Absurde Fallhöhen

Absurde Fallhöhen
Der Rundfunkbeitrag wird wieder steigen. Die Auflage der Zeitungen wohl nicht mehr, und nun sinkt auch die Reichweite, allerdings von ganz weit drüber. Steigen könnte diejenige des sogenannten Randsports. Außerdem: Das Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit ist nun auch vorbei; die Zerfallsprodukte des Journalismus; die Talkshow in der Talkshow-Sommerpause.

Womit nun wirklich niemand rechnet: ein medienjournalistischer Artikel in der Berliner Zeitung.

Henry Steinhau hat den KEF-Chef interviewt. Es geht dabei überhaupt nicht um das aus aktuellen Urteilsvermeldungen (evangelisch.de, Tagesspiegel; direkt aus dem Königlich Bayerischen Amtsgericht berichtet heise.de) bekannte Spaghettimonster, dessen Anhänger weiterhin ebenfalls Rundfunkbeiträge zahlen müssen. Heinz Fischer-Heidlberger erläutert erst einmal ausgiebig, was die Kommission zur Ermittlung des Finanzbedarfs der Rundfunkanstalten, der er vorsitzt, ist bzw. vor allem nicht ist.

Am Ende sagt er etwas relativ Spektakuläres. Der Rundfunkbeitrag, der kürzlich ja um eine für Zahlungspflichtige unspektakuläre Summe sank, werde wieder steigen:

"Man muss das aber auch realistisch sehen. In den Jahren 2017 bis 2020 wird es Kostensteigerungen geben, denn wir haben ein wirtschaftliches Wachstum – glücklicherweise. Deshalb werden die Gehälter steigen. Für ein gleichbleibend gutes Programm brauchen die Anstalten mehr Geld."

[+++] Konkrete Zahlen nennt der KEF-Chef natürlich überhaupt nicht. Zeit zur Aufregung wird noch genug bleiben. Die üblichen Gründe für Aufregung seitens der Wettbewerber, die ganz ohne gesetzlich garantierte Einnahmen mit wirtschaftlichem Wachstum bedrucktes Papier verkaufen wollen, bleiben bestehen. Frische Zahlen liefert die Arbeitsgemeinschaft Media-Analyse, die anhand von Telefoninterviews Medien-Reichweiten ermittelt.

Wobei ihre neue Analyse für Zahlenfüchse besonders aufregend ist, da erstmals die 2013 veröffentlichten Ergebnisse der Quasi-Volkszählung von 2011 (derzufolge es über eine Million weniger Deutsche gibt als zuvor gedacht), einbezogen wurden. "Dadurch schrumpfte die für die Tageszeitungs-MA relevante Zahl der deutschsprachigen Menschen im Alter von mindestens 14 Jahren beispielsweise von 70,52 Mio. um 1,8% auf 69,24 Mio", erläutert meedia.des Jens Schröder.

Nur ein bisschen stärker sei die Zahl der Zeitschriften-Leser um 2,1 Millionen, die der Tageszeitungen-Leser sogar um 2,3 Millionen geschrumpft (horizont.net). "Die Gewinne und Verluste sind diesmal also mit Vorsicht zu genießen", schreibt dwdl.des Uwe Mantel, der zugleich Beispiele dafür nennt, dass diese MA-Ergebnisse schon immer mit Vorsicht hätten genossen werden sollen:

"Abgesehen davon schweben die von der agma erhobenen Reichweiten von vielen Titeln weiterhin in fast schon absurden Höhen. 'Computer Bild' wird beispielsweise angeblich von 2,96 Millionen Lesern gelesen - obwohl nur 280.000 Exemplare pro Woche verkauft werden. 'Computer Bild Spiele' findet sogar nur rund 70.000 Käufer, soll aber angeblich 1,5 Millionen Leser haben. Jedes verkaufte Heft müsste damit von über 21 verschiedenen Personen gelesen werden. Auch bei großen Titeln wie dem 'Stern' ist das Missverhältnis beträchtlich. 740.000 verkauften Heften stehen dort angeblich rund 6,5 Millionen Leser gegenüber."

Auch wenn positive Interpretationen (horizont.nets Überschrift: "Im Schnitt liest jeder Deutsche acht verschiedene Zeitschriften") sowie vereinzelte Gewinner (dwdl.de: "'Bild der Frau', 'TV Hören + Sehen' und 'Auto Bild'") sich natürlich finden lassen, zeigt der Trend, was die Presse betrifft, in genau die Richtung wie die kurz zuvor veröffentlichten jüngste Auflagenzahlen.

Der TAZ etwa kamen "heftige 15,6% ihrer Leser abhanden" (meedia.de); just weist sie unter der Überschrift "Wir können auch heftig" darauf hin, die Zahl ihrer "taz.zahl ich"-Online-Abonnentinnen in vier Monaten fast verdreifacht zu haben. Der FAZ kamen nur 10,3 Prozent Leser abhanden; sie hat zufällig gerade auch "500 Spitzenkräfte aus Wirtschaft, Politik und Verwaltung zur Mediennutzung" interviewen lassen und teilt heute mit, stark von "Deutschlands Führungskräften" gelesen zu werden.

Der langsame Niedergang der Presse ist schon ein trauriges Spektakel, auch wenn sich bei der vermeintlichen Reichweite bloß fast absurde Höhen in dann natürlich ebenfalls absurde Fallhöhen wandeln. Nur die Werbeeinnahmen vermittelnden Media-Agenturen, deren Geschäftsmodell eigentlich auch anfechtbar wäre (siehe aktuell horizont.net), nahmen und nehmen die Höhen und Zahlen halt ernst.

[+++] Einer unserer größten Medienkonzerne, ein riesiger Werberahmen-Produzent, ein wichtiger Wettbewerber der öffentlich-rechtlichen Sender, ist schon wieder bei einem Unternehmen eingestiegen. Der ProSiebenSat.1 AG gehören nun 57,5 Prozent von sportdeutschland.tv, dem "Online-Sender des Deutschen Olympischen Sportbundes" (kress.de).

Am ausführlichsten berichtet die FAZ, die auch allein eine Zahl zu schätzen wagt:

"Der Preis für die Mehrheitsanteile dürfte höchstens im unteren einstelligen Millionenbereich liegen  - wenn überhaupt",

glaubt Michael Ashelm im Wirtschaftsressort (S. 21). Die Überschrift "Randsport als Geschäftsmodell" würde im Sportressort, das sich ja nicht immer nur über Fußball, Tour de France, Boxen und Biathlon zu berichten bemüht, wohl nicht stehen. Formulierungen wie

"Die Plattform ist ein Sammelbecken der Sportarten, die aufgrund mangelnder Zuschauerresonanz und des Quotendrucks nicht mehr oder nur unregelmäßig im Fernsehen gezeigt werden",

würde Michael Hanfeld auf seiner Medienseite wohl kaum gestatten. Es gibt schließlich gute Gründe, den "Quotendruck", unter dem die Rundfunkbeitrags-finanzierten Sender sich ständig wähnen, nicht als Kategorie der Berichterstattung zu übernehmen. Aber unterschiedliche Perspektiven kennenzulernen ist ja das Schöne an Zeitungen. Rein wirtschaftlich hält Ashelm das Geschäft für sinnvoll:

"Große Medienunternehmen wie Pro Sieben Sat 1 haben Vermarktungsgesellschaften gebildet, die wie Plattenfirmen in der Musikindustrie arbeiten. Sie suchen Talente und Portale, produzieren und promoten, verbinden Angebote im Internet mit dem Fernsehen. Reichweitenstarke Netzwerke zum Beispiel für Youtube-Kanäle kommen auf mehr als 500 Millionen Zugriffe im Monat und sind de facto große Online-TV-Sender. Pro Sieben Sat 1 will bei Sportdeutschland TV auch über das Branded Entertainment Geld verdienen. Gemeint ist hier die Verknüpfung von Inhalten mit Werbung."

Die SZ berichtet auf ihrer Medienseite und ist geneigt, den öffentlich-rechtlichen Sendern mehr Vorwürfe zu machen:

"Immer wieder bemängeln Mitglieder des Sportausschusses im Bundestag, dass die öffentlich-rechtlichen Sender ihrem Auftrag immer weniger nachkommen. Zwar haben ARD und ZDF gerade den sogenannten 'TV 32'-Vertrag mit den 32 größten deutschen Sportverbänden verlängert. Die damit verbundenen Übertragungsrechte für manche Ligen und Sportarten, so der Vorwurf, nutzten die Sender jedoch recht spärlich, oft lediglich in den dritten Programmen. Die Ausschussvorsitzende Dagmar Freitag kritisiert, dass die Sender von den Sportverbänden mitunter sogar die Übernahme von Übertragungskosten verlangten. Vorwürfe, gegen die sich das ARD und ZDF verwehren. Der Sender übertrage 'regelmäßig die ganze Bandbreite des Sports', heißt es vom ZDF. Etwa live von der Deutschen Meisterschaft der Leichtathleten am kommenden Wochenende in Nürnberg oder von der Schwimm-Weltmeisterschaft. Das allerdings sind die Perlen des Randsports",

schreibt Korbinian Eisenberger.

Während dwdl.de wie überall auch bei sportdeutschland.tv auf das Positive hinweist (das "zeigte zuletzt etwa die Live-Übertragung der Volleyball-Weltmeisterschaft, die nach Angaben des DOSB mehr als 400.000 Zuschauer im Netz erreichte"), steht der interessanteste Aspekt am Ende des kress.de-Artikels:

"Beim ZDF sieht man diese Entwicklungen positiv: 'Sportdeutschland.tv ist grundsätzlich eine interessante Ergänzung zu den Sportangeboten auf den verschiedenen Plattformen', so ein Sprecher gegenüber kress.de Bei Sublizenzierungswünschen aus dem Rechtebestand von ARD/ZDF werde es eine Zusammenarbeit wie mit anderen Interessenten auch geben."

ARD und ZDF scheinen also tatsächlich auf einem Sport-Rechtebestand zu sitzen, den sie irgendwie eingekauft haben, als es keine Wettbewerber gab, und lustlos oder gar nicht ausschöpfen. Für alle Sportler, die nicht in der Fußball-Bundesliga Millionen verdienen, sind die jüngsten Entwicklungen bei Fernsehrechten am sog. Randsport, auch am Olympischen (Altpapier), eher gute Nachrichten.

[+++] Und während sich deutsche Medienanbieter so durchwursteln, kommt aus den USA ein, äh, disruptiver Trend nach dem anderen, und wird hierzulande immer noch euphorischer bejubelt. "Vorbei sind die Zeiten, in denen das Internet nichts vergessen hat. Vorbei Walter Benjamins Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit", ruft faz.net angesichts der "extremen, unkontrollierten Authentizität" (welt.de) der App namens Beme aus. "(sprich: Beam)", informiert faz.net, wobei deutsch gesprochen wohl eher biem als be-am gemeint ist.

Immerhin ist Bernd Graff von der Süddeutschen kein Apple-Herold, sondern ein scharfer Kritiker. Im großen Seite drei-Stück "Wem die Stunde schlägt" analysiert er kenntnisreich, was alle Börsenfüchse bewegt: den jüngsten Apple-Geschäftsbericht. Womöglich ist die Watch gar kein ganz iPhone-artiger Bringer, lautet seine These, weil das, wenn doch, ja wohl drin stünde:

"Der Verdacht schleicht sich ein, dass entweder unsere Zeit noch nicht klug genug ist für eine intelligente Uhr - oder die Uhr noch nicht intelligent genug ist für unsere Zeit."

Auch aufschlussreich allerdings ist Graffs Argument am Ende des Artikels,

"der Youtube-Clip 'Apple Watch Sucks', in dem ein Jugendlicher jubelt: 'Mit der Apple Watch kann man Informationen über seinen Puls an seine Freunde verschicken.' – 'Ach ja', entgegnet ein anderer. 'Warum verschickst du kein Foto von dir, das belegt, dass du nicht tot bist – oder rufst einfach an?' Der Clip wurde 8,5 Millionen Mal angeklickt. Der Original-Clip von Apples Präsentation der Watch 1,2 Millionen Mal."

Deutsche Medien rätseln an prominenter Stelle anhand von großen Erfolgen auf Googles Youtube, ob ein aktuelles Apple-Produkt gar nicht der große Erfolg ist, zu dem sie es auch erst mal hochjazzten - das ist die Lage.


Altpapierkorb

+++ "Journalismus wird zerfallen. Mal sehen, was aus den Zerfallsprodukten wird. Von etwas auszugehen, was man als irgendein Ganzes 'Journalismus' nennt, könnte im jetzigen Stadium schon retromanisch scheinen (und ist an anderem Ort garantiert reaktionär). Es gibt keinen Journalismus in der Postdemokratie" (Georg Seeßlen im prinzessinnenreporter.de-Journalistenfragebogen). +++

+++ "Eitelkeit ist nicht mal die schlimmste Eigenschaft, die man Journalisten und Journalistinnen nachsagen kann", sagt Seeßlen überdies. Voten, welche Journalisten starke Marken sind, kann man dank kress.de aber dennoch +++

+++ "Die stete Gefallsucht, die sich in sozialen Medien ausbreitet, führt geradewegs in die Diktatur des eigenen Ichs. Texte können auch Selfies sein. Hensels Text ist eins": großer Heike Kunert-rant bei zeit.de gegen eine "eitle" Empörung Jana Hensels im SZ-Magazin. +++

+++ "Als man sie fragt, ob ihre Sendung nicht ein Indiz dafür sei, dass der Wolfgang-Bosbach-Polittalk seinen Zenit überschritten hat, blockt [Dunja] Hayali ab: 'Ich konzentriere mich auf uns und unser Format.' Über andere will sie nicht urteilen. Lieber lobt sie den Sender: Der 'Donnerstalk' sei 'ein Experiment, und ich schätze das', sagt sie. 'Das ZDF hätte es anders machen und wie in den Vorjahren eine tolle Reportage senden können oder das Auslandsjournal XXL.' Da ist sie wieder, diese Vorsicht: Hayali will das in sie gesetzte Vertrauen bloß nicht enttäuschen und nimmt dafür billigend in Kauf, eher fade Antworten zu geben, die in einem irritierenden Widerspruch zu ihrem eigentlich so offenen Wesen stehen." David Denk aber ließ sich nicht irritieren, auch nicht davon, dass eine Neu-Talkshow-Moderatorin ihren Sender dafür lobt, dass er in der Talkshow-Sommerpause keine Reportagen sendet, sondern noch 'ne Talkshow, und schrieb für die SZ ein nettes Hayali-Porträt. +++

+++ Wo sich Erfahrung von ihrer besten Seite zeigt: im naturgemäß traurigen Journalismus-Genre Nachruf. Auf medienkorrespondenz.de erinnert Karl-Otto Saur daran, dass der kürzlich verstorbene Regina-Ziegler-Ehemann Wolf Gremm in den 1970ern einen "Tatort", der dann für "17 Jahre in den Giftschrank" kam, gedreht hat. +++ Vorzug der Gegenwart: Derzeit findet, wer sucht, "Tod im U-Bahnschacht" komplett auf Youtube. +++

+++ Eine DPA-Meldung (welt.de) zitiert, was Walter Kohl der Bunten über das von Nico Hofmann produzierte Nun-nicht-mehr-Spiel-Filmprojekt über seine Mutter Hannelore Kohl sagte. +++ Bei bunte.de frei online ist nur das etwas ältere "Drama um ihre Film-Biografie!", das den Focus zitiert, zu haben. +++

+++ "Keine leichte Kost. Ohne technischen Sachverstand an seiner Seite hätte Graulich wohl keine Chance. Wochenlang wird sich der Sonderermittler nun über Listen mit Tausenden NSA-Spionagezielen, sogenannte Selektoren, beugen: Telefonnummern, Email- und IP-Adressen, Suchbegriffe. Dabei wird seit Wochen längst öffentlich, was Sonderermittler Graulich weiterhin geheim halten soll: Auf Wikileaks sind Spionageziele der NSA in Deutschland und Frankreich für jedermann einsehbar - darunter zahlreiche Telefonnummern im Kanzleramt, im Auswärtigen Amt, im Wirtschafts-, Finanz- und Landwirtschaftsministerium - aber auch ...": Da hat tagesschau.de ein kleines Dramolett um Richter Graulich, den special investigator in der NSA-Spähaffäre, gestaltet. +++ "Aufklärung sieht anders aus" (netzpolitik.org). +++

+++ Indes will sich die Bundeswehr offensive Cyberfähigkeiten zulegen (heise.de)- +++

+++ Smartphone und Tablets mit Google-Betriebssystem zeichnen Standortinformationen auf und leiten sie weiter, aber man "kann das mit wenigen Klicks unterbinden" (SPON). +++

+++ "Die Interessen ihrer Leser und Zuschauer" zu vergessen, wirft Katy Walther den Journalisten auf newsroom.de anhand jüngerer Streiks, über die in sehr unterschiedichem Ausmaß berichtet wurde, vor. +++

+++ Auf der wieder prallvollen FAZ-Medienseite geht's um die US-amerikanische Wired-Enthüllung, wie leicht Hacker via Internet die Kontrolle über digitalisierte Autos übernehmen könnten (siehe auch sueddeutsche.de). +++ Und um Hacker, die Kundendaten des Seitensprung-Portals Ashley Madison schon übernommen haben sollen.+++ Und um Charlie Hebdo, das die in Frankreich neu geschaffene "Rechtsform des 'solidarischen und sozialen Unternehmens'" annimmt. +++ Sowie um den Film "Zwei Leben", der zwar schon mal als deutscher Beitrag zum Auslandsoscar eingereicht wurde, aber vermutlich heute abend in der ARD auf sein größtes Publikum treffen wird. Obwohl sie auf einer von "Georg Mascolo und Hajo Schumacher 1997 im 'Spiegel' erzählten" wahren Begebenheit beruhe, entwickle "die deutsch-norwegische Produktion, die alles auf einmal sein will – ein dunkles Echo der Besatzungszeit in Norwegen, ein Stasi-Thriller mit Showdown, ein Familien-Drama ohne Happy End –, ... überraschend wenig Sogkraft", findet Matthias Hannemann. +++ Platz für einen kleinen Aufreger aus eigener Feder fand Michael Hanfeld natürlich auch noch. +++

Und auch der gestern hier erwähnte Hanfeld-vs.-Bernd, das Pörk-Artikel der FAZ steht nun frei online. +++

Neues Altpapier gibt's wieder am Freitag.