurdeste, das der Spiegel in dieser Woche an den Start gebracht hat, sollte sich die Roboterstimme anhören, die – neues Feature! – manchen Text in der Spiegel-App nun auch vorliest. Als Beispiel hat man die aktuellen Titelgeschichte online gestellt. Jede Haltestellenansage in der Berliner U-Bahn ist empathischer als das geleierte „Herzdame. – Angela Merkel setzt ihr ganzes Vertrauenskapital für die Flüchtlinge ein“, das einen dort begrüßt.

Aber hey, wenn der Spiegel irgendwann eingeht, kann man nicht behaupten, dass es an fehlenden Audio-Angeboten gelegen hätte.

[+++] Andererseits wäre man ja schon zufrieden, wenn Sat1 so experimentell drauf wäre wie das Magazin. Gerade ist man mit seinen zwei neuen Serien „Frauenherzen“ und „Mila“ baden gegangen, wobei Letztere erst Anfang des Monats wie folgt angekündigt wurde (Quelle: Pressemitteilung):

„Mila ist wie alle Mädchen und dennoch einzigartig. Sie ist liebenswürdig, witzig, verträumt und schlagfertig, liebt ihre Familie und tappt ins ein oder andere Fettnäpfchen. Sie lässt sich nicht unterkriegen, kämpft für ihre Überzeugung, schießt manchmal über das Ziel hinaus und bleibt sich dabei stets selbst treu. Und: Mila ist Single. Doch das will sie ändern.“

Na? Kommt Ihnen das bekannt vor? Auftritt Michael Hanfeld auf der so-called Medienseite der FAZ heute:

„Und eine Aschenputtel-Geschichte dieser Art haben sie schon zu oft gesehen. Der frühere Sat.1-Geschäftsführer Roger Schawinski hatte damit noch Erfolg, sogar großen, als er ,Verliebt in Berlin’ mit Alexandra Neldel in der Hauptrolle startete. Doch wann war das? Vor zehn Jahren. Damals war Sat.1 Vorreiter und setzte einen Trend. Heute kopiert es sich selbst und andere, und das auch noch mit Verspätung.“

Wer wissen möchte, welche Serien aktuell nicht nur funktionieren, sondern sogar Preise bekommen, kann etwa hier, hier oder hier schauen, wer im Laufe der Nacht einen Emmy abgeräumt hat.

 [+++] Wer hingegen heute schon wissen will, was in der kommenden Woche in der Kronen Zeitung steht (dieser Witz wird Ihnen erklärt in diesem Altpapier), der sollte Hans Hoffs DWDL-Kolumne vom Sonntag lesen. Thema: Der Drang des Reporters, im Bild zu sein, im Allgemeinen sowie der Fall Paul Ronzheimer im Speziellen, denn natürlich sind die wahren Bild-Fetischisten die von der Bild-Zeitung:

„Früher hieß es: Der Reporter macht sich ein Bild. Heute muss es heißen: Der Reporter macht von sich ein Bild. Dass daneben auch das Objekt der Berichterstattung erscheint, wird zunehmend zum visuellen Kollateralschaden. Wichtig ist der Reporter. Im Bild.“


Altpapierkorb

+++ Am Freitag wurde ja bekanntermaßen (Altpapier) Thomas Bellut als ZDF-Intendant wiedergewählt. Dirk Döll formuliert in der taz eine kleine Theorie, warum die Wahl schon jetzt erfolgte.  „Bis der neue Staatsvertrag in Kraft ist, darf die alte Fernsehratstruppe mit all ihren Staatssekretären, (Ex-)Ministern und Parteifunktionären aber weitermachen. Und genau von der wurde Bellut jetzt gewählt – obwohl es noch gar nicht nötig war. Seine erste Amtszeit endete nämlich erst im März 2017. Ein Schelm, wer Arges dabei denkt.“ +++

+++ Wenn Print stirbt, sind nicht allein Journalisten die Leidtragenden, sondern auch Kioskbesitzer. Deshalb macht sich heute der Fotograf Ian Ehm im Auftrag von Turi2 zu einer Deutschlandreise auf, um die bedrohte Art zumindest im Bild festzuhalten +++

+++ „Lepra-Gruppe hat sich aufgelöst“ ist nur eine von vielen schönen Perlen des Lokaljournalismus, die Ralf Heimann und Jörg Homering-Elsner auf der gleichnamigen Facebookseite sammeln. Nun gibt es den Spaß auch als Buch, und weil man eleganter dafür Werbung machen kann, als platt darauf hinzuweisen, erklärt Heimann in seinem Blog, wie die aufgelöste Lepra-Gruppe in die Zeitung kam. +++

+++ Dass man in den 1980er Jahren die Reporter ohne Grenzen gegründet hat, hält einen nicht davon ab, 2015 durchzudrehen. Ist die flapsig formulierte Zusammenfassung des Textes auf der SZ-Medienseite heute, in dem Josef Hanimann beschreibt, wie Robert Ménard, mittlerweile mithilfe der Font National gewählter Bürgermeister der südfranzösischen Stadt Bézier, Stimmung gegen Flüchtlinge macht. „In der letzten Ausgabe des Gemeindeblatts ,Journal de Bézier' ist ein Foto mit Flüchtlingen beim Gedränge um einen Zug zu sehen, auf dessen Fenstern die Redaktion zwei Aufschriften ins Foto hineinmontiert hat. ,Bézier 3865 km’ ist da zu lesen und die Worte ,Kostenlose Einschulung, Unterkunft und Sozialgeld für alle’ – das ganze unter dem Titel ,Sie kommen’. Gemeint sind die Flüchtlinge.“ +++

+++ Die Zeit, als alle Charlie Hebdo sein wollten, ist seit ein paar Tagen und zwei fragwürdigen Karikaturen um den ertrunkenen syrischen Flüchtlingsjungen vorbei (Altpapier).  Dazu meint Harald Staun in der FAS: „Ein seltsamer Widerspruch: Denn wenn sich in Frankreich niemand an der Satire stört – worin liegt dann ihr Witz? Besteht die Kraft der beiden Karikaturen, wie richtig man sie auch immer findet, nicht genau darin: Dass es ihnen gelingt, der vom eigenen Mitleid beseelten Öffentlichkeit ihr amtliches Symbol um die Ohren zu hauen? Und bestand nicht genau in dieser Verstörung des Konsenses auch die Hoffnung für ,Charlie Hebdo’, sich endlich aus den tragischen Umarmungen all der neuen Freunde zu befreien?“ +++

+++ Zudem bespricht Peter Körte in der FAS die neue ZDF-Serienhoffnung „Blochin – Die Lebenden und die Toten", für die man von Freitag bis Sonntag die Abende vor dem Fersehen verbringen muss, und deren vermeintlich progressive Art Körte auch auf den Zeiger geht: „Und es nervt schon auch, wie penetrant das ZDF darauf hinweist, hier werde ,horizontal erzählt’. Als sei das der Inbegriff der Avanciertheit oder ein obskures Qualitätssiegel wie der Zusatz ,aus Felsquellwasser gebraut’; als könne man nicht auch vertikal, linear oder von mir aus auch fraktal erzählen, solange man nur gut und spannend erzählt.“ +++

+++ „Das Konzept der von Radio Bremen erfundenen Sendung war ergreifend schlicht: Wer in der Gegend auf Tour war, wurde überredet, einen Abstecher ins ,Beat-Club’-Studio zu machen. Präsentiert wurde die Show von Uschi Nerke, die Anfang 20 und unglaublich sexy war.“ Wer sich davon überzeugen möchte, kann heute Abend in der ARD die Erinnerungssendung „Generation Beat-Club“ sehen, die Tilmann P. Gangloff hier für den Tagesspiegel bespricht. Für die SZ rezensiert Hans Hoff. +++

+++ Am Samstag hat die FAZ sich noch einmal der Stasi-Vergangenheit mancher DJV-Funktionäre angenommen und jemanden dazu befragt, der sich sowohl mit Journalismus als auch der Stasi bestens auskennt: „Tun sich ausgerechnet Journalisten mit der Aufarbeitung ihrer Vergangenheit schwer? Das würde Roland Jahn generalisierend nicht behaupten. ,Es gibt nicht die Journalisten’, sagt der Leiter der Stasi-Unterlagenbehörde. ,Es gibt immer nur Einzelfälle.’ (...) Es sei ,wichtig für die Glaubwürdigkeit des Journalismus, dass diejenigen, die jetzt weiterhin als Journalisten tätig sind, sorgsam mit ihrer Vergangenheit umgehen’, sagt er.“ +++

Neues Altpapier gibt es wieder am Dienstag.