Wissenswertes aus Erlangen

Wissenswertes aus Erlangen
Wie Gänsehaut im Bus sich um die deutschsprachige Welt verbreitete. Sind wir am Ende alle Claus Kleber? Anja Reschke kommentiert Kommentare zu ihrem Kommentar. Ein frischer Trend auf Facebook geht zu infamen Fälschungen. Außerdem: die erfolgreichsten Floskeln aller Zeiten des letzten Jahres.

Über die Relevanz der, nun ja: Meldung, dass der Moderator einer bekannten Fernseh-Nachrichtensendung vorgestern abend derart "fast zu Tränen gerührt" (DPA) war, dass ihm "die Stimme" zu versagen drohte (sueddeutsche.de), zumindest kurz davor könnte sie durchaus gestanden haben, lohnt es sich nicht zu streiten. Es floss gar keine Träne, und der Ablauf des "heute-journals" stockte nicht im geringsten. Allenfalls konnten sich Ahnungen von so etwas in entsprechend disponierten Betrachtern der als erstes vom Youtube-Account namens "Weltweites Wissen" isolierten Szene (inzwischen gibt's vom ZDF eine noch kürzere Version) zusammensetzen. Zumindest wenn sie sie via Internet auf einem Laptop angeguckt haben, in dem sich die Sonne spiegelte.

Es ist aber eine aufschlussreiche Geschichte über Medien und wie sie in der Mitte der 2010er Jahre genutzt werden. Schon weil Kleber während einer Zwischenmoderation eine Geschichte mündlich referierte, die er referiert, also bereits aus zweiter Hand, gelesen hatte. Und weil der gesamte deutsche Onlinejournalismus, als die Sache in der Welt war, aufsprang und die, seither also wirklich: Meldung weitermeldete.

Kleber hat die Sache schriftlich referiert bekommen vom Morgen-Newsletter-Autor der krautreporter.de, Christian Fahrenbach, dessen unglaubliche Begeisterungsfähigkeit alleine ja schon jeden Morgen anrührt. Streng genommen, war, was Fahrenbach verlinkte, nicht einmal die Originalmeldung der Erlanger Nachrichten ("Erlanger Busfahrer heißt ausländische Gäste willkommen"), sondern ein offenkundig aufgrund des Erfolgs dieser Originalmeldung nachgeschobenes Porträt des Protagonisten ("Er hieß Migranten willkommen: Das ist der Erlanger Busfahrer"), also Sven Latteyers, der vor inzwischen einer Woche am Steuer eines Busses der Linie 286/ 287 alles auslöste.

Und - ohne Ironie, in diesem Absatz - bei der Originalmeldung handelt es sich um feinen Lokaljournalismus:

"Wer neulich im 286/287er Bus saß, hatte plötzlich Gänsehaut. Es war eine Situation, wie man sie sonst nur aus Spielfilmen kennt oder in einem Buch liest. Und eine die zeigt: So gehen die Erlanger mit Migranten um",

leitete Egbert M. Reinhold sie ein. Er weiß sowohl, dass auch seine Leser großes Kino nicht mit ihrer regionalen Zeitung verknüpfen, als auch, dass seine Stadt auf ihre Flüchtlingsaufnahme-Tradition mit Recht stolz ist ("Zuerst kamen die Hugenotten, dann die Vertriebenen nach dem Zweiten Weltkrieg"). Reinhold saß übrigens natürlich ebenfalls nicht persönlich im Bus, sondern hat sich alles von einer "Mitfahrerin ..., die den ergreifenden Moment erlebt hat", erzählen lassen.

Wie das Fundstück an Fahrenbach, der von New York aus schreibt, geriet, ist noch unklar (wenn Markus Lanz' Redaktion alle Beteiligten zusammenholt, muss er aber unbedingt eingeflogen werden). An Claus Kleber geriet sie wohl über den Facebook-Auftritt der Krautreporter, wie der Moderator dem Tagesspiegel anvertraute.

Wie immer, wenn Fernsehen läuft, saßen auch während des "heute-journals" viele Menschen an sogenannten second screens. Diese Menschen bilden, wenn sie interagieren, das, was Onlinemedien gerne "das Netz" nennen (vgl. n-tv.de, also eine RTL-Bertelsmann-Webseite: "Das Netz feiert Claus Kleber"). Und wenn dieses Netz spottet oder halt auch feiert, springen hunderte Onlinejournalisten immer auf. Viele gaben jeweils einen Hauch von eigenem bei, so dass die zurzeit herrschende, ähm: Medienvielfalt rüberkommt.

Bei sueddeutsche.de zum Beispiel sitzen auch in der Onlineredaktion kleine Stilpäpste ("Kleber referierte in dunkelblauem Sakko, Hemd und Krawatte.")

Bei taz.de finden Männer es schön, wenn Männer aus Empathie weinen, oder sowieso Männer, und nennen dann auch Claus Kleber gerne den "wohl authentischsten Nachrichtenmoderator".

Bei zeit.de schämen sie sich nicht, die Sache, die am Donnerstag jedem Betrachter eines mit dem deutschen Internet verbundenen Bildschirms begegnet ist, unter dem Rubrum "Im Netz verstecken sich kleine Schätze – Zeit Online findet sie" zu präsentieren.

Bei dwdl.de hängen sie immer vorm Fernsehen und stellen jeden "besonderen Moment" liebevoll ins Netz.

Bei Springers welt.de erinnern sie erst mal an den 11. September des Jahres 2001, an dem Claus Kleber schließlich aus den USA on air war.

Von Springers bild.de haben sie eine Fotografin losgeschickt, die ein hübsches Foto von Sven Latteyer an seinem Arbeitsplatz im Bus machte, und bebildern ihren Bericht oben nicht mit dem ZDF-Star, immerhin, sondern mit dem unprominenten eigentlichen Protagonisten. (Aus Latteyers ebd. verlinktem Facebook-Account hat bild.de sich das Foto offenbar nicht gekrallt).

Beim Tagesspiegel sind sie mit klassischen alten Medien gut vernetzt und haben das womöglich einzige Exklusivstatement des prominenten Protagonisten (der aber bekanntlich twittert) erhalten. Was Kleber mit Sonja Alvarez teilte, ist gleich noch eine Medienerfahrung:

"'Ich würde mich schon sehr freuen, wenn die kleine Meldung dazu hilft, dass ein paar Menschen bei alltäglichen Begegnungen ähnlich handeln wie dieser tolle Busfahrer Sven Latteyer', teilte er dem Tagesspiegel mit. 'In einem fremden Land kann schon ein 'Hi, how are you' oder ein 'welcome' den Tag verändern.' In einer Web-Reportage habe er eine Frau aus Syrien gesehen, die sinngemäß gesagt habe: 'Sprechen Sie uns doch bitte einfach mal an. Wir können doch nicht in der Fußgänger-Zone von uns aus Leute anhalten und ihnen unsere Geschichte aufdrängen.'"

Bei DuMont, wo online wirklich niemand mehr irgendwelche Ansprüche stellt (auch wenn die gedruckten Zeitungen gar nicht so schlecht sind), hat erst mal einer "drei bekannte Beispiele rausgesucht", und zwar für drei bekannte Emotionen im Fernsehen, "Trauer, Freude, Wut". Weil bei DuMont Ansprüche der Vergangenheit aber noch nachwirken, hat später jemand eine Glosse von einer Ausgeruhtheit, die es online eigentlich auch nicht gibt ("Zum Einstieg werfen wir einmal Claus Kleber und einen Profi-Wrestler zusammen in einen Satz ...") verfasst, die dann aber doch zu einem Punkt kommt:

"Journalisten sind nurmehr nicht allein Meinungsmacher, sondern Projektionsfläche für einen Moment der öffentlichen Empathie. Spiegelbilder, die unsere tief im Inneren verankerten Werte und Haltungen rückkoppeln und uns bestätigen: Wir machen das Richtige. Zur rechten Zeit und am rechten Ort."

Am Ende sind wir gar noch alle Claus Kleber.

Und wie das niemals schlafende Netz tickt, schlugen die Wellen auch wieder nach New York, wo Christian Fahrenbach heute in seinem Newsletter in der spezifisch krautreporterischen Mischung aus Bescheidenheit und Gönnerhaftigkeit den Fame "genauso den Kollegen von nordbayern.de" weitergibt ("Erlanger Busfahrer bringt Claus Kleber den Tränen nahe"). Diesen Link sollte bitte jeder, der bis hier gelesen hat, kurz klicken.

[+++] Ganz anders als Claus Kleber hat Anja Reschke für ihre Fernseh-Moderationen eher eine gewisse Knallhärte perfektioniert.

Zu ihrem weit herumgegangenen "Tagesthemen"-Kommentar (Altpapier vor einer Woche) bzw. zu den Kommentaren dazu hat sie nun einen weiteren, lesenswerten Kommentar auf der "Panorama"-Webseite veröffentlicht (in Textform):

"Ich halte meinen Kommentar weder für besonders mutig noch für herausragend. Ich habe lediglich gesagt, dass ich rassistische, menschenverachtende und verhetzende Äußerungen nicht tolerieren kann und diejenigen, denen das so geht wie mir, aufgefordert, sich gegen solche Kommentare zu wehren. Damit ist die Gruppe der Menschen, die ich kritisiert habe, klar eingegrenzt.

In den meisten Ihrer Zuschriften ging es aber gar nicht um die Hetze, sondern um das gesamte Thema Flüchtlinge. Ich habe einen Kommentar von knapp zwei Minuten gesprochen, in dem ich natürlich nicht auf alle Aspekte des Flüchtlingsthemas eingehen konnte. Dennoch nehme ich dazu gerne Stellung, auch wenn es nicht Thema meines Kommentars war. ..."

In den Kommentaren unter diesem Kommentar stößt man auf die meedia.de-Meldung über einen "Facebook-Beitrag ..., der vorgeblich von 'Anja Reschke' stammte", aber gefälscht war.

Gefälschte Facebook-Beiträge scheinen im Trend zu liegen. Sozusagen um zu erklären, was den Deutschlandfunk-Reporter Axel Schröder zu seinem gestern hier erwähnten Besuch bei Facebook in Hamburg veranlasste, die Verwendung eines Fotos für eine "hanebüchene, frei erfundene" und bei Facebook veröffentlichte Geschichte, schildern Nora Burgard-Arp bei meedia.de und Paul Katzenberger auf sueddeutsche.de das nicht selbsterklärende, aber tückische Prinzip solcher Fälschungen. Sie sollen "keine positive Stimmung bewirken, sondern genau das Gegenteil. Es soll Hass erzeugt werden gegen Flüchtlinge und gegen Medien, die nach Meinung des Verfassers viel zu positiv über die Asylbewerber berichten." Und zwar sollen sie das so:

"Dass die Fälschung bei Facebook so übertrieben positiv klingt und fehlerhaft ist, gehört zu ihrem Konzept: Die Leser sollen auf Ungereimtheiten im Text stoßen und sich darüber erzürnen, wie dreist die 'Lügenpresse' falsche Nachrichten verbreite. Die Betrüger stoßen den Sturm der Entrüstung selbst an, indem sie unter ihre eigene Falschmeldung Wut-Kommentare schreiben."

Alle, die sich gerade, auch mit Recht, freuten, wie sich die schöne Geschichte aus Erlangen verbreitete und zum Zeigen von Emotionen auch dort einlud, wo sonst selten welche gezeigt werden, sollten zumindest im Hinterkopf behalten, dass in denselben  sozialen Medien zurselben Zeit auch ganz andere, sowohl grenzwertige als auch jenseits aller Grenzen liegende Inhalte, Sichtweisen auf das gleiche Thema und Emotionen geteilt werden.


Altpapierkorb

+++ Ein Jahr alt wird floskelwolke.de. Glückwunsch an Udo Stiehl und Sebastian Pertsch. Zum Geburtstag präsentieren sie die erfolgreichsten Floskeln aller Zeiten dieses Jahres, bei Twitter in Großschrift, auf sebastian-pertsch.de kleiner und mit Erläuterungen. Vor allem die frischen Floskeln "Asylgegner" und "Asylkritiker" als deren Steigerung passen natürlich auch zum Kontext hier überm Strich. +++

+++ Ein Beispiel dafür, dass Äußerungen auf Facebook zu Strafanzeigen (und einem Parteiausschluss) führen, hat die Schaumburger Zeitung aus Niedersachsen. +++

+++ "Erst im Februar verpasste der 'Spiegel' seinem 'Kultur Spiegel' ein neues Outfit, nun wird die monatliche Beilage eingestellt. Ersetzt wird er durch ein Supplement namens 'Literatur Spiegel', das vom 26. September an zehn Mal monatlich dem Nachrichtenmagazin beiliegen wird" (dwdl.de). Es geht darum, das "Kulturangebot deutlich zu stärken", verlautbart der Spiegel selbst. +++

+++ Das Geschäft der Deutschen Telekom mit dem Werbe-Unternehmen Ströer beim Verkauf der größten deutschen Webseite (die übrigens Claus Kleber als "Nachrichtenikone" und "beliebten Welterklärer" bezeichnet), erläutert faz.net: "Die Telekom werde nach dem Deal abhängig vom Aktienkurs voraussichtlich rund 11 bis 13 Prozent an Ströer halten und will so an möglichen Wertsteigerungen mitverdienen, sagte Telekom-Deutschlandchef Niek Jan van Damme am Donnerstag." +++

+++ Ein Netflix-artiges Projekt österreichisch-deutscher Provenienz, und zwar für klassische Musik, planen der ORF und Jan Mojto, der "große Teile des Medienkonzerns von Leo Kirch übernommen und weiterentwickelt" hat (Standard). +++

+++ Wer in der sehr föderalistischen deutschen Medienanstaltenlandschaft sich künftig auch um Netzneutralität kümmern soll: die Medienwächter des Saarlands (Medienkorrespondenz). +++

+++ "Die Regulierung des Internets ist wie ein Regenwald" lautet die Überschrift über dem größten Artikel auf der FAZ-Medienseite. Darin beklagt Wolfgang Kleinwächter, "dass die Bundesregierung bei globalen Themen mit angezogener Handbremse durch den Cyberspace fährt", und dass die "globale Debatte zu Internet Governance ... in Deutschland kaum wahrgenommen" wird. Kleinwächter ist der bekannteste deutsche Experte für diese Internet Governance und war mit dem Thema zuletzt im April '14 in der FAZ vertreten. +++ Außerdem geht's dort in der FAZ darum, wie das neue Windows 10 seine Nutzer ausspäht. +++

+++ "Das Handelsabkommen Europas mit den USA, mit all seinen unheilvollen Zuschreibungen, wird längst vor aller Augen verhandelt - auch wenn die EU-Kommission nun krampfhaft versucht, Verhandlungspapiere abzuschirmen", kommentiert die SZ auf S. 4 den ausdrücklich auf correctiv.org bezogenen Beschluss der EU, deutschen Abgeordneten nur noch in einem Leseraum in Brüssel Einblick in den TTIP-Verhandlungsstand zu geben. +++ Julian Assange von Wikileaks, das für geheime TTIP-Unterlagen auslobt, spricht im Spiegel vom Handelsabkommen als einem "Versuch der USA, die geopolitischen Machtverhältnisse zu verschieben" (Vorabmeldung). Beides war Thema im Altpapier gestern. +++

+++ Auf der SZ-Medienseite porträtiert Willi Winkler eher uninspiriert Thomas Frickel von der AG Dok (siehe zuletzt dieses Altpapier) als eine Art Kleinaktionär auf der Hauptversammlung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks und verschweigt auch nicht, was Frickel beim Treffen in Frankfurt verzehrte. +++ Außerdem geht's in der SZ um die Familie Agnelli als weitere "europäische Gelddynastie", die nun zum Economist-Eigentümerkreis gehört. +++

+++ Und dann ist wieder Bundesliga! +++ Praktische Überblicke, was wann wo läuft, begegnen jedem. +++ Thomas Hitzlsperger, der "künftig für den Bayerischen Rundfunk, sowohl vor der Kamera als auch im Blog", tätig sein wird, porträtiert aktuell noch mal der Tagesspiegel (und die SZ-Seite drei tut's auch). +++ Den heißesten Produkttipp dokumentiert medienkorrespondenz.de ("Der Produktlaunch des 'Sport 1 Fan-Snack' wird durch Werbecrawls in der Sport 1 TV-Sendung 'Der Volkswagen Doppelpass' und mit Cornersplitscreens in den Formaten 'Bundesliga – Der Spieltag', 'Bundesliga Pur' und 'Bitburger Fantalk' begleitet ..."). +++

+++ Einen Bezugspunkt für die Überschrift dieses Altpapiers gibt's natürlich auch bei Youtube. +++

Neues Altpapier gibt's wieder am Montag.