Eine Pfeife sagt mehr als 1000 Worte

Eine Pfeife sagt mehr als 1000 Worte
Günter Grass ist tot und Thorsten Schäfer-Gümbel hat dazu etwas zu sagen. Die verlorene Ehre des Reality-Fernsehens in Form von „Newtopia“ erschüttert die Meedia-Chefredaktion. Die einmalige Gelegenheit, Journalismus zu unterstützen und dafür einen Häkelpenis zu bekommen. Ferdinand Piëch ruft zu spät zurück, Correctiv hat eine Frage und Charlie Hebdo zu viel Geld.

Wenn man die Wichtigkeit einer Meldung an der Fotoanzahl einer Bilderstrecke bei Focus Online ablesen könnte, dann wäre die gestrige Nachrichtenlage wie folgt zu sortieren:

„Techno Classica 2015: Essen auf alten Rädern“

„Tradition: 50 Jahre Toyota 2000 GT“

„Literatur: Günter Grass gestorben.“

Die Titelblätter der gedruckten Zeitungen legen den Schwerpunkt etwas anders:

Die SZ zeigt Günter Grass mit rauchender Pfeife.

Die taz zeigt Günter Grass mit rauchender Pfeife.

Die FAZ zeigt Günter Grass mit rauchender Pfeife in einem Zug.

Und die Bild-Zeitung zeigt gleich nur die Pfeife.

Während die ARD gestern Abend spontan „Die Blechtrommel“ zeigte und dabei ebenso, wie traurig das Programm an einem Montagabend sonst aussieht:

„,Hart aber fair’ entfällt somit ebenso wie der ,Reise-Check’“. (DWDL)

Eine Übersicht über die Nachrufe und Reaktionen zu erstellen, würde das Altpapier zerlegen, doch das brauchen wir heute noch für die schockierenden Nachrichten aus den Candy-Land, die uns gestern erreichten. Daher sei hier nur stellvertretend erwähnt, dass so ziemlich jeder Politiker von Thorsten Schäfer-Gümbel bis Wolfgang Kubicki zum Tod von Grass eine Stellungnahme abgegeben und das Handelsblatt online nicht davor zurückgeschreckt hat, diese in einer Bildergalerie zu präsentieren (13-teilig!).

Außerdem können wir zumindest in dieser Hinsicht beruhigt sein: Grass’ Lebensgeschichte ist vor einer Biopicisierung durch Nico Hofmann sicher. So zumindest der Stand der Dinge vor zwei Wochen, als er im Interview mit Springers Welt sagte:

„Aber mein Bauchgefühl sagt mir: Ein Biopic über Günter Grass – das guckt sich in Deutschland kein Mensch an. Auch keinen Film über Martin Walser. Das interessiert keinen.“

Was auch die nachrichtenwertliche Einsortierung bei Focus Online erklärt.

[+++] Wir machen einen großen Themensprung und ein kleines Spiel. Es heißt „Wer hat’s gesagt?“ Bitteschön:

„Das nennt man Fallhöhe erzeugen. Wie kann man sich nur hinstellen und so etwas sagen, wenn man doch wissen muss, dass in Wahrheit alles Lüge ist? Die Zuschauer werden hier belogen und für dumm verkauft.“

Zur Auswahl stehen ein betrunkener „Newtopia“-Fan, der nachts um zwei auf der Facebook-Seite der mehr oder weniger gescripteten Sat1-Doku nach Jon de Mol kommentiert. Und Stefan Winterbauer.

Die Lösung wird hier verraten, woraus wir sowohl lernen, dass die viel gescholtenen Kommentare in diesem Internet, wenn man nur ein paar Einselfs abzieht, bei Meedia als Meinungsbeitrag aus der Chefredaktion durchgehen, als auch, dass Winterbauer offenbar „Newtopia“-Fan ist. Warum sonst sollte er so emotional auf die Enthüllung reagieren, dass die Produktionsfirma der Reality in der Show ein wenig auf die Sprünge hilft?

[Eigentlich sollte man hier ja nicht absatzweise Meedia zitieren, aber diesmal ist es einfach zu schwer, es nicht zu tun. (Quelle, Rechtschreibung und Grammatik: Meedia)

„Wenn der Partner fremdgeht ist das Schlimmste ja wohl diese plötzliche Erkenntnis, dass womöglich das ganze bisherige gemeinsame Leben gelogen war. Plötzlich stellt man jede Berührung, jedes Geschenk, jedes Wort der vergangen Jahre in Frage. Alte Versprechen taugen nichts mehr. Was kann man noch glauben, wenn man so lange belogen und getäuscht wurde?

Jetzt ist aufgeflogen, dass das Fernsehen uns Zuschauer betrogen hat. Vorsätzlich. Dreist. Über einen langen Zeitraum hinweg. Natürlich ist da sofort der Verdacht, dass wir in der Vergangenheit vielleicht schon des öfteren hinters Licht geführt wurden, ohne dass wir es gemerkt haben. Wer will diesem Privat-Fernsehen jetzt noch glauben?“ ]

Was ist passiert? In der Nacht zum Montag hat man bei „Newtopia“ versäumt, es nicht ins Internet zu übertragen, wie man den Insassen des Utopie-Knastes bei Königs-Wusterhausen von einer betrunkenen Mitarbeiterin der Produktionsfirma Regieanweisungen geben ließ. So flog auf, dass die Angabe in den FAQ zur Sendung nicht ganz korrekt ist, die da lautet:

„Newtopia ist ein klassisches Realityformat ohne Drehbuch. Es gibt keinerlei Einfluss von Seiten der Programmmacher.“ (Quelle: newtopia.de)

Wie sehr der Hassindex des Internets daraufhin ausschlug, lässt sich gut an den bislang eins, zwei, drei, vier, fünf Klickmagneten Artikeln ablesen, die Meedia daraufhin ins Programm nahm.

Sat1 und die Produktionsfirma Talpa Germany ruderten via Facebook zurück.

Die 15 Pioniere in Newtopia sind vollständig selbst dafür verantwortlich, wie sie ihr Leben gestalten. Was wir als Zuschauer in den Live-Streams und in den täglichen Folgen auf den Bildschirmen sehen, ist echt. In jeder Reality-Show werden die Teilnehmer von den Producern der Show beraten und betreut. Dies geschieht in Newtopia – und in der holländischen Version Utopia – sehr zurückhaltend“,

hieß es.

Wenn ich in diesem Augenblick live (8.24 Uhr) einen etwa dicklichen Herren mit Basecap dabei beobachten kann, wie er frisch zubereitetes Rührei vom Pfannenheber kratzt, ist er vermutlich selbst auf die Idee gekommen. Wenn er hingegen einen Stall gezimmert hätte, müssten wir dahinter die Einflüsterer von Talpa vermuten, wenn ich folgenden Satz aus der ungewollten Live-Übertragung aus der Nacht zum Montag richtig deute, den Joachim Huber im Tagesspiegel konserviert:

„Gefragt seien ,große Projekte’, etwa dass Bewohner ein Baumhaus bauen oder Tätowierungen anbieten.“

Jetzt gilt es nur noch zur klären, was die eigentliche Tragik hinter dieser Geschichte ist (abgesehen davon, dass unser Glaube in die Echtheit des Reality-Fernsehens schwerstens erschüttert wurde):

Dass es in einer besseren, utopischen Welt eine große Sache ist, Tätowierungen anzubieten.

Dass es Menschen gibt, die nachts um zwei nichts Besseres zu tun haben, als vermeintlichen Pionieren in die Scheune zu gucken.

Oder dass John de Mol nun ein gewichtiges Verkaufsargument verloren hat, wie Thomas Lückerat bei DWDL schreibt, wo man die Geschichte übrigens als Erstes aufgriff.

„Seit vergangener Nacht ist jetzt dokumentiert, was in der Branche ohnehin niemanden überrascht: In der Praxis ist ,Newtopia’ Scripted Entertainment. Wenn das erklärte Ziel der Sendung darin bestand, zu erfahren, ob die für das Format ausgewählten Pioniere im Alleingang eine neue Gesellschaft aufbauen können, dann lässt sich an diesem 13. April sagen: Experiment gescheitert. Bitter ist das auch für ITV Studios. Zum Preis von 500 Millionen Euro will das britische TV-Haus John de Mols Talpa übernehmen. Eines seiner Assets ist in Königs-Wusterhausen implodiert. ,Newtopia’ kann beendet werden.“

[+++] Es folgt ein Service-Hinweis für alle Redaktionen, die derzeit nach einem funktionierenden Geschäftsmodell suchen: Das Fenstern zur Leserfinanzierung ist weit geöffnet.

Seit gestern bemüht sich das Missy Magazine, davon zu profitieren.

„Wir wollen euch 365 Tage im Jahr mit Popkultur und Politik versorgen. Wir wollen Debatten anstoßen, diversere Meinungen integrieren, eine größere Vielfalt an Themen bearbeiten. Eure Unterstützung gibt uns das Startkapital für:

- zwei neue Stellen, neue Autorinnen und die Programmierung der neuen Website (bei 35.000 Euro)

- zwei Heftausgaben mehr im Jahr (bei 60.000 Euro)

- eine Missy-Veranstaltungsreihe im deutschsprachigen Raum (bei 90.000 Euro)“,

So steht es auf der Kampagnenseite bei Startnext.

Zudem gibt es natürlich ein schönes Kampagnenvideo inklusive des subtilen Einsatzes einer zerrissenen Strumpfhose, die wohl zeigen soll, wie unangepasst die Missys sind. Oder wie dringend sie Geld brauchen.

Fast 2000 Euro sind schon zusammengekommen, 45 Tage bleiben für den Rest, und wer 300 Euro gibt, bekommt einen Häkelpenis gratis dazu.


Altpapierkorb

+++ Das Handelsblatt war so freundlich und hat die gestern hier aufgeworfene Frage geklärt, warum Spiegel Online eigentlich einen Satz von Ferdinand Piëch aus der Printausgabe des Spiegels zitiert, der dort gar nicht steht. „Das Problem: Piëch war erst nach Drucklegung des Magazins zu sprechen. Hawranek lieferte den Text mit explosivem Inhalt an ,Spiegel Online’. Die digitale Ausgabe des Heftes etwa für Tablet-Computer wurde nachträglich am Ende um einen Hinweis ergänzt. Doch im Nachrichtenmagazin fand sich die Nachricht nicht.“  Was jetzt überraschender ist – dass nicht einmal der Spiegel wichtig genug ist, um von Ferdi P. pünktlich zurückgerufen zu werden, oder dass Spiegel Print tatsächlich online mitdenkt – dürfen Sie jetzt auswürfeln.  +++

+++ Bei Correctiv hat man gestern Abend einen Redaktionsausflug zur Außenwand des Auswärtigen Amtes unternommen, um sich dort via Projektion bei Frank-Walter Steinmeier zu erkundigen, warum das AA von Gefahren für Passagierfugzeuge über der Ukraine gewusst, die Fluggesellschaften aber nicht informiert habe, was zum Abschuss von MH17 geführt habe. Leider scheint sich dort niemand für diese Information interessiert zu haben, wenn ich die Correctiv-Dokumentation bei Twitter richtig deute. Kein Wunder, Montagabend um 21.30 Uhr vor einem Amt! Aber die Frage nimmt jetzt auch den Rechtsweg. Mehr dazu auf der Website der Rechercheure mit dem Ausrufezeichen. +++

+++ Die einen beauftragen Meinungsforschungsinstitute, um herauszufinden, wie anstehende Wahlen wohl ausgehen. Die anderen lassen sich die Anzahl der vorbestellten Uhren aus dem Hause Apple voraussagen. Was zu dieser wunderbaren Überschrift im Standard führt: „Starke Nachfrage nach neuer Apple-Uhr erwartet“. Verrückt! +++

+++ Wenn 65-Jährige Vierlinge bekommen, dann schließen sie vorher einen Exklusivvertrag mit RTL, berichtet der Tagesspiegel. +++ Wo man zudem sehr aufgeregt ist, weil „Homeland“ bald in Berlin gedreht wird. +++ Und nun auch die ORF-Serie „Altes Geld“ bespricht. +++

+++ Dem auch die SZ den Medienseitenaufmacher widmet. +++ Wo es außerdem um Recht im Internet geht. Wolfgang Janisch war bei der Tagung des Studienkreises für Presserecht und Pressefreiheit und hat die Erkenntnis mitgebracht: „Die Juristen sind längst dabei, die Regeln des Medienrechts für das Internets passend zu machen.“ +++

+++ „,Do Not Track’ ist eine personalisierte Web-Serie über das Geschäft mit unseren Daten. Wenn Sie sich bei uns registrieren, sagen wir Ihnen, was das Internet über Sie weiß.“ So steht es hier auf der Website der Webserie von Arte und BR, die heute startet. Svenja Bednarczyk meint in der taz: „Zusammen mit den personalisierten Inhalten zeigen die kurzweiligen Videos, warum der Satz ,Ich habe doch nichts zu verbergen’ falsch ist. Das Ziel der Webdoku, ,dem Nutzer die Kontrolle zurückzugeben’, wird sich trotzdem nur schwerlich umsetzen lassen. Nach den sieben Folgen weiß man ohne Frage genauer, welche Daten man hinterlässt und wie sie genutzt werden. Doch widersprechen kann der Nutzer dem nur in den seltensten Fällen. In der Praxis ändert sich nichts.“ +++

+++ Vier Journalisten, die während der Proteste in Ferguson festgenommen worden sind, klagen nun dagegen. Daher finden Lukas Hermsmeier von der Bild-Zeitung und Ansgar Graw von Springers Welt heute ebenfalls Erwähnung in der taz. +++

+++ Die Schweizer entscheiden im Juni darüber, ob die Schweizerische Radio- und Fernsehgesellschaft sich in Zukunft über eine Haushaltsabgabe finanzieren soll. Deren Generaldirektor Roger de Weck ist dafür, schreibt er heute in der NZZ. +++ Wo zudem zu erfahren ist, wer diese Zeitung nach einer aktuellen Umfrage gerne liest: die Besserverdienenden. +++

+++ Für die Medienseite der FAZ war Oliver Jungen beim sogenannten Show-Gipfel, dem „von der Medienberatungsagentur HMR und dem Produktionsunternehmen Brainpool TV organisierten Branchentreffen“ und hat festgestellt: „Die Macher und die Verbreiter all dieser Shows zeigen sich inzwischen von ihren eigenen Produkten genervt und gelangweilt.“ +++ Außerdem geht es auf der Seite um das viele Geld, das in den vergangenen Wochen bei Charlie Hebdo eingegangen ist. Einige Redakteure „fordern die Umwandlung der Aktiengesellschaft in eine Genossenschaft, deren Teilhaber die Mitarbeiter sind. Von einer Stiftung, in der das Geld eingebracht werden soll, ist die Rede – um das Erscheinen der Zeitschrift ,auf zehn, zwanzig, dreißig Jahre hinaus’ zu garantieren“, schreibt Jürg Altwegg. Anders sehen das Chefredakteur und Eigentümer, die meinen: „Das Vorgehen erinnert an Begräbnisse, bei denen man sich auf dem Rückweg vom Friedhof bereits um den Schmuck der Großmutter streitet.“ +++

+++ Bei DWDL darf Studentin Theresa Lindlahr Ihre Vorstellung vom Journalismus der Zukunft darlegen und beweisen, dass ihre Mitgliedschaft im Europäischen Jugendparlament zumindest sprachlich Spuren hinterlassen hat.: „Es kann wohl als eine sichere Prognose gelten, dass Dynamik und Diversität in der Medienlandschaft weiter zunehmen werden. Der heutige Journalismus im Zeitalter von Web 2.0 kennzeichnet den Anfang einer Entwicklung, die neue Qualitäten durch vollständig anders dimensionierte Datenverfügbarkeit, neue Ebenen der gesellschaftlichen Relevanz von Digitalisierung und eine durch gesamtgesellschaftliche Prozesse radikal veränderte Gesamt-Agenda entfalten wird.“ +++

Neues Altpapier gibt es morgen wieder.