Wer stundenlang verbales Unkraut jätet

Wer stundenlang verbales Unkraut jätet
Immer mehr Journalisten ziehen nach Berlin (aber dafür woanders weg). Jetzt auch der bekannte Focus. In RTLs neuem Hauptstadtstudio lässt sich gut feiern. Neue Medien oder zumindest Medienmarken-Namen schießen aus dem Boden. Der vielleicht erfolgreichste deutsche Zeitschriftenstart seit einem Vierteljahrhundert. Aber auch: die finstere Lage der Onlinejournalisten, die Auftritte in sogenannten sozialen Medien betreuen müssen. Außerdem: Was die Bundeskanzlerin über Facebook sagt.

Eigentlich rechnen wir hier in Berlin gar nicht mit mehr Leuten, die noch aus dem Bundesgebiet zuziehen. Alle Hipster von dort sind ja schon längst hier (außer vielleicht die aus Chemnitz).

Und dennoch kommen immer mehr Journalisten in die "vitalste Metropole Europas", wie Focus-Chefreakteur Ulrich Reitz die Hauptstadt nennt. Das wäre dann schön, wenn die Arbeitsplätze neu entstünden. Doch so verhält es sich nicht. Das zupackende Interview, das Ulrike Simon für horizont.net mit Reitz führte und den weitgehenden Wegzug der Focus-Redaktion aus München bekannt gab, war gestern bereits im Altpapierkorb verlinkt.

Gestern vormittag kamen dann auch die offiziellen Burda-Pressemitteilungen heraus, hier für eher visuell orientierte Menschen, die den iconic turn hinter sich haben, hier eher textlastig (Achtung, Bleiwüste! Zumindest für Focus-Verhältnisse). Es

"sollen künftig etwa drei Viertel der Mitarbeiter in der Bundeshauptstadt arbeiten, auch die gesamte Produktion soll künftig dort angesiedelt werden",

heißt es da. So ein Umzug eines in der Selbstdarstellung stets sehr ambitionierten Magazins, auch wenn viele es mit der "nicht gerade als seriös geltenden Klickmaschine" focus.de (Simon) verwechseln, auf die Reitz aber, wie er im Interview zugibt, gar keinen Einfluss hat, erregt natürlich Kommentarbedarf in den Medienmedien. Was Reitz so formuliert:

"Wir werden lediglich fünf Beendigungskündigungen aussprechen. Dazu kommen 55 Änderungskündigungen, wobei wir diesen 55 Mitarbeitern anbieten, mit nach Berlin zu kommen",

formuliert Katharina Riehl von der Süddeutschen, die vorerst in München bleibt, so:

"55 Mitarbeiter bekommen eine Änderungskündigung - wer nicht nach Berlin umziehen will, muss gehen; bis Ende Oktober haben die Betroffenen Zeit, sich zu entscheiden. Sieben oder acht Redakteure verbleiben in München, dazu die sogenannten 'Line Extensions' 'Focus Money' und 'Focus Gesundheit' sowie der kaufmännische Bereich. Fünf Mitarbeitern wird gleich ganz gekündigt."

Sagt Reitz, dass

"wir künftig eine Netzwerkredaktion mit internen und externen Mitarbeitern aufbauen, die uns Themen anbietet. ... ... ... Wie man auf diese Weise die Produktivität und Qualität verbessern kann, habe ich schon als Chefredakteur der WAZ erlebt, als wir die Fotoredaktion ausgegründet haben",

erinnert Michael Hanfeld in der FAZ (Print-Überschrift: "Licht aus in München") an
 

"das Journalismusmodell, mit dem der Konkurrent Gruner + Jahr längst arbeitet: Eine kleine Redaktion steuert, freie Journalisten liefern die Geschichten. So hebelt man die Trägheitskräfte eines eingefahrenen Betriebs aus. Flexibel und preisgünstig ist es auch, für viele Autoren allerdings prekär."

Oben schrieb ich, dass "immer mehr" Journalisten in die brodelnde Metropole Berlin kämen. War das reine Suchmaschinenoptimierung, oder wer denn noch?

Einerseits hat vor kurzem "mitten im Herzen Berlins", die Zentralredaktion der Funke-Mediengruppe ihre Arbeit aufgenommen, zu Lasten älterer Essener Mitarbeiter. Da setzt Reitz' Vorgänger als Focus-Chef, Jörg Quoos, die insgesamt eher arbeitsplatzreduzierenden Maßnahmen fort, die schon Reitz bei der WAZ umsetzte. Andererseits hat das auch noch junge "RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND)" der Madsack-Zeitungen ein "eigenes Hauptstadtbüro im medialen Herzen Berlins", dem als freie Autorin auch Ulrike Simon angehört (wobei der Medienjournalismus-Bedarf der Madsack-Lokalzeitungen sich im Allgemeinen mit einer kompakten Fernsehprogrammübersicht erschöpft).

[+++] Und dritterseits wirklich ganz neu: der "neue Hauptstadt-Sitz von RTL". Am Mittwoch wurde er "vor zahlreichen Gästen aus Politik und Gesellschaft offiziell eingeweiht". Die führenden Experten für deutsche Medienpartys sind begeistert:

"Und doch ließ es sich auf mehreren Stockwerken dann doch recht problemlos feiern, was womöglich auch ein Stück weit am heimatlichen Kölsch lag, das RTL in die Hauptstadt importiert hat" (dwdl.de).

Anke Schäferkordt, oberste Chefin in der keineswegs flachen RTL-Hierarchie, die gerade erst einen Wunschzettel an die bekanntlich auch in Berlin ansässige Politik geschrieben hat (im Handelsblatt, das seine Artikel fast nie frei online stellt; dwdl.de war so freundlich, den Wunschzettel zu aggregieren), gab am Rande der Kölsch-Party ein paar Neuigkeiten bekannt: "Ausbau des Korrespondentennetzes" ("in Spanien ein neues Büro für Süd- und Südosteuropa"), "Aussicht, jährlich einen deutlich dreistelligen Millionenbetrag in den Informationsbereich investieren zu wollen", Kooperationen. Siehe denselben dwdl.de-Artikel bzw. die laange Pressemitteilung.

"RTL hat exklusiven Zugriff auf eine Vorabmeldung des Spiegels" titelt meedia.de und lässt geschickt offen, ob RTL diese Vorabmeldung schon verpulvert hat oder noch zurückhält, bis in der Vorweihnachtszeit die meisten Menschen fernsehen. Scherz beiseite: Nicht auzuschließen, dass schon in wenigen Jahren RTL sich zu einem ernstzunehmenden Nachrichtenmedium zu entwickeln beginnt.

[+++] Weil wir hier ja mit dem constructive-news-Prinzip sympathisieren, passt an dieser Stelle die Nachricht, dass Gruner + Jahr, dem ebenfalls von Bertelsmann besessenen RTL-Kooperationspartner beim "Kriminal-Reportage-Magazin" "Stern Crime - Wahre Verbrechen", gerade der "erfolgreichste Pre-Launch" einer Zeitschrift "seit mindestens 25 Jahren" gelungen sei:

"Mehr als 50 Anzeigen mit einem Volumen von 1,3 Millionen Euro soll das Sales-Team von Barbara bereits vor dem Start akquiriert haben",

habe G+J-Chefin Julia Jäkel auf dem Sonnendeck des Handelsblatt-Sitzes in Düsseldorf (!) gesagt, berichtet ebenfalls meedia.de.

Barbara ist die an die vor allem ARD-, aber Mehrzweck-Moderatorin Barbara Schöneberger angelehnte Frauenzeitschrift, deren Prinzip andere Zeitschriften schon zu diversen Witzen hingerissen hat. ARD-Programmdirektor Volker Herres müsste mit dem Klammerbeutel gepudert sein, um nicht längst ausloten zu lassen, vielleicht via Uli Wickert, ob die ARD nicht die Show zur Zeitschrift ins Programm nehmen kann (am besten noch bevor Gesetze in Kraft treten, die zuviele Gremlins mit Wissen über notwendige Millioneninvestitionen belasten würden ...).

Überhaupt schießen gerade neue Medien oder Medien mit neuen Namen wie Pilze aus dem Boden. RTL annonciert am Ende seiner PM "die neue Bewegtbild-Plattform RTL Next für jüngere Zuschauer und Nutzer", an die sich aber auch bento.de richten soll.

Viel mehr als das Impressum ist online nicht zu sehen. Immerhin sitzt bento.de nicht in Berlin, sondern an der Ericusspitze in Hamburg, ist also das "Spiegel Online-Angebot für junge Leute". Die EPD-Meldung (mit entzückendem Symbolbild) ordnet ein:

"Ähnliche Angebote, die sich an junge Nutzer richten, starteten bereits die 'Zeit' (ze.tt) und 'Bild.de' (BYou)."

Um ze.tt ging es hier im Juli in diesem Altpapier. Bevor wir jetzt zu constructive werden und gar noch Markennamen-Vielfalt mit Vielfalt verwechseln, muss ein dramatischer "Appell zur Entstörung der Debattenkultur in Web-Foren" erwähnt werden.

[+++] Er steht in der aktuellen Ausgabe von epd Medien, das heißt nicht frei online.

Verfasst hat ihn einer unserer umtriebigsten Journalismus-Professoren. Stephan Weichert ist alles andere als ein Apokalyptiker, verantwortet als vocer.org-Herausgeber im Gegenteil eine Menge bunter Zukunftsvisionen. Aber der Artikel unter der Überschrift "Keine polemischen Exzesse mehr!" malt die gegenwärtige Lage des Onlinejournalismus oder eher: der Onlinejournalisten, die Kommentarspalten und Auftritte in sogenannten sozialen Medien betreuen müssen, in bemerkenswert düsteren Farben aus.

"Viele Redakteure murren, wenn sie Forenkommentare im Schichtdienst wegmoderieren. Das ist nachvollziehbar, denn wer stundenlang verbales Unkraut jätet, stumpft ab und klickt irgendwann alles Mögliche weg. Auch die konstruktiven Beiträge. 1000 Kommentare und mehr pro Stunde neutral zu bewerten - das machen auch die biegsamsten Gehirne nicht mit. Es ist schon lange ein offenes Berufsgeheimnis, dass Journalisten im Umgang mit ihren Lesern und Zuschauern verzweifeln ...",

heißt es da etwa. Es geht also um Hass-Posts etwa in der Flüchtlingsdebatte und gegen die "Lügenpresse". Aufhänger ist eine Entscheidung der Lübecker Nachrichten, auf Facebook "keine Beiträge zur Flüchtlingsproblematik mehr (zu) posten".

Später deutet Weichert, auch wenn das Ausmalen der Düsternis deutlich mehr Raum einnimmt, ein paar mögliche Auswege an: "Frühwarnsysteme für Shitstorms", über die Redaktionen nachdenken würde, "beherzte Moderation, die in Debattenforen bei 'Bild.de' über 'Spiegel Online' bis 'Zeit Online' inzwischen üblicher wird", "selbstironisierende Zugänge wie die der Facebook-Seite 'Der Die WELT Praktikant'" oder ein Open Data City-Tool "mit dem lustigen Namen 'Trolldrossel'".

Doch

"die Digitalkultur läuft insgesamt auf eine Monokultur zu, die sich nicht nur kommerzieller und publizistisch einfältiger zeigt, sondern in der auch das Abschalten des Dialogs mit den Nutzern als Ultima Ratio erscheint",

steht ziemlich weit am Ende des gut 20.000 Zeichen umfassenden Artikels.

Scheint so, dass immer mehr Menschen, die dem Internet lange aufgeschlossen positiv gegenüberstanden, ihre Haltung revidieren.
 


Altpapierkorb

+++ Indes die Bundeskanzlerin. Sie hat sich nicht nur oft dabei fotografieren lassen, wie begeisterte Flüchtlinge ein Selfie mit ihr machten (was den älteren Vorwurf mangelnder Streichel-Empathie ja wohl entkräften dürfte), sondern auch ein exklusives Zeitungsinterview gegeben (bei dem die Rheinische Post sie ebenfalls nicht selten fotografiert hat). Darin auch eine Frage zu Facebook: "Muss die Politik bei Facebook einschreiten?" Falls die Antwort interessiert, klicken Sie hier und scrollen etwas hinab. +++

+++ Vizekanzler Sigmar Gabriel gastierte gestern bei Maybrit Illner im Rahmen eines Flüchtlingsabends im ZDF, deren ersten Teil Johannes B. Kerner moderierte.  +++ "Richtig unangenehm wurde es aber erst, als Kerner Ala (der neunjährigen Ala Mehmoud) dann erklärte, dass gleich ein Musiker auf die Bühne kommen würde, der ihr ein Lied singen werde. Gemeint war Rea Garvey, der seinen alten Gassenhauer 'Supergirl' anstimmte – wer hier das Supergirl sein soll, muss wohl nicht extra erwähnt werden. Es ist vermutlich fies, genau diese Szenen so ausführlich zu beschreiben, denn Rea Garvey war bei weitem nicht der einzige Prominente, bei dem man das Gefühl hatte, er war vor allem wegen der Show eingeladen ...", beschreibt Thore Barfuss bei welt.de. Weiter unten geht's dort dann auch um Maybrit Illners "Johannes-B.-Kerner-Moment". +++ Frank Lübberding hat, wie Altpapier-Leser wissen, einen deutlich größeren Referenzrahmen, und bei faz.net dieselben Shows besprochen. +++ Joachim Huber konzentriert sich bei tagesspiegel.de auf Kerners Show, die "den Promis, bekannt aus Film und Fernsehen, eine Bühne, einen Catwalk, um ihre tiefe Anteilnahme, ihre tiefe Betroffenheit zu zeigen, eigentlich vorzuführen", geboten habe. +++

+++ "Eine schöne, souveräne Pointe für eine Branche, in der sich gerade niemand irgendwelchen Palmenträumen hingibt, und die zweitens auch sehr entschlossen ist, auf keinen Fall demnächst im Museum als Kulturerbe zu enden - und deshalb hier so selbstbewusst ihre besten Journalisten feierte" hat Jörg Thadeusz, Claudia Tieschky von der Süddeutschen zufolge, gemacht. Und zwar bei der Theodor-Wolff-Preis-Veleihung im tatsächlich palmenhaltigen Koblenz. +++

+++ Wie witzig oder aufschlussreich es ist, die Bild-Zeitung "mit der freiwilligen Feuerwehr auf dem Dorf (zu) vergleichen", wie Leo Fischer von der Titanic es als "Bildblogger für einen Tag" tut (bildblog.de), ist eine andere Frage. Immerhin löschen freiwilligen Feuerwehren ja in vielen, auch entlegeneren Ortschaften oft Brände, und das ist dieser Tage vermutlich noch sinnvoller und wichtiger als ohnehin. +++

+++ Falls Sie oben die ebenfalls bescheidene Pointe vom Gesetz, das Gremien-Gremlins mit Wissen über notwendige Millioneninvestitionen belastet, nicht verstanden haben: Die bezog sich aufs gestern hier erwähnte, heute vom Tagesspiegel unter dem zugkräftigen Namen "Lex Gottschalk" erläuterte neue WDR-Gesetz. +++

+++ Aufmacher der SZ-Medienseite: die Kunst des(selben) WDR. Also keine, die irgendwie im Programm zu sehen wäre, sondern die, die bei Sotheby's versteigert werden sollte, aber vielleicht doch nicht wird, weil sie zum "national wertvollen Kulturgut" erklärt werden könnte. Schlusspointe: "Tom Buhrow beziffert die WDR-Sammlung auf drei Millionen Euro, das entspricht lediglich drei Prozent des Betrags, den er in einem einzelnen Jahr einsparen will. Die Erlöse würden ihm also nicht viel weiterhelfen - insofern ist es fast nebensächlich, ob der WDR seine Bilder am Ende verkaufen darf." +++

+++ Der Tagesspiegel stellt nun auch das tatsächlich lesenwerte dekoder.org vor, dass nichtstaatlichen russischen Journalismus auf deutsch sammelt. +++

+++ Auf der FAZ-Medienseite geht's um umstrittene Auftritte einer "berüchtigten römischen Mafia-Familie" im italienischen RAI-Fernsehen sowie um Rupert Murdochs (weiteren) Einstieg bei der National Geographic Society: "Für 725 Millionen Dollar" kauft seine 21st Century Fox "73 Prozent der Anteile am Mediengeschäft der gemeinnützigen Gesellschaft mit der 127 Jahre währenden Geschichte". +++

+++ Und wer noch ein, zwei Stündchen Zeit hat und ein großes, aufschlussreiches Drama zur Zeitgeschichte lesen will: Der netzpolitik.org-Liveblog aus der gestrigen Sitzung des NSA-Untersuchungsausschusses verdiente es. +++

Neues Altpapier gibt's wieder am Montag.