Einfach mal das Mikro nehmen

Einfach mal das Mikro nehmen
Ein neues Vorbild im deutschsprachigen Journalismus. Auch Überraschendes zur Medienfreiheit im Fernen Osten. Zweifel als Stärke, Neues zum im Internet anzutreffenden Meinungsbild. Außerdem: Wie ist die neue Mein Papst? (Mit Leseprobe!)

Es gibt im deutschsprachigen Journalismus wieder jemanden mit Vorbild-Potenzial. Und eine schlichte und überzeugende Journalismus-Definition, die künftig mindestens auf jedem zweiten Panel genannt werden sollte:

"Dabei ist es eigentlich so einfach: Wenn mir jemand bei einer Pressekonferenz ein Mikrofon reicht, nehme ich es und stelle eine Frage."

Und einen Namen, der "Lügenpresse!"-Schreien locker entgegengehalten werden könnte. Raimund Löw heißt der Name und ist vor allem in China weltberühmt. Wie es dazu kam, erklärt der Leiter des ORF-Korrespondentenbüros Peking sowie "Journalist und Historiker" (loew.at) im Interview des Standard:

"Die Pressekonferenzen des chinesischen Premiers sind eine wirklich große Sache - sie werden von Anfang bis zum Ende im Fernsehen übertragen, das würde sich wohl mancher europäische Regierungschef auch wünschen. Die Fragen und Antworten werden in den Zeitungen praktisch komplett abgedruckt. Aber: Wer eine Frage stellen will, muss sie vorher beim Außenministerium ankündigen."

Löw hielt sich an dieses Prinzip, wurde jedoch "zurückgerufen" und erfuhr,

"dass man das gar nicht gut findet, die Frage würde sich doch eher an den Außenminister richten und nicht den Premier. Ich solle doch eine andere Frage stellen."

Er reichte aber keine andere ein, sondern nahm, als während der Pressekonferenz, bei der dennoch dabei war, "einer der Beamten mit dem Mikrofon" in seine Richtung kam und jemand von einem Medium mit F (was für den ORF zutrifft) aufgerufen worden war, dieses Mikrofon und stellte die alte, abgewiesene Frage. Woraufhin Premierminister Li Keqiang tatsächlich der Weltöffentlichkeit mitteilte:

"China unterstützt die Souveränität und territoriale Integrität der Ukraine. Zu der von Russland annektierten Krim wünscht sich Peking eine Lösung im Dialog" (wordpress.loew.at).

Diese Aussage ist nicht ungeheuer sensationell, wie Löw im Interview auch erläutert. Sie dürfte aber in der russischen Staatsführung, die bekanntlich über jeden großen Staat froh wäre, der ihre Positionen teilt, verärgert registriert worden sein ("Putin möchte sicher keinen Dialog über die Krim") und wäre eben überhaupt nicht gefallen, wenn Löw nicht einfach getan hätte, was ein Journalist bei einer Pressekonferenz tun muss.

Das Interview ist auch jenseits der pointierten Schilderung dieser aufschlussreichen Anekdote ("Gab es Reaktionen der Behörden auf Ihr ungewohnt spontanes Zugreifen und Fragen?" - "Bis jetzt nicht." - "Aber der Mikrofonträgerbeamte hat nun vermutlich einen neuen Job") lesenswert. Hier kann man Löw auf Twitter folgen; siehe auch kleinezeitung.at, ein paar Zeilen bei turi2.de. Am interessantesten sind die englischsprachigen Berichte chinesischer Medien, die der Standard unter dem Interview dokumentiert.

[+++] Wir bleiben im Fernen Osten. Dass es in China mit der Presse- und anderen -freiheiten nicht weit her ist, ahnen alle. Es ist halt so ein großer Markt, nicht wahr? Aus einem Nachbarstaat, der dem sog. Westen erheblich näher steht, berichtet heute der Aufmacher der SZ-Medienseite. Unter der Überschrift "Die Harmonie-Lüge" schreibt Christoph Neidhart vom "Kampf um die Pressefreiheit" in Japan.

Es geht um "die zweitgrößte Zeitung der Welt", Asahi Shimbun, und eine von 23.000 Japanern gegen sie eingereichte Klage:

"Der Asahi stützte sich vor 20 Jahren für einige Artikel über koreanische Sexsklavinnen der japanischen Armee im Zweiten Weltkrieg auf einen Zeugen, der Fakten erfunden hatte. Das wusste man schon lange. Auf die Erklärung, mit der sich die Regierung Japans 1993 für die Versklavung von bis 300.000 Frauen, vor allem Koreanerinnen, viele noch Kinder, entschuldigte, hatten die Artikel keinen Einfluss. Die Verbrechen sind gut dokumentiert ..."

Und obwohl die Zeitung schon 2014 die Artikel "widerrief", werfe Premierminister Shinzo Abe ihr weiter öffentlich vor,

"sie sei 'schuld am weltweit vorherrschenden Missverständnis, der japanische Staat sei an den Verbrechen beteiligt gewesen'. Immer mehr Japaner glauben ihm."

Und der Asahi wage "nach jeder Kampagne  ... weniger. Man spricht von einem 'Chilling Effect'". Um die Besetzung des Chefpostens der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalt NHK sowie um Zensur des Kaisers (nicht durch den Kaiser, sondern dessen, was er über Fukushima sagte, in Medien) geht es ebenfalls. Dazu, dass Japan in der Rangliste der Pressefreiheit auf Platz 61 steht, passt der Artikel nicht.

 

[+++] Das hätten sich Silke Burmester, die forsch-fröhliche TAZ-Kriegsreporterin, und FAZ-Herausgeber Berthold Kohler auch nicht unbedingt träumen lassen, aber heute sitzen sie geradezu im selben Boot. Es geht um "die Genossinnen und Genossen von der Putinkinschen Wahrheitsabteilung" (keine Kohler-Formulierung) und um die "Leserforen der Traditionsmedien" (keine Burmester-Formulierung).

Die genannten GenossInnen hätten

"an den vom Wodka zittrigen Wurstfingern abgezählt: Einem freundlichen Medienbericht über Russland stehen 7,46 feindliche gegenüber. Also ich bin dringend dafür, die Zahl auf 98,2 zu erhöhen",

scherzt die TAZ. Und wegen daraufhin getroffener Maßnahmen spiegele "die Kommentarlage im Internet zum Ukraine-Konflikt ... nicht die Meinung der Bevölkerung zu diesem Thema wider". Das hat die FAZ das Institut für Demoskopie Allensbach durch eine "Repräsentativumfrage" untersuchen lassen, in deren Rahmen zum Beispiel die Frage "Wer trägt Ihrer Meinung nach die Hauptschuld an dem Konflikt in der Ukraine?", auf die die Befragten "auch mehrere Hauptschuldige" benennen konnten, gestellt wurde. Was Projektleiter Dr. Thomas Petersen in der typisch Allensbacher Zahlenfreude, die ungefähr das diametrale Gegenteil des Burmester-Sounds darstellt, darüber schreibt, steht in der FAZ auf S. 8 und auch bereits frei online.

Und nicht ohne Freude darüber, dass demzufolge "das im Internet anzutreffende Meinungsbild" nicht repräsentativ für die Bevölkerung sei, kommentiert Kohler ganz oben ganz vorn auf der FAZ:

"Die Fähigkeit zur Kritik und die Neigung zum Zweifeln zählen nicht zu den Schwächen, sondern zu den Stärken des Westens. Doch das wird einer wie Putin nie verstehen."

Wenn Menschen mitunter von unterschiedlichen Ausgangspunkten in ganz unterschiedlichen Tonfällen zum gleichen Ergebnis gelangen, könnte das tatsächlich für so eine Stärke sprechen.

[+++] Wo wir eben schon bei den Fingern waren: Was geht in der Interpretation der früheren "freien Fingeräußerung" (Ljubiša Toši?, Standard) eines kontinental berühmten deutschen Talkshowgastes (Altpapier vorgestern, gestern)?

Der Tagesspiegel stellt das Berufsbild der Fälschungserkenner und Video-Analysten vor, die Bild-Zeitung schäumt derart nach, dass es doof wäre, das durch Analysieren noch aufzuwerten, und Spiegel Online "hat die entscheidende Stelle des Videos ... transkribiert, ins Deutsche übersetzt und mit einigen erklärenden Anmerkungen versehen".

Das war tatsächlich instruktiv. Peter Maxwill gelangt zum Ergebnis:

"Hier also sagt Varoufakis klar, dass es für ihn zum Zeitpunkt seines Auftritts 2013 gerade keine Option war, Deutschland den Stinkefinger zu zeigen, so wie es Argentinien sinnbildlich gegenüber dem IWF tat."

Und um zu zeigen, was er nicht zeigen wollte, hat er den Finger gezeigt, der nun gegen ihn verwendet wird. Wie allerhand anderes kommt eben auch die Dialektik aus Griechenland.
 


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+++ Wie ist die neue Mein Papst? Berliner Zeitung: "Von 'meinem Papst' auf Asienreise bleibt der Starkregen in Erinnerung, der 'gegen die Frontscheibe des offenen Papamobils' prasselt. Aus einer Art Homestory erfährt der Leser, dass Franziskus bescheiden im Gästehaus des Vatikans wohnt und nicht im Prunk des Apostolischen Palasts. Na so was. Ob sich daraus wohl die angekündigten 'Deko-Ideen' ergeben?" Schreibt Joachim Frank, natürlich vom erzkatholischen Köln aus. +++ "Natürlich wäre es unfair, das Heft als Papst-'Bravo' zu bezeichnen. Aber 'Mein Papst' legt diesen Vergleich einfach herrlich nahe. Es gibt ein Papst-Poster (beidseitig bedruckt) und vier Postkarten (unter anderem mit einer Ansicht des Petersdoms und einem Psalm) als Extra. Es gibt eine Fortsetzungsgeschichte ('Zum Sammeln! Das spannende Leben des Franziskus Teil1'), eine Bildstrecke (vom Papst), Rezepte (Lammkotelett mit Pfannengemüse und frischen Kräutern) ... ..." (Süddeutsche). +++ Die Domain meinpapst.de wär noch zu kaufen. Einen Online-Auftritt plant Panini einstweilen offenbar nicht. Hier aber eine neunseitige Leseprobe! +++

+++ "The dominant politics and policy publication in Europe" plant Axel Springer herauszugeben: Der Guardian berichtet über die Politico-Planungen. Womöglich beginnen im April goldene Zeiten für Bezahlschranken (meedia.de: "Das Vorgehen orientiert sich an dem US-Vorbild, wo Nutzer zum Teil mehrere Tausend Dollar für ein Abonnement zahlten"). +++

+++ "Google-Algorithmus kann Demokratie gefährden": eine Cebit-Äußerung des US-amerikanischen Verhaltenspsychologen Robert Epstein auf der FAZ-Medienseite und via DPA bei faz.net. +++

+++ Das ist selten: eine Erfolgsmeldung über Gruner+Jahr. Die Firma Veeseo, sozusagen eine Enkelfirma des Verlags, hat sozusagen einen  Adblocker-Blocker hergestellt, der sich bereits auf Webseiten vieler deutscher Medienunternehmen bewährt (meedia.de). "Die Publisher können mit der Technologie Traffic monetarisieren, der ihnen sonst aus wirtschaftlicher Sicht verloren geht", erläutert die Original-Quelle onlinemarketingrockstars.de das Problem, um das es derzeit auch vor Gericht geht (Altpapier). +++

+++ "Erlebe den Aufbau einer neuen Gesellschaft!" Das geht, zumindest sat1.de zufolge, beim Angucken von "Newtopia"-Videos. +++ "Das eigentliche innovative Experiment, einen neuen Staat zu gründen, lässt sich angesichts der vorhandenen Rahmenbedingungen nur schwer realisieren", wird die Hamburger Medienwissenschaftlerin Joan Kristin Bleicher heute allerdings zitiert - in einer ersten DPA-Bilanz der Fernsehsendung (BLZ) und in einer Tagesspiegel-Aufbereitung dieser Meldung: "Na ja, das neue Gesellschaftsmodell geht im Alltag der Nichtigkeiten und Wichtigkeiten unter", würde Joachim Huber sagen. +++ Immerhin am Drehort sei man zufrieden. "'Im Ort ist das Projekt nach meiner Wahrnehmung mehrheitlich anerkannt', sagte Königs Wusterhausens Bürgermeister Lutz Franzke (SPD) der Deutschen Presse-Agentur. Egal ob beim Einkauf oder im Sportverein - es herrsche eine positive Grundstimmung" (DPA). +++

+++ "'Die Vielfalt von Behinderungsformen im deutschen Fernsehen ist auf zwei bis drei Bilder reduziert', kritisierte der Berliner Journalist Torsten Körner": Da berichtet der KSTA über eine von der neuen Grimme-Akademie mitveranstaltete Tagung "Inklusion im Fernsehen – Neue Perspektiven auf Behinderung" in der Kölner RTL-Zentrale. +++

+++ Hey, die neue Pay-TV-Sender-Serie, die die FAZ heute bespricht, ist gar keine amerikanische. Zwar sucht da "ein New Yorker Polizist die Kollegen in Schweden heim", aber nominell sind eben Schweden, eine Pro-Sieben-Tochter und Sky Deutschland die Produzenten. "Sie machen mit '100 Code' sicherlich nichts falsch, fügen der im deutschen Fernsehen reichlich vertretenen Skandinavien-Connection allerdings auch nichts Neues hinzu", findet Michael Hanfeld. +++ Bei der FAZ gucken sie Sky-Sender, dass es kracht. "Die HBO-Dokumentation 'The Jinx' von Andrew Jarecki, die dazu führte, dass der Milliardenerbe Robert Durst am Wochenende wegen Mordverdachts festgenommen wurde ..., ist von Freitagabend an bei Sky Go abrufbar", wird ebenfalls vermeldet. +++

+++ Heute kurz, demnächst sicher länger geht's ebd. um die Eröffnung des EZB-Neubaus in Frankfurt ("katastrophale Kommunikationspolitik", beklagt der Hauptgeschäftsführer des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels. +++ Und um digitales Spielzeug: "Der Chef von Toytalk, Oren Jacob, legt Wert auf die Feststellung, dass man die Gespräche der Kinder mit der Barbiepuppe nicht in Echtzeit überwache. Damit kann er nicht vom viel dramatischeren Umstand ablenken, dass die Aufnahmen für zwei Jahre gespeichert und zur weiteren Produktentwicklung genutzt werden. Außerdem gibt Toytalk die Aufnahmen an Drittanbieter weiter, die angeblich bei der Sprachentwicklung helfen. Diese Anbieter dürfen die Daten behalten und für sich selbst nutzen ..." +++

+++ Die TAZ hat in der nischenreichen Medienlandschaft eine US-Sitcom ("Community") bei Yahoo geguckt. +++

+++ Tele 5 hat in Hamburg "den Show gewordenen Wortwitz 'Der Klügere kippt nach'" vorgestellt, auf der "ersten PK mit einem angetrunkenen Senderchef", wie derselbe gleich anfangs scherzte (dwdl.de). +++

+++ Und vocer.org hat Alard von Kittlitz, einen Journalisten "voller Kontrast: Junge, abenteuerliche Ideen und bodenständige, fast altmodische Werte", interviewt, der früher für FAZ-Medien schreibt und nun für G+Js Neon schreibt. "Im Internet kann man besser rotzen", sagt er u.v.a.. +++

Neues Altpapier gibt's wieder am Donnerstag.