Extrem ausdifferenziert

Extrem ausdifferenziert
Zuversichtliche Zeitungsverleger als stressgeplagte Selbstoptimierer. Rösser und Reiter am #tazgate. Ein Journalismus-Professor hat jahrelang geschwiegen. Und im Radio hört die Jugend lieber "Hausfrauensender"-Hits als doppelmoderierte Partystimmung.

Extrem ausdifferenziert - was für ein funkelndes Paradoxon! Zumal wenn es unter der der ebenfalls, aber konventionell paradoxen Oberzeile "Zuversichtliche Zeitungsverleger" (und über dem Symbolbild einer glücklichen Zeitungsleserin mit interessanter Körperhaltung) steht.

Da berichtet der Tagesspiegel über die frischeste Studie des Zeitungsverlegerverbands BDZV, die natürlich wie fast alles online zu haben ist und in ihrer Originalankündigung ("Zeitungsverlage auf Innovationskurs") alles andere als funkelt.



Der Zeitungsartikel dagegen liest sich ganz gut, auch weil Tatjana Kerschbaumer die bemerkenswert geringe Rücklaufquote der zugrundeliegenden "Trendumfrage" der Unternehmensberatung Schickler ("SCHICKLER" zu schreiben wirkt überzeugender, glaubt der BDZV ...) anspricht. Die Ergebnisse: Erstens sollen in diesem Jahr "Auflagen- sowie Werberückgängen ... weit weniger drastisch" ausfallen als zuletzt, nämlich weniger als zwei Prozent betragen. Zweitens wollen die Zeitungsverlags-Manager, die Lust und Zeit zu antworten hatten, die Rest-"Markenkraft" ihrer Titel außer wie schon lange durch "Angebote wie Reiseveranstaltungen und Buchkollektionen" und "Beteiligung an Messen und weiteren öffentlichen Veranstaltungen" nun verstärkt mit "extrem zielgruppenspezifischem" (Tsp.) digitalem Allerlei verpulvern:

"Es handelt sich insbesondere um Apps ... die individuell auf Immobilieninteressenten, Fußballfans, Parkplatzsuchende oder stressgeplagte Selbstoptimierer zugeschnitten sind."

Heißt: Der bestenfalls gebremste Niedergang des Zeitungswesens wird unser Begleiter bleiben, und die Manager möchten sich an Geschäftsmodellchen abarbeiten, die, falls sie funktionieren sollten, sowieso von Google und Apple übernommen (oder schon längst angeboten) werden, und in Einzelfällen vielleicht von Springer oder den Samwers. Oder von umso unangenehmeren Kombinationen ...
 

[+++] Extrem ausdifferenziert hat die Journalistengewerkschaft DJV sich zur Namensnennungsfrage geäußert. Also der, ob beim #tazgate (Altpapier vom Dienstag) "Ross und Reiter" (beim DJV hängen sie tradierten Sprachbildern an ...) namentlich genannt werden durften. Pressesprecher Hendrik Zörner zitiert aus dem Pressekodex und gelangt zum Ergebnis:

"Für ein überwiegendes öffentliches Interesse spricht in der Regel, wenn

-    eine außergewöhnlich schwere oder in ihrer Art und Dimension besondere Straftat vorliegt,

-     ein Zusammenhang bzw. Widerspruch besteht zwischen Amt, Mandat, gesellschaftlicher Rolle oder Funktion einer Person und der ihr zur Last gelegten Tat.

Dass ein Widerspruch zwischen der Rolle des Journalisten und dem Datendiebstahl besteht, liegt auf der Hand. Dass es sich um eine "in ihrer Art und Dimension besondere Straftat" handelt, zweifelsohne auch. ... ... Einen faden Beigeschmack hat die Diskussion dennoch."

Einerseits auf der Hand, andererseits fader Geschmack - muss also jeder selbst entscheiden. Dritterseits stellt der letzte Satz in Zörners Blogpost,

"Den Weg zum Pressekodex dürften auch Redaktionen öffentlich-rechtlicher Anstalten finden",

einen Wink mit dem Zaunpfahl dar, den die Rösser und Reiter des Norddeutschen Rundfunks verstanden haben. Jedenfalls steht hier im unübersichtlichen Internetauftritt des NDR-(Fernseh-) Medienmagazins "Zapp" Redaktionleiter Steffen Eßbach mit seriösem Schlips und offenem Lächeln vor unscharfem Hintergrund ausdrücklich zu seiner Entscheidung:

"Sebastian Heiser hat unter seinem Namen für sich öffentlich eine moralische Bewerterrolle von Kollegenverhalten in Anspruch genommen, der sein eigenes berufliches Handeln nach bisherigen Erkenntnissen nicht gerecht wird",

lautet die Schlussfolgerung seines Plädoyers. (Und dass Eßbach im ersten Absatz schreibt "Ich stehe bis heute zu dieser Entscheidung", heißt wohl nicht, dass er bloß bis gestern um 19.34 Uhr dazu stand, sondern, dass er es auch an diesem Donnerstag noch tut. Geht zumindest aus dem Kontext hervor).

Wie geht es Heiser, wie geht es der TAZ? Wo Heiser "sich derzeit befindet, wissen nur wenige. Es gehe ihm gut, heißt es" (auch NDR-"Zapp").

Und die TAZ scherzt schon wieder dezent auf ihrem bunten Boulevard, der tazzwei-Seite: "Noch seltsamer als Berichte über keyloggende Redakteure in einer linken Tageszeitung liest sich folgende Meldung aus Köln", hebt Quentin Lichtblau an, um dann "einbetonierte USB-Sticks mit Drogenrezepten" zu beglossieren. Übrigens gleich neben "Hundsmäßig druff", Helmut Höges. äh, Trendstudie zum "Konsum von Tiermedikamenten" ...

Am interessantesten zum Thema #tazgate ist das achtminütige Video-Interview mit dem Hamburger Qualitätsjournalismus-Professor Volker Lilienthal, auch wenn "Zapp" es mit "Ich habe all die Jahre geschwiegen" arg melodramatisch betitelt hat. Lilienthal hat vermutlich kein Trauma dadurch erlitten, dass er nicht schon vor Jahren erzählte, dass ihm, als er noch epd medien-Redaktionsleiter war, Heiser sein "szleaks"-Material auch schon angeboten hatte. Vielmehr könnte es sogar zum Journalismus gehören, nicht alles herumzuerzählen, obwohl es inzwischen so viele Medien gibt, darunter die sog. sozialen ... Was Lilienthal aber zur "Dummheit", heimlich aufgezeichnete Gespräche als O-Ton online zu stellen, und zur Definition "überragender Interessen" sagt, ist das heute Interessanteste zum Thema.

[+++] Der interessanteste Medienseiten-Artikel steht auf der SZ-Medienseite und derzeit nicht frei online.

Da geht Kathrin Hollmer der Frage nach, warum "die jungen öffentlich-rechtlichen Wellen", auf die die ARD so stolz ist, ihre junge Zielgruppe immer weniger erreichen. Neue Mediennutzungs-Studien (Arbeitsgemeinschaft Media-Analyse/ PDF, ähnlich auch Tsp.) zeigten, dass dies eher "etablierte, erwachsene Mainstream-Radiosender mit Hits der 80er, 90er und von heute" bzw. "Hausfrauensender" hört. Gründe hat Hollmer aus eigener An-Hörung viele, z.B.: 

"Die jungen Sender der ARD  ... trauen ihren jungen Hörern wenig Journalismus zu und machen stattdessen schlechte Witze. 'Das Ding' zum Beispiel sendet dreimal pro Woche den unfassbar unlustigen Alltagswahnsinn mit den Geissens (ja, die von RTL2). Auch bei der Musik machen die jungen ARD-Wellen kaum etwas anders. Zu oft läuft austauschbare Mainstream-Musik. ... Radio Fritz rühmte sich lange damit, Bands wie Kraftklub und Seeed zum ersten Mal gespielt zu haben, heute präsentieren sie Konzerte von Katy Perry. ... Einslive, N-JOY und YOU FM verbreiten, oft in Doppelmoderation, Partystimmung mit wummernder Tanzmusik. Die jungen Wellen spielen immer mehr Musik für die Massen, die Hörermassen für die Werbekunden anziehen soll."

Aber zusehends vergeblich. Und

"redaktionelle Beiträge, die das öffentlich-rechtliche Radio, auch das junge, eigentlich ausmachen sollten, sind selten und wirken wie ein Alibi. Mal laufen vier kurze Beiträge pro Stunde, oft nur einer. Die wenigsten trauen sich außerhalb der Nachrichten an den Journalismus ran, und wenn, dann meist ideenbefreit. Oft geht es um Kinostarts, oft um Boulevard."

Gewisses Lob gibt es dann für "Puls", das nach eigenen Angaben "junge Programm des Bayerischen Rundfunks" - also jenes, das noch gar nicht auf UKW läuft, weshalb der BR auf die (meiner Meinung nach) historisch schlechte Idee verfiel, um es dorthin zu bekommen, statt einen seiner Dudelsender lieber das Klassikprogramm wegzuverlegen.


Altpapierkorb

+++ Auf der TAZ-Medienseite berichtet Simone Schlindwein aus dem kongolesischen Goma über Bombastic, das erste (gedruckte) Schwulen- und Lesbenmagazin in Uganda, wo künftig außer Homosexualität auch noch "Werbung" für Homosexualität unter Strafe stehen soll. +++

+++ Der in Saudi-Arabien im Gefängnis sitzende (und weiterhin von exzessiver Auspeitschung bedrohte) Blogger Raif Badawi bekommt den "Freedom of Speech Award" der Deutschen Welle. "Badawis in Kanada lebende Frau Ensaf Haidar zeigte sich im Gespräch mit der Deutschen Welle überglücklich" (dw.de). +++

+++ Über die neue Charlie Hebdo: "Insgesamt sucht das Magazin mit dieser 2,5 Millionen Mal gedruckten Ausgabe ... über das Trauma der Morde hinwegzukommen und wieder zu anderen Themen überzugehen - nicht ohne Jean-Marie Le Pen, dem Papst, dem Karikaturisten Plantu von Le Monde und einigen anderen, die nicht Charlie sein mochten, einen Seitenhieb zu versetzen. Der Prophet Mohammed wird diesmal jedoch eher in Ruhe gelassen." (SZ) +++ "In seinem Leitartikel vergleicht Herausgeber 'Riss' Laurent Sourisseau die Situation seiner Zeitschrift mit der eines Stiers in der Arena: Er wird angefeuert und bejubelt - bis er tot zusammenbricht." +++ Zum darin enthaltenen Varoufakis-Interview: sueddeutsche.de. +++

+++ 2.000 Euro Belohnung gibt's von der Staatsanwaltschaft Hamburg bei Aufklärung des Brandanschlags auf die Hamburger Morgenpost (TAZ). "Die 'Mopo' hatte nach dem Terroranschlag in Paris als einzige norddeutsche Zeitung unter dem Titel 'Freiheit muss sein' Karikaturen des Satiremagazins "Charlie Hebdo" vom Propheten Mohammed nachgedruckt", heißt es in der EPD-Meldung weiter. +++ "Neue Hinweise: Die Spur führt zur Sibeliusstraße" (Morgenpost selbst). +++

+++ Aufmacher der FAZ-Medienseite: Gina Thomas über den Daily Telegraph nach dem spektakulären Abschied "eines der höchstbezahlten britischen Kolumnisten", Peter Obornes (siehe Altpapier): "Drastische Personalkürzungen haben sich umso stärker auf die redaktionelle Qualität ausgewirkt, als die Zeitung durch eine Führungskrise geschwächt ist. Seit der Entlassung von Tony Gallagher gibt es keinen richtigen Chefredakteur mehr, der das letzte Wort hat. Stattdessen treffen sieben oder acht Personen - die Angaben wechseln, je nachdem, mit wem man spricht - die Entscheidungen. Diese mit Titeln wie 'Inhaltsleiter Montag bis Freitag' versehenen Führungskräfte bekriegten sich fortlaufend, heißt es aus dem Haus. Sie seien sich uneins über die Zukunftsstrategie. Das Ergebnis sei, dass mal der Primat des Internet ausgerufen werde und mal, in Hinblick auf die alternde, konservative Leserschaft, die Bedeutung der gedruckten Zeitung hervorgehoben werde ..." +++

+++ Michael Hanfeld auf der FAZ-Medienseite zur neuen, dritten "House of Cards"-Staffel: "... Und ARD und ZDF sind aufgrund ihrer Zwangsbeitragsfinanzierung und ihrer gigantischen Milliarden-Etats mit Netflix zwar nicht zu vergleichen: Doch stellen wir das Netflix-Monatsabo für 7,99 Euro neben die 17,98 Euro Rundfunkbeitrag, sieht man: Für den Zwangsobolus bekommt der Kunde sehr viel mehr, auch an fiktionalen Produktionen ansprechender Güte. Grund zur Panik nach dem Motto 'Netflix kommt und rollt den Markt auf' müssen die Platzhirsche nicht haben ..." +++ Außerdem geht's dort um türkische Proteste auf Twitter nach dem Mord an der Studentin Özgecan Aslan. +++

+++ Zum Europa-Gerichtsurteil über journalistischen Einsatz versteckter Kameras, das sich auf einen Fall aus der Schweiz bezog, berichtet und kommentiert die NZZ: "Angesichts des Trends zum multimedialen Guckloch-Journalismus wird die Nachfrage nach verdeckten Operationen wachsen. Produkte auf der Basis solcher Methoden schaffen auf einem wettbewerbsintensiven Markt Exklusivität und damit Verwertungsmöglichkeiten. Versteckte Kameras sind bereits jetzt Teil von Geschäftsmodellen. Wer ins Visier gerät, dem droht im grellen Licht einer empörten Öffentlichkeit die Vernichtung seiner beruflichen Existenz, noch bevor die jeweiligen Sachverhalte seriös abgeklärt sind" (Rainer Stadler). +++

+++ Am ausführlichsten am womöglich rekordträchtigen Schadensersatz-Prozess Jörg Kachelmanns gegen Springer und andere Verlage berichtet Marvin Schade bei meedia.de: "Aber auch für die beklagten Medienmarken hatte das Gericht eine ermutigende Botschaft: Der Vorwurf, es habe eine Kampagne der Springer-Medien in Zusammenarbeit mit Burda gegeben, habe das Gericht bisher nicht erkennen können". +++

+++ Neues aus der faszinierenden Welt der Medienwächter: "Ramelow & Co." ist kein "verfassungswidriges Staatsfernsehen", habe die zuständigen Thüringer entschieden. +++

+++ Und was der Lesben- und Schwulenverband LSVD und die AfD gemeinsam haben? Keinen Sitz in den neu zusammensetzten ZDF-Gremien (Tagesspiegel) sowie Ärger darüber. +++

Neues Altpapier gibt's wieder am Freitag.