Eine Frage der Filter

Eine Frage der Filter
Facebook verbreitet wieder gute Laune (zumindest, wenn man es richtig anstellt) und schickte ein Fax aus seinem "deutschen Hauptquartier" nach Kalifornien. Ein Bundesrichter veranstaltet großes Kolumnen-Kino rund um die netzpolitik.org-Sache. Und Wikileaks winkt mit dem Scheckbuch, um "Europe's most wanted secret" zu ergattern. Außerdem: doppeltes Lob für Til Schweiger.

Wir leben

"in einer Zeit, in der Gesellschafts- und Polit-Illusionen des 20. Jahrhunderts wegbröckeln oder ganz zerschellen. Auch, aber nicht nur durch die digitale Vernetzung."

Da erläutert Sascha Lobo wie jede Woche pointiert-differenziert, welche Irritationen aktuell in ihm nagen. Sicher schimmert durch, wie heftig auch er selbst von Illusionen einer eher idealisierten Vergangenheit  ("Mir ist zum Beispiel nicht klar, weshalb Ursula von der Leyens Auftritt ... nicht als platteste PR-Maßnahme der Welt entlarvt und deshalb ignoriert wird") statt zum Beispiel von seinem Umfeld bei Spiegel Online geprägt wird, das ja höchstens mal Phänomene ignoriert, für die nicht genug PR betrieben wurde. Aber, so wie er die Menschen mitnimmt, könnte Lobo in wenigen Jahrzehnten locker Bundespräsident sein.

Eine der durch digitale Vernetzung mindestens wegbröckelnde Illusionen betrifft das Soziale in den sogenannten sozialen Medien. Zumal Lobo hat ja früh darauf hingewiesen, wie sehr auch unter echten oder echt klingenden Klarnamen auf Facebook Hass geäußert wird. Dwdl.des Thomas Lückerath hatte auf seinen kürzlich hier empfohlenen Kommentar dazu dann "eine gänzlich inkompatible Antwort" einer Facebook-Sprecherin erhalten. Und auch sonst wurden seitens des Datenkrakens ein paar deutschsprachige Bedauerns-Nettigkeiten publiziert (auf Initiative von Peter Greve; meedia.de),

Der Tagesspiegel zitiert (aus demselben Textkörper) Facebooks "Director Corporate Communications Northern Europe" Tina Kulow gar mit Klarnamen, wenngleich in dem Tonfall, der klingt, als sei er vom Google-Übersetzungs-Tool simultan aus dem kalifornischen Englisch übersetzt worden:

"Unsere Reporting-Systeme sind dafür entwickelt, Menschen vor Missbrauch, Hassrede und Mobbing zu schützen und es ist bedauernswert, dass gelegentlich Fehler gemacht werden, wenn solche Reports bearbeitet werden."

Auch wenn sein Wunsch nach einem Gespräch mit einem deutschen Teammitglied "kurzfristig jedoch nicht" erfüllt werden konnte, ist Tagesspiegels Kurt Sagatz zufrieden mit der Lage, wie er sie auf Facebook vorfand:

"Der von der ARD-Journalistin Anja Reschke geforderte 'Aufstand der Anständigen' gegen die Flüchtlingshetze findet dort bereits statt. Gibt man in Facebook das Stichwort 'Flüchtling' ein, öffnet sich eine lange Trefferliste – doch anders als vielleicht vermutet vor allem im positiven Sinne: 'Flüchtlinge sind in Düsseldorf willkommen', heißt eine Gemeinschaft ..."

Wobei diese Methode der, sagt man: Recherche? ein bisschen einäugig ist. Zurecht merkte Jörg Fischer (?@thetruemilhouse) bei Twitter an:

"Der nächste Journalist gibt dann einfach mal 'Asylant' ein und wird feststellen, wie hasserfüllt die Menschen auf Facebook sind."

Mark Zuckerbergs Eichhörnchen-Erfolgsgeheimnis besteht ja darin, dass jeder, der seine eigene Wortwahl für die beste und seine eigenen Freunde für die richtigen hält, zufrieden verweilt. Alles eine Frage der Filter; sie können durchaus helfen, liebgewonnene Illusionen zu bewahren.

Dass gerade Leute von ganz rechts gut darin sind, Facebooks so oder so entseelte "Reporting-Systeme" auf für Betroffene infame, aber für Facebook akzeptable Weise zu missbrauchen, war am Dienstag hier Thema. Ein anderes Beispiel berichtet aktuell ein Blog des Deutschlandfunks:

"Irgendwelche Facebook-Nutzer vom rechten Rand haben das Foto einer Kollegin aus dem Berliner Funkhaus auf ihrer FB-Seite veröffentlicht. Verpixelt zwar, aber als Bebilderung einer hanebüchenen, frei erfundenen Geschichte. Zwei Asylbewerber hätten ihr – meiner plötzlich angeblich leberkranke Kollegin – ihre Einkaufsgutscheine geschenkt. Das Ganze soll wie ein Zeitungsbericht aussehen. Wenig später heißt es in einem der Kommentare unter Foto und Text: das könne doch wohl nicht stimmen, die Lügenpresse hätte wieder mal zugeschlagen",

leitet Axel Schröder ein, um anschließend von seinem "Versuch eines Besuchs im deutschen FB-Headquarter" zu erzählen. Schröder arbeitet in Hamburg, wo Facebooks deutscher Sitz sich auch befinden soll (auch wenn man die Adresse im auf deutschsprachigen Facebook-Seiten verlinkten "Impressum" derzeit nicht findet).

"Eine Telefonnummer hat die Firma nicht. Und auch keine Pressestelle. Jedenfalls keine, deren Nummer man durch ein paar Mausklicks recherchieren könnte. In dieser Hinsicht sind  Unternehmen aus der Rüstungsbranche oder Atomindustrie vergleichsweise offen und vorbildlich. Mit dem Fahrrad geht es zunächst zum Rathausmarkt 5. Diese Adresse liefert eine einfache Telefonbuchsuche via Internet ...",

schreibt Schröder und erzählt dann weiter, bis ... SPOILER: das Happy-end zumindest der Geschichte um die angeblich leberkranke Radiofrau vielleicht dadurch erreicht wurde, dass er "am Empfangstresen des Internet-Riesen ein Beschwerde-Formular ausfüllen durfte, das die junge Facebook-Mitarbeiterin dann nach Kalifornien ins Headquarter geschickt hat".

Andererseits, Facebook arbeitet laufend an Hunderte von Tausenden toller Ideen. Schon oder noch nicht in die Weltspitze entrückte deutsche Starjournalisten sind von einigen davon ganz begeistert, und die üblichen Aggregatoren plappern analysieren auch das gerne nach.

[+++] Eine zerschellte Illusion aus dem 20. Jahrhundert: Geheimhaltung von Daten so, wie sie noch möglich war, als sie allein auf Papierblättern oder Fotonegativen gespeichert wurden.

Wobei andererseits zum Beispiel die Selektorenliste, die deutsche Geheimdienste von ihren US-amerikanischen Freunden übernahmen, noch immer nicht voll öffentlich geworden ist. Dass das gar nicht auf Wunsch der US-Regierung der Fall ist, sondern dieses nur ein weiterer deutscherseits behaupteter Vorwand sei, ist die tagesaktuell spektakulärste Nachricht. Da handelt es sich um eine Vorabmeldung der Zeit (und, in den Worten der Opposition, um einen "Megaskandal" oder zumindest einen "weiteren handfesten").

Wir sind damit bei der täglichen Portion netzpolitik.org. Der "Verdacht von Landesverrat" besteht nun schriftlich-offiziell nicht mehr (netzpolitik.org). Der Verdacht, dass das, was "Landesverrat" genannt wurde, Geheimdienste beim Verhindern von Anschlägen auf Weihnachstmärkte behindern könnte, ist aber in der Welt und könnte es in den interessierten Filterblasen bleiben, bis wieder Weihnachstmarkt-Zeit ist (auch netzpolitik.org, mit Bezug auf eine Deutschlandfunk-Diskussion).

Das größte Kino des Tages kommt wiederum aus dem Medienreich der Zeit. Thomas Fischer, Vorsitzender des 2. Strafsenats des Bundesgerichtshof, hätte beinahe gerade mit netzpolitik.orgs Markus Beckedahl in einer Diskussionsrunde (Video) gesessen, die wohl auch "mit gegenteiligen Meinungen sicher interessanter gewesen" wäre (Berliner Zeitung, deren Christian Bommarius darin saß). 

Fischer hat aber für zeit.de eine umfangreiche Kolumne verfasst. Überhaupt ist der hohe Richter ein wortmächtiger Kolumnist, der locker mal rein rhetorisch "einen angetrunkenen Landtagsabgeordneten aus Mecklenburg-Vorpommern" herbeiimprovisiert (vermutlich einfach, weil Mecklenburg-Vorpommern von der Bundesjustizhauptstadt Karlsruhe aus gesehen am anderen Ende des Landes liegt), oder "buchenholzgeräucherten Bioforellen", vermutlich weil es gesprochen gut klang. Im Vorprogramm von Harald Martenstein könnte Fischer wohl so manches kleinere Fußballstadion rocken; er wird vom Zeit-Verlag, der ja auch sehen muss, wo er bleibt, unter zeit.to/fischer-event sogar schon solo vermarktet.

Fischer befasst sich also mit der Sache des vermeintlich Landesverrrats und ledert los in alle Richtungen:

"Gerade der Qualitätsjournalist arbeitet an der untersten denkbaren Grenze seiner intellektuellen Möglichkeiten",

würde, vom Kontext befreit, auch da begrüßt, wo die böse Lügenpresse vorgeführt werden soll. Was Fischer über die

"im Halbstunden-Rhythmus upgedatete Alles-Wisserei"

der öffentlich-rechtlichen Nachrichtenkanäle im Radio (im Fernsehen träfe es natürlich auch zu) äußert, würde auch ich unterschreiben. En passant tritt Fischer gar aus dem auch hier kürzlich erwähnten Verein der Bundesrichter und Bundesanwälte aus. Und auch wenn seine Generalkritik am "Feldgeschrei einer abgedreht hysterisierten Presse" darunter leidet, dass Bonmots wie "Die deutsche freie (Print)Presse gehört 20 Milliardärsfamilien: Auch deshalb ist sie bekanntlich so frei" im 20. Jahrhundert wesentlich wahrer waren als sie im 21. sind, in dem auch höchste Juristen wissen könnten, dass gut beratene Milliardäre nicht mehr in Print investiert sind, ist der lange Text als detaillierter Überblick aus juristischer Sicht lesenswert. Auch wegen Sätzen wie:

"Der erfahrene Spitzenbeamte achtet darauf, dass sich in jedem seiner Vermerke ein Abschnitt 'andererseits' findet: Für den Fall, dass die Sache in die Hose geht."

[+++] Wo Geheimhaltung auch noch funktioniert bei den Verhandlungen zum Freihandelsabkommen TTIP. Deswegen hat Wikileaks nun

"launched a campaign to crowd-source a €100,000 reward for Europe’s most wanted secret: the Transatlantic Trade and Investment Partnership (TTIP)",

weshalb Hans Leyendecker heute für die SZ-Medienseite sein Nähkästchen aufklappt und vom "Scheckbuch-Journalismus" seit den Hitler-Tagebüchern erzählt:

"Die Zahlung von Geld passt jedenfalls nicht zu der reinen Lehre von dem altruistischen Informanten, der selbstlos gegen das Böse kämpft - wie etwa Edward Snowden oder Chelsea Manning, früher Bradley Manning, gekämpft haben oder kämpfen. Andererseits: Ob Whistleblower uneigennützig dem vermeintlich Guten zum Durchbruch verhelfen möchten oder ob sie aus eher niederen Gründen agieren, ist manchmal völlig unerheblich."

Platz für ein "Andererseits" finden erfahrene Spitzenjournalisten auch oft.

[+++] Dritterseits: Vielleicht klappt's oder klappte es bei TTIP (wozu die Evangelische Kirche Deutschland übrigens ausgewogen sagt: "Ein Freihandelsabkommen kann Vorteile bringen, aber es kann eben auch Nachteile bringen") auch ohne Geld.

Zumindest berichtet correctiv.org stolz über Auswirkungen seiner eigenen Leaks:

"Die EU-Kommission ist laut eines internen Berichts verärgert, dass immer mehr vertrauliche Dokumente nach außen gelangen. Sie sprach das Thema auf einer Sitzung mit Vertretern der Mitgliedsstaaten am 24. Juli an. In einem Protokoll über die Sitzung, das Correctiv in Abschrift vorliegt, heißt es: 'Hintergrund war die Veröffentlichung zahlreicher Verhandlungsdokumente auf der Webseite correctiv.org.' Und weiter: 'Diese Veröffentlichungen hätten „eine neue Qualität erreicht, sowohl mit Blick auf den Umfang der geleakten Dokumente wie auch auf den Inhalt (…) Diese enthielten auch eine Wiedergabe und Bewertung der US-Verhandlungspositionen.'

... ...

Die Kommission vermutet, dass die vertraulichen Dokumente aus dem Deutschen Bundestag nach außen gelangt sind. Es gebe Mitgliedstaaten, 'bei denen Verhandlungsdokumente an Datenbanken ihrer nationalen Parlamente übermittelt würden...'"

Und daher sollen deutsche Abgeordnete seit Ende Juli "die Verhandlungsprotokolle ausschließlich im Leseraum der EU-Kommission in Brüssel" einsehen können.


Altpapierkorb

+++ Noch mal zu Facebook: Hannah Beitzer lobt bei sueddeutsche.de den "doppelten Mut von Leuten wie Til Schweiger", die sozusagen die Grenzen der Filterblasen überschreiten, um sich gegen Hass zu engagieren, und von Spiegel Online wegen "ein paar Ausrufezeichen zu viel" ins klickträchtige Lächerliche gezogen werden. +++

+++ machtan.wdr.de heißt die Seite, die erst mal fast hypnotisch wirkt - zumindest, bis man auf die Zeitanzeige klickt und auf der Seite landet, wo eine nicht lieblos als Fernsehansagerin verkleidete Anke Engelke lauter neue WDR-Fernsehsendungen anteasert, die u.a. darin bestehen, dass der Allesweg-Moderator Matthias Opdenhövel Shows mit "Promi-Kandidaten" und "skurrilsten Web-Videos" moderieren wird. Davon wird man an dieser Stelle noch hören. +++

+++ Entweder künftig nicht mehr im Reich der ARD unterwegs, oder zumindest auch wieder bei Vox: Fernsehkoch Tim Mälzer (Hamburger Abendblatt). +++

+++ Zweites Thema der SZ-Medienseite: Jürgen Schmieder und die New York Times über das "Law of War Manual" des Pentagon bzw. das, was darin über Journalisten geschrieben steht. +++

+++ Themen der FAZ-Medienseite: das "Chaos Communication Camp" des CCC und wie Fiona Krakenbürger Programmiererinnen ermutigt. +++ Und Amy Schumer, Comedienne, die "in Amerika mit brachialem Humor bekannt geworden" ist, im Interview wegen ihres neuen Kinofilms. +++

+++ Die "laut AGOF ... größte deutsche Website im Netz", wird verkauft, aber nicht an Axel Springer (gruenderszene.de). +++

+++ Nun wird's sexy: "Jetzt muss es Köln Sat 1 besorgen" (Joachim Huber, großer Tagesspiegel-Report zur Frage, ob Köln oder Berlin "das Epizentrum des deutschen Trashfernsehens" ist). +++ Und der eingangs erwähnte Thomas Lückerath ist trotz seiner Facebook-Expertise bei seinem Leisten geblieben und hat ein weithin zitiertes Interview mit einem prominenten Fernsehkünstler geführt, das Stefan Niggemeier durch eine noch sexyere Version adelt. +++

Neues Altpapier gibt's wieder am Freitag.