Quelle: bundesregierung.de

Quelle: bundesregierung.de
Merkel streichelt, und das Netz klettert auf die Zinnen (also nicht nur eine). Sprachliche Limitiertheit, schlimmster Alptraum, Übersprungshandlung? Jedenfalls eigentlich überflüssiges PR-Material für Medien, die sich selbst etwas draus zusammenmontieren und immer ihr Logo draufpappen. Außerdem: wo man Reem wiedersehen kann; eine Shitstorm-Themenzeitungsseite (mit Dieter Nuhr!).

Da haben die Bundeskanzlerin und ihre personalstarke PR-Abteilung ein, wie wir Online-Twitterer gerne sagen, Mem geschafffen. ("Online-Twitterer" ist ein Fachbgeriff der FAZ-Medienseite).

Der Hashtag #merkelstreichelt läuft auch am Tag danach noch bestens, den Tumblr gibt's natürlich längst, und selbst öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten, denen wirklich niemand vorwerfen könnte, Trends früh zu adaptieren oder Politiker aus Parteien, die in ihren Rundfunkräten wichtige Rollen spielen, oft zu kritisieren, sind schon voll dabei.

Um ein paar analytische Stimmen zu zitieren:

"Was dem YouTuber Lefloid in seinem Interview mit der Bundeskanzlerin nicht geglückt ist, schafft Reem: Merkel konfrontieren. Die, die gerade noch so klar und ehrlich erzählt hat, fängt an zu weinen" (Viktoria Morasch, TAZ).

"Etwas in der Öffentlichkeit tun oder zu sagen, was die Medien gegen sie benutzen können, was sie dann Wählerstimmen kostet und also Machtverlust bedeutet - das ist Merkels schlimmster Alptraum. Und den projiziert sie intuitiv auf das weinende Flüchtlingsmädchen." (Michael Seemann, mspro.de)

"... gerade Angela Merkel ist für solch einen Aufprall anfällig. Sie hat das Gefühl aus ihrer Politik verbannt. Sie hat sich in der Griechenland-Krise angewöhnt, der Wut, dem Zorn, der Trauer der Griechen Fakten und Zahlen entgegenzuhalten, Emotionen der Rationalität unterzuordnen. Das hat sie hier auch getan - im Gespräch mit einer Sechstklässlerin. Und so standen in Rostock die Tränen des Kindes und die Rationalität der Kanzlerin nebeneinander, und Merkel wirkte so hilflos und kalt wie Wolfgang Schäuble angesichts der weinenden griechischen Rentner" (Paul Munzinger, heute vorn auf der SZ).

"Tatsächlich reagiert Merkel auf die Emotion Reems - nur ist es keine sprachliche Reaktion. Sie geht vielmehr auf das Kind zu und sucht den Körperkontakt. Das Streicheln, eine Geste, sagt das, wozu Merkels Sprache nicht reicht. Merkel ist, wenn man sie wirklich dafür kritisieren will, in diesem Moment nicht emotional beschränkt, sondern sprachlich limitiert ..." (Robin Alexander in Springers Welt)

"Mit verlegenem Lächeln geht sie auf das weinende Kind zu, berührt in einer hilflosen Geste dessen Schulter, versucht unbeholfen zu trösten. Was aus diesem Bild vor allem spricht, ist die grenzenlose Überforderung. Wer wäre das nicht? Die Körpersprache der Kanzlerin verrät das überdeutlich; ihr Lächeln ist unter Psychologen als sogenannte 'Übersprunghandlung' bekannt ..." (Heike Rost auf rolandtichy.de; Tichy ist u.a. Vorstandsvorsitzender der Ludwig-Erhard-Stiftung).

"An einer Stelle entlarvte sich die Regierungschefin selbst. Asylanträge würden künftig schneller bearbeitet, betonte sie. "Und die einzige Antwort, die wir haben, ist: Bloß nicht, dass es so lange dauert", sagte sie wörtlich. Wohlgemerkt: Die einzige Antwort" (Annett Meiritz, Spiegel Online  unter der Überschrift "Die Kühle der Kanzlerin ist nicht das Problem").

"Mir geht diese wohlfeile Empörung gehörig auf die Nerven. Mehr noch: Mir nötigt Merkels Reaktion tatsächlich so was wie Respekt ab!" (Volker Königkrämer, Redakteur vom Dienst beim Stern, der sozusagen seinen aktuellen Cover-Star verteidigt).

"Warum sollen wir Bürger den 'Volksvertretern' mehr Empathie entgegen bringen, wenn die Kanzlerin ein Flüchtlingsmädchen tröstet wie Heidi Klum eine gescheiterte GNTM-Kandidatin?" (Thomas Knüwer, der als echter Onliner seiner Emotionalität früh online Luft machte und bereits in der Überschrift des Blogeintrags so auf die Kacke haut, dass es am meisten spritzt; "Angela Merkel auf einem neuen, widerlichen Tiefpunkt" lautet sie).

Sie sehen schon, wie nahezu immer liegt im Auge des Betrachters, was genau jeder sieht. Wie z.B. Knüwers Updates und der darüber verlinkte stern.de-Artikel zeigen, hat die Meinung zum Mem außerdem mit dem Video zu tun, mit dem Interpretatoren damit zuerst konfrontiert wurden. Königkrämer, der seinen Text übrigens mit dem bleibenswerten Satz "Das Netz ist auf der Zinne" einleitet, verlinkt darin zur "Langfassung des Videos bei der FAZ", was insofern stimmt, als dass faz.net zu denen gehört, die einen fast sechsminütigen Zusammenschnitt der Merkel/ Reem-Szene zeigen (und zwar gleich mit als FAZ-Logo eingeblendetem Fraktur-F).

Damit ist das Video mehr als doppelt so lang wie der Ausschnitt aus der "NDR-Aktuell"-Nachrichtensendung mit dem weit herumkommenden Moderator Thomas Kausch, der die Aufregung auslöste und etwa vom oft besonnenen Sascha Lobo per entschiedenem Tweet verbreitet wurde. Bei Youtube ist er am Freitagmorgen mehr als eine Million mal aufgerufen worden, allerdings auf keinem NDR-, sondern einem privaten Account.

Überdies hat sich außer der FAZ auch wiederum der NDR, nun in Gestalt der Redaktion des Politmagazins "Panorama", verdient gemacht und einen Zusammenschnitt ins Netz gestellt, der nur elf Sekunden kürzer ist als der relativ lange von faz.net ("Wir zeigen den ganzen Dialog"). Achten Sie ggf. auf das 1-Logo oben rechts, das Zuschauer des ARD-Fernsehprogramms bekannt vorkommt.

Die wahre Langfassung allerdings, der director's cut, dauert 88-einhalb Minuten, beinahe so, als hätten die Produzenten ihre "Gut leben in Deutschland"-Show für den Sendeplatz zwischen 20.15 und 21.45 Uhr konzipiert. Zu haben ist er und sind "Fleißsternchen in der Presseabteilung der Regierung" (Knüwer-"Nachtrag III") in der Mediathek von bundesregierung.de. Hoffnungen, dass zumindest internationale Partnerdienste der Bundesregierung registrieren werden, wer sich wirklich alles angeschaut (oder in hoch oder noch höher auflösenden Versionen á 1,35 bzw. 3,89 GB runterladen hat), wären nicht unbegründet.

Falls Sie eher der Marke "Spiegel TV" vertrauen: Spiegel Online hat sowohl eine über elf-  als auch eine zweieinhalbminütige Version im Angebot. Erst mal ihr eigenes Logo draufgepappt haben Spiegels Markenstrategen natürlich auch. Später blenden auch sie ein: "Quelle: bundesregierung.de".

Dieses bundesregierung.de stellt mit viel Manpower (bzw. v.a. Womanpower, außer in den leitenden Funktionen) und wahrscheinlich für viel Geld viel Medienmaterial bereit, inzwischen vor allem als Bewegtbild, und freut sich im Allgemeinen, wenn es irgendwo irgendwie eingebunden wird. Schließlich achten Experten darauf, dass nichts gegen die Bundesregierung verwandt werden kann. Gestern dürfte es sich über die überdurchschnittlich vielen Verwendungen nicht gefreut haben.

Gut-leben-in-deutschland.de ("Die Realisierung erfolgt mit dem Government Site Builder, der Content Management Lösung der Bundesverwaltung ...") ist eines der Angebote von bundesregierung.de, und auch in Gebärdensprache, Leichter Sprache und English zu haben. Es gibt eine umfangreiche Mediathek, für Leseratten aber auch einen Blog. Beim Eintrag über die Veranstaltung in Rostock hat das bundesregierung.de-Team gestern den Fehler begangen, eine vielleicht von mehreren Regierungsdirektoren freigegebene, aber doch dümmliche Passage ("Vor lauter Aufregung musste das Mädchen weinen") nach der ersten tatsächlichen Aufregung unkommentiert nachzubessern, wie zuerst wohl Jakob Wais auffiel (Twitter) und Knüwer dann bekannt machte.

Parallel hat sich die Interpretation der Videoausschnitte entwickelt. Mit

"Allerdings zeigt der NDR-Ausschnitt nur die halbe Wahrheit. In dem offiziellen Video der Bundesregierung, das wir hier dokumentieren, ist mehr zu sehen",

war faz.net in Gestalt Jonas Jansens früh dabei, die erste Aufregung zu relativieren und den Blick auf die Metaebenen zu richten, auf denen längst ja auch immer die Hölle los ist.

Einen ausgewogenen Kommentar hat auch evangelisch.de-Portalleiter Hanno Terbuyken geschrieben. Einen guten Überblick und eine Pointe bietet der tagesspiegel.de-Bericht von Robert Birnbaum und Stephan Haselberger:

"Alle wollen Reem aufspüren. Das kleine Mädchen mit der Gehbehinderung könnte zum Talkshow-Star werden, zur Kronzeugin für oder gegen Merkel. Besser wäre, die Suche misslingt. Sie ist jetzt schon mehr als genug Gegenstand. Und übrigens - vielleicht muss sie sich gar keine Sorgen machen. Gerade erst hat die Regierung das Bleiberecht geändert, der Bundespräsident muss nur noch unterschreiben. Gut integrierte Jugendliche und ihre Familien dürfen dann nach vier Jahren hier bleiben, nicht wie bisher nach sechs. Merkel ist das auch nicht eingefallen in diesem Moment."

Prima gemacht im Sinne, den Angela Merkel in vielen Versionen viral abgehender Videos anspricht, hat Angela Merkel diesen Auftritt zweifellos nicht. Aber für Regierungschefs gibt es viele andere Situationen, in denen es erheblich wichtiger wäre, prima zu agieren als eher überflüssige PR-Auftritte.

[+++] Wo man jedenfalls Reem wiedersehen kann: Morgen, am Samstag, um 20.10 im Kinderkanal in einer Spezialausgabe der Sendung "Erde an Zukunft" (deren Moderator Felix Seibert-Daiker bereits kennt, wer eines der #merkelstreichelt-Videos ganz angeschaut hat).

"Einfühlsam begleitet 'ERDE AN ZUKUNFT' den 17-jährigen Peter und die 14-jährige Reem bei der Vorbereitung des Treffens sowie während der Diskussion und fragt die Teilnehmer nach ihrer Einschätzung danach. Exklusiv für 'ERDE AN ZUKUNFT' schildert Reem dabei ihre Gefühle nach dem Treffen mit der Kanzlerin"

teilt der ARD/ZDF-Kika gerne mit. Den Privatfernsehshow-Trend, Kandidaten nicht nur in Shows zu zeigen, sondern sie auch vorher zu befragen, was sie sich erhoffen, und hinterher, wie sie sich nun fühlen, hat das öffentlich-rechtliche Fernsehen ja doch längst adaptiert.
 


Altpapierkorb

+++ Felix Seibert-Daiker wurde übrigens auch schon gefragt, wie er sich hinterher fühlte (sueddeutsche.de). +++

+++ Die FAZ-Medienseite ist heute quasi eine "Shitstorm"-Themenseite. Unter der Überschrift "Die streichelnde Kanzlerin landet im Shitstorm" fasst auch Michael Hanfeld alles zusammen ("... dass die Bundeskanzlerin mehrfach nachfragt und auf die ihr eigene ungelenke Weise versucht, Interesse und Verständnis zu zeigen. Wirklich gut gelingt ihr das nicht, weil sie die Kunst der Verstellung nicht so gut beherrscht wie viele andere ihrer Zunft - über die sich Pressekollegen und Online-Twitterer dann gerne genau dieser Attitüde wegen empören"). +++ Und "der Shitstorm ist die Hexenverbrennung des 21. Jahrhunderts, Gott sei Dank bei angenehmen Temperaturen, 'nur' sozial, nicht physisch vernichtend", schreibt Dieter Nuhr ("Kabarettist, Autor und Moderator. Im August geht er mit seinem neuen Programm 'Nur Nuhr' auf Tournee") im größten Artikel: "Was allerdings im Internet im Anschluss an mein Posting" - siehe Korb unter diesem Altpapier - "passierte, hatte nichts mit einer Diskussion zu tun. Ein sogenannter Shitstorm, ein neues und nur im Internet vorzufindendes meteorologisches Phänomen, zog auf. Für den digital Unbedarften sei erklärt ..." Digital Bedarfte müssen das nicht unbedingt lesen bzw können warten, bis es frei online gestellt wird. Jedenfalls: "Die Primitivität und Aggressivität, mit der Andersmeinende im Internet verfolgt werden, scheint mir denselben psychologischen Mechanismen zu folgen, die früher zu Lynchjustiz und Pogromen führte". +++ Im dritten Artikel befasst Gina Thomas sich mit Tim Hunt (Der "Biochemiker und Nobelpreisträger ... scherzt über Frauen im Labor, und auf Twitter geht es rund"). +++

+++ Für manche mag es Teil der Lösung sein, für andere wie die Bundesdrogenbeauftragte ein aufkommendes deutsches Problem: wachsende "Medienabhängigkeit" (Standard). +++

+++ "Junge berufstätige Frauen, denen klassische Frauenmagazine mit ihren Schminktipps und 'Daran merkst du, dass er dich liebt'-Geschichten zu platt sind, sind zu einer eigenen Zielgruppe geworden – einer, die auch für Werbekunden attraktiv ist", hat Karoline Meta Beisel für die SZ-Medienseite beobachtet. Dieser Trend kommt aus den USA, wo Lena Dunham gerade den Newsletter namens Lenny ankündigte. +++

+++ Außerdem geht's in der SZ um die BBC (vgl. dieses Altpapier), bei der der britische Kulturminister John Whittingdale grundsätzlich klären lassen will, ob sie "zu groß geworden ist". Und um Artes "Summer of Peace" (Die Doku "Give Peace a Chance - Kann Pop die Welt retten" am Sonntag "scheint so sehr um Liebe und Frieden bemüht zu sein, dass sie vergisst, über eine Bestandsaufnahme des Pop hinauszudenken, Position zur Welt von heute zu beziehen. Wie auch der größte Teil des Programms", schreibt Benedikt Frank). +++

+++ Warum das Talkshow Thema Griechenland "die Sommerpause dringend braucht", beschreibt Frank Lübberding auch anhand der gestrigen Maybrit-Illner-Sendung (faz.net). +++

+++ Jan Freitag findet im Tagesspiegel den Porträtfilm, den Thomas Schadt Ehrenspielführer der deutschen Fußball-Nationalmannschaft schenkt, also Franz Beckenbauer, "sehenswert ... und missraten zugleich". +++

+++ Nicht sehenswert war das Fußball-Turnier mit Bayern München auf Sat1 - außer unter dem Aspekt, dass zwar nicht für deutsche Fernsehzuschauer, aber für internationale erstmals virtuelle Werbung aus Deutschland gezeigt wurde: Da "sahen Fans in den Niederlanden, Großbritannien, Irland, Polen und der Türkei zu, der eine Black&Decker, der andere polnisches Bier, via fünf zusätzlichen Signalen bei der Liveübertragung" (Markus Ehrenberg im Tagesspiegel). +++

+++ "Unfassbare Nachverurteilung" (Kachelmann-Anwalt Ralf Höcker auf Twitter zur Kabel 1-Sache). +++

Neues Altpapier gibt's wieder am Montag.