Seligkeit ist relativ

Seligkeit ist relativ
Der vielleicht beste öffentlich-rechtliche Rundfunk der Welt will 1.000 Mitarbeiter loswerden. Die Leaker in Europas zweitgrößter Rundfunkanstalt haben ihrem Anliegen eher keinen Gefallen getan. Und verdienen die ARD/ ZDF-Olympiareporter Mitleid? Außerdem: Ronald Pofalla war wieder da (die alte Hassliebe lebt); Charlie Hebdo auf deutsch.

Haben die Briten, gewiss weltpolitisch "Pudel" der US-Amerikaner (Kurt Kister, SZ gestern), aber ja doch noch in vielen Aspekten der populären Kultur Vorbild, eigentlich eine coolere oder sogar stilvollere Art, schlechte Nachrichten in eigener Sache zu vermelden?

Jein bis nein, wenn man die aktuelle Nachricht der BBC in eigener Sache betrachtet. "A simpler and leaner BBC" lautet die Überschrift im Media Centre, als sei die BBC, nur zum Beispiel, die Funke-Mediengruppe, die sich ja auch immer noch schlanker aufstellt. Im sage und schreibe fünften Absatz erst, den Vorspann gar nicht eingerechnet, verbirgt sich dann die eigentliche harte Zahl:

"The new measures being proposed will help bridge that gap by delivering £50m in savings from merging divisions, cutting down management layers, reducing managers and improving processes. More than 1,000 posts will be lost as a result."

Mehr als 1.000 Stellen sollen im womöglich besten öffentlich-rechtlichen Rundfunk der Welt gestrichen werden.

"Und das hat seinen Grund. Anders als die deutschen öffentlich-rechtlichen Sender, die mit dem von allen zu zahlenden Rundfunkbeitrag mehr als acht Milliarden Euro pro Jahr sicher haben, bezieht die britische Rundfunkanstalt ihre Lizenzgebühr nur von denen, die einen Fernseher besitzen. Da immer weniger Briten einen solchen haben, nimmt die BBC im kommenden Jahr 150 Millionen Pfund weniger ein",

bringt Michael Hanfeld in der Nachrichtenspalte der FAZ-Medienseite auf den Punkt. (Er hat heute wenig Platz, weil er die Rede "Das Vertrauen in Qualitätsmedien besteht", die der ZDF-Intendant Thomas Bellut sich anlässlich einer vom ZDF beauftragten repräsentativen Umfrage schreiben ließ, abdruckt). Der Tagesspiegel übersetzt ausführlicher:

"'Die Leute sehen die Programme mehr und mehr online oder auf ihren Mobilgeräten', sagte [BBC-Generaldirektor Tony] Hall. Der um sich greifende Wechsel zum Online-Schauen habe Mindereinnahmen in Höhe von 150 Millionen Pfund (211 Millionen Euro) zur Folge. In Großbritannien erwirbt ein Haushalt für den Fernsehempfang mittels TV-Apparat - Radio ist kostenlos - eine Lizenz, die jährlich erneuert werden muss."

Es handelt sich also um ein geräteabhängiges Paradebeispiel für genau das, was der umstrittene geräteunabhängige Rundfunkbeitrag hierzulande vermeiden sollte und ja auch vermieden hat.

"It is arguably the case that the policy of encouraging more people to watch high-quality television on small screens rather than on the television sets was so successful that 1,000 BBC employees now face the sack as a result",

spitzt der Guardian noch etwas weiter zu - das Maß aller Dinge für uns kosmopolitische Onlinejournalisten (auch wenn Einstiegssätze wie "Ancient preparations for war typically included a last-minute sacrifice to the gods, and the BBC is no different" gewöhnungsbedürftig bleiben). Die BBC sei insgesamt derart bedroht, dass ihre Obermanager schon mal "1,000 unloved middle-manager" "opfern" möchten, um noch Schlimmeres abzuwenden, lautet der Tenor.

"Da leben wir bei ARD und ZDF noch auf einer Insel der Seligen!",

lautete gestern ein Tweet aus dem deutschen öffentlich-rechtlichen Rundfunksektor.

[+++] Wobei die Seligkeit relativ ist (oder individuell).

Der gestern hier erwähnte Twitter-Account @WDR_Leaks ist nicht mehr nur schlank (gestern bestand er zeitweise nurmehr aus zwei Tweets, darunter einem abschließenden, der sich über die erreichte große Aufmerksamkeit freute), sondern vollkommen verschwunden.

Was bleibt, ist ein Interview, das radiowatcher.de-Macher Ekki Kern mit den Menschen, die sich hinter dem Account verbargen, ebenfalls via Twitter führte:

"Wie viele seid Ihr denn eigentlich?"

WDR Leaks: "Das möchten wir nicht preisgeben. Wir kommen aus verschiedenen Ressorts: TV, die meisten aus der Gruppe sind von den Rundfunkwellen",

lauten die erste Frage und die Antwort darauf, und so ungefähr geht es weiter. Z.B.:

"Hat sich jemand von Euch mit dem Vorschlag der erwähnten anonymen Umfrage mal 'nach oben' gewandt?"

"Das wurde nur mal bei Tür- und Angelgesprächen ins Spiel gebracht. Wer das aber öffentlich vorschlägt, fällt wiederum auch auf."

"Ihr habt Angst, wegen eines solchen Vorschlags gleich Euren Job zu verlieren?"

"Nicht direkt. Aber wer so etwas bezüglich der Reform vorschlägt, hat etwas zu kritisieren. Und scharfe Kritik würde auf Initiatoren zurückfallen."

So entsteht ein aufschlussreiches Psychogramm der zum Teil offenbar nicht fest angestellten ("... weil wir um unsere festen und freien Jobs fürchten") anonymen WDR-Mitarbeiter, die den Account betrieben. Aber auch der Eindruck, dass diese sich und ihrem Anliegen dann doch überhaupt keinen Gefallen getan haben, oder wer möchte sich von so furchtsamen Journalisten seinen öffentlich-rechtlichen Rundfunk machen lassen? Es gibt ja sogar Kollegen in privatwirtschaftlichen Medien, die statt "Rundfunkbeitrag" lieber "Zwangsgebühren" sagen. Und dass Transparenz und klare Haltung unbedingt nötig sind, um die Legitimation des öffentlich-rechtlichen Rundfunks aufrecht zu erhalten, schien eigentlich schon ein älterer Hut gewesen zu sein.  

Wer sich schon immer dachte, dass im WDR alle einander das Leben besonders schwer machen (ohne dabei besonders viele gute Programme zu produzieren), kann sich bestätigt fühlen.

[+++] Muss man sich Sorgen machen um um

"etliche Dutzend, vielleicht gar Hundertschaften von ARD- und ZDF-Mitarbeitern, die 2016 in Rio de Janeiro vorerst zum letzten Male die Olympiaübertragungen produzieren"?

Nein, meint Jens Weinreich (krautreporter.de), "das Beileid mit den jetzt tieftraurigen Öffentlich-Rechtlichen" dürfe sich "in Grenzen halten", die Reporter werden dann halt "im Reich von Discovery/ Eurosport anheuern." Vor allem nimmt Weinreich die bisherige Berichterstattung zum Thema auseinander:

"Das IOC hat die Rechte weder 'meistbietend' verhökert ('Die Zeit'), noch war der Entscheidungsprozess sonderlich 'verdächtig' und 'ungewöhnlich' ('Süddeutsche Zeitung'). Vielmehr reiht sich diese Rechtevergabe ein in eine lange Liste normal unnormaler Deals und korrespondiert mit dem Vorhaben des deutschen IOC-Präsidenten Thomas Bach, einen olympischen TV-Kanal aufzubauen. In öffentlich-rechtlichen Strukturen wäre das nicht möglich. Was nicht heißt, ARD und ZDF könnten nicht doch von 2018 bis 2024 Olympia oder Teile davon übertragen. Es wird jede Menge Sublizenzen geben, einige davon werden neue Geschäftsbereiche erschließen. Und über die Sublizenzen wird sich die Rechtesumme von 1,3 Milliarden beträchtlich erhöhen",

erklärt er die für vier ganze Turniere in der Tat gar nicht ungeheuer hoch erscheinende Summe, bevor er viele weitere Zahlen und Fakten auch zu schon länger verstorbenen Persönlichkeiten wie Leo Kirch und  Juan Antonio Samaranch aus dem Schatzkästchen seiner Erfahrungen holt, um die lange Liste mit Leben zu füllen. Indes stößt bei medienkorrespondenz.de Dietrich Leder dem (am Mittwoch hier erwähnten) ARD-Sportkoordinator Axel Balkausky noch mal Bescheid:

"Dass ARD und ZDF ... sicher anders als Eurosport auch kritisch über die Länder berichteten, in denen die Spiele jeweils stattfanden, können sie zu Recht anrechnen lassen. Doch das hat, mit Verlaub, nichts mit den Sportrechten zu tun, sondern ist Teil der journalistischen Pflichten öffentlich-rechtlicher Programme. Ebenso absurd erscheint die Reaktion von Balkausky und anderen Vertretern des öffentlich-rechtlichen Systems, die vorsichtig durchblicken ließen, dass man dann in Zukunft von Sportübertragungen von olympischen Sportarten im Programm Abstand nehmen werde. Als wenn Programmplanung nach dem Prinzip von Kindergartenstreitereien betrieben würde! Oder haben ARD und ZDF in den vergangenen Jahren von ihnen eigentlich unwichtig erscheinenden Sportarten wie Rudern oder Ringen nur deshalb berichtet, um beim Nationalen Olympischen Komitee (NOK) gute Stimmung für die Olympia-Rechte zu erzeugen?"

Bzw.: Berichten sie überhaupt noch vom ur-olympischen Ringen, das ja beinahe von den Spielen ausgeschlossen worden wäre? Zumindest auf sportschau.de ist zurzeit dazu nichts im engeren Sinne zu finden.

[+++] Weiter mit Ronald Pofalla, aber das geht auch im ...


Altpapierkorb

+++ Am ausführlichsten ist die Aussage des Bundeskanzleramts-Chefs von 2009 bis 2013 gestern im NSA-Untersuchungsausschuss im Liveticker von netzpolitik.org (unten ab 17.42 Uhr) nachzuvollziehen. +++ "Er ist giftig aufgelegt, als er am Abend auf dem Zeugenstuhl Platz nimmt. Die neuen Vorwürfe interessieren ihn gar nicht. Er hat etwas anderes vor. Er will anklagen. Die Medien. Das parlamentarische Kontrollgremium des Bundestages, das längst nicht mehr geheim tage. Alle, die die Arbeit der deutschen Geheimdienste in Zweifel stellen ... " (sueddeutsche.de). +++ " ... ein selbstgerechter, äußerst arroganter Zeuge. Er geht mit allen ins Gericht - nur nicht mit sich selbst" (zeit.de). +++ "Pofalla war in der Politik für viele nie das, was man einen Sympathieträger nennt. Er wiederum hat gerne den Eindruck erweckt, dass ihn Kritik nicht kratzt, schon gar nicht von Journalisten. Keine Zigaretten mehr zu haben, war für ihn dramatischer als die Nörgelei irgendwelcher Schreiberlinge ..." (Nico Fried, SZ, S. 3). Die alte Hassliebe lebt also. +++

+++ "Vor zwei Jahren erschien der Roman von Dave Eggers 'The Circle'. Er übersetzt die totalitären Überwachungsphantasien aus George Orwells '1984' in die Internetzeit. Im Kern geht es bei Eggers darum, ob die durch das Netz entstandenen technischen Möglichkeiten, Transparenz zu schaffen, bis ins Extrem angewandt werden sollten. Durchgespielt wird das am Beispiel der amerikanischen Politik. Am Ende von 'The Circle' können nur noch die Politiker bestehen, die all ihr Handeln per Kamera und Mikrofon gläsern für die Öffentlichkeit machen. Es gibt kein Telefonat, keine Konferenz, kein Hinterzimmermeeting von Politikern mehr, das nicht im Internet für jedermann zu verfolgen wäre. Irgendwie herrschte am Donnerstag im politischen Berlin eine Art Circle-Stimmung. Die Enthüllungsplattform Wikileaks hatte dafür gesorgt ..." (FAZ, S. 2). +++

+++ Anfangs des Jahres war Charlie Hebdo mit Recht in aller Munde. Jetzt haben sich vier deutschsprachige Karikaturenmuseen zusammengetan, um präsentiert: um Auszüge auf deutsch zu präsentieren: Über die Form lässt sich streiten, aber das ist ja auch der Zweck. Hntergründe: EPD. +++

+++ Der obskure Rechtsstreit um eine angebliche Beleidigung namens "Rabauke" im Nordkurier aus Mecklenburg-Vorpommern (siehe zuletzt dieser Nordkurier-Artikel und zuletzt dieser Altpapierkorb) ist heute Thema der SZ-Medienseite. Thomas Hahn sieht in der Sache eine "Affäre mit Strahlkraft" und ein "Lehrstück über die Verwundbarkeit der Pressefreiheit", das die "Schere im Kopf" von Journalisten schärfe. +++

+++ Die Panoramafreiheit beim Fotografieren könnte die Abstimmung im EU-Parlament doch überstehen (heise.de). Quasi ein Beispiel für das, was passieren könnte, wenn nicht, einen urheberrechtlichen Streit um ein Foto, das dem Nutzer gemeinfrei schien, schildert Daniel Bouhs in der TAZ. +++

+++ Sind alle deutschen Feuilletonisten Apple-Fans? Nein, zumindest Andrian Kreye nicht. "Der Kuschelkurs der Firma Apple mit der Popkultur ist verlogener Schwachsinn", schreibt er unter der Überschrift "Kolonialisten aus dem Silicon Valley" auf der SZ-Meinungsseite. "Steve Jobs ging es auch nie um Musik. Für ihn war Kultur immer nur digitaler Rohstoff. Eine Haltung, die vor allem eines ausdrückt: kulturellen Kolonialismus." +++ "Warum fahren eigentlich immer mehr Taxis mit Reklame von 'Uber' durch die Gegend? Wollte die Innung die digitale Mitfahrkonkurrenz nicht zu Tode klagen? Oder laufen neuerdings auch Elefanten mit Werbung für schicke Elfeinbeintischchen herum?" (Tagsspiegel-Chefredakteur Lorenz Maroldt in seinem heutigen "Checkpoint"-Newsletter). +++

+++ Die beiden neuen Fernsehserien, in denen Cordula Stratmann im Juli Hauptrollen spielt, "Die Kuhflüsterin" ab heute in der ARD und "Ellerbeck" demnächst im ZDF, scheinen noch keine deutschen "Breaking Bad"s zu sein. Hans Hoff meint in der SZ: "Wäre man wohlwollend, könnte man sagen: Familienunterhaltung, die niemandem wehtut. In der Marktforschung zur ZDF-Serie hat eine Frau ihrem Krimiüberdruss Luft gemacht. 'Endlich mal was zum Lachen, wo keine Leichen drin vorkommen', hat sie gesagt. Das mit dem Lachen fällt aber nur dann leicht, wenn man sonst auch Katzenvideos lustig findet". +++ Michael Hanfeld in der FAZ zu ersterer Serie: "Auf Pointen der Marke direkt, ohne Umschweife und mit dem Vorschlaghammer müssen wir nicht lange warten." +++

+++ "Warum der Korrespondent von 'El Pais' Ägypten verlassen hat", steht nicht wirklich im Artikel der SZ-Medienseite unter dieser Überschrift, weil Ricard González über Details seiner schnellen Ausreise nach einer Warnung vor Verhaftung gar nicht reden darf. Aber eine Vermutung: weil seit Februar zehn Prozent der El Pais-Verlags Prisa der wiederum einem "katarischen Sultan" zuzurechnenden International Media Group gehören, den Ägyptens Regierung nicht schätzt. +++

+++ "Zum fünften Mal in Folge erreicht das evangelische Magazin chrismon mehr als eine Millionen aktive Leser und Multiplikatoren und gewinnt damit fast 100.000 neue Leser hinzu", laut der aktuellen "Allensbacher Markt- und Werbeträgeranalyse 2015" (evangelisch.de). +++

+++ "Die Marke 'Chip' stand einst für eine seriöses Technik-Magazin": lehrreicher lousypennies.de-Artikel, nicht über Hubert Burda Media, der die Marke gehört, sondern über Reichweitenoptimierung und das "Curiosity Gap". +++

+++ Am Donnerstag hatte die SZ-Medienseite neue deutsche Fernsehfilme, die auf dem Münchener Filmfest laufen, vorgestellt. +++

+++ Wer nun noch ein bisschen lesen möchte: Unter der Überschrift "Warum wollt ihr unseren Quatsch?" (die wohl das eindringlichere "Warum seid ihr so empfänglich für unseren Bullshit? Warum?" noch mehr übersetzt) steht das gestern hier erwähnte Jaron Lanier-Interview der FAZ nun frei online. +++ Und die vor acht Tagen hier ausführlich gewürdigte Die Zeit-Titelstory inzwischen übrigens auch. +++

Neues Altpapier gibt's wieder am Montag.