Ein Kessel bunter Diskurse

Ein Kessel bunter Diskurse

Christoph Keese hat das Haupt des Dämonen, aber auch das Jahrzehnt im Blick. Die ARD-Toleranzwoche hat Akif Pirincci zu Gast. Horst Seehofer wurde, schwups, mal zur kleinen Ikone der Medienfreiheit. E-Mails sind auch keine Privatangelegenheit mehr. Die Forderung "Erst prüfen, dann teilen" bleibt aber aktuell.

@ClausKleber:

"@niggi You like nitpicking? OK! ..."

Ob sich aus diesem Twitter-Kommunikationsstrang dann eher keine "Debatte" oder eher kein "Diskurs" (über das inzwischen mindestens ausreichend ausgedeutete Foto von Wladimir Putin mit ohne Dilma Rousseff) entwickelte, in die oder den prominente Entertainer wie ‏@janboehm und ‏@MickyBeisenherz sich aber dennoch gerne eingeschaltet haben - unklar. Jedenfalls herrscht rasante Dynamik in allen Kommunikationskanälen. Hergebrachte Rollenmuster erodieren, auch wenn manche Inhaber älterer Rollen sie noch für intakt halten. Die Entwicklungen kann man mit jeweils guten Gründen so oder so finden, man sollte jedenfalls - da zumindest hat Christoph Keese Recht - im Blick behalten, wo all die dynamischen Prozesse womöglich enden könnten.

Heute auf der FAZ-Medienseite großes Interview von Michael Hanfeld mit Keese, der nicht etwa Executive Springer President bei Vice, sondern Executive Vice President von Springer ist. Keese gibt sowohl der "deutschen Blogosphäre und Twitter-Debatte" wieder einen mit ("nervöse Hyperventilation") als auch klassisch, vielleicht noch etwas links geprägten Feuilletonlesern Stoff an die Hand (dass "der Monopolkapitalismus kalifornischer Prägung zu einem handfesten Problem der europäischen Gesellschaftsordnung" werden dürfte). Seine dystopische Vision, wo das alles enden könnte:

"Hier hebt ein Netzwerkmonopol sein mächtiges Haupt, und wer glaubt, das beträfe nur die Verlage, der wird sich in einigen Jahren noch die Augen reiben."

Hanfeld: "Welche Branchen trifft es?"

"Jede Branche, und sei sie noch so irdisch und erdig, wird digitalisiert werden, und in jeder Branche werden über kurz oder lang die Plattformen das Sagen haben."

Hanfeld: "Das geschieht wie?"

"Durch rücksichtslos ausgeübte Marktmacht ..."

Wobei eben Keese und Springer weiter dagegen antreten, der von Keese gelobte Günther Oettinger nun auch, und die einstweilige Kapitulation Springers (Altpapier) vor Google als der größten jener Plattformen noch nicht das Ende war. "Die meisten anderen Leistungsschutzrechte im Gesetz wurden Mitte der sechziger Jahre geschaffen, und es hat teilweise länger als ein Jahrzehnt gedauert, sie in der Rechtspraxis durchzusetzen", macht Keese sich Mut. Nach etwas mehr als einem Jahr schon von Kapitulation zu sprechen sei die schon erwähnte "Hyperventilation".

Das Interview steht noch nicht frei online, kommt aber sicher bald. Dass die erwähnten Sphären solchen Stoff brauchen, um zu ventilieren, und dadurch dann auch mal Traffic nicht von Google reinkommt, wissen sie bei faz.net natürlich.

[+++] In die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, die auch laufend viele Diskurse in sämtliche Kanäle füllen und zum größeren Teil gerade ihre jährliche Toleranzwoche begehen. Der multiple, in Berlin weltberühmte Moderator Jörg Thadeusz hatte gestern in seine Radio-Gesprächsreihe "Wie tolerant sind wir?" Akif Pirincci zu Gast, also einen "Hassprediger" (Stefan Niggemeier).

"War die Einladung an den Autor als Mutprobe für den Moderator gedacht oder als Ausweis jener Toleranz, wie sie in öffentlich-rechtlichen Funkhäusern geübt wird?", fragt Joachim Huber vom Tagesspiegel knallhart im Interview zum Interview. Thadeusz' Antwort darauf ist erst eher gut, dann eher schlecht, dann wieder besser:

"Wir interviewen in dieser Woche Personen, die unsere Toleranz strapazieren. Oder, wie Herr Pirincci, sogar zur Intoleranz auffordern",

lautet der ganz gute Teil. Im sich unmittelbar anschließenden unnötig schlechten Teil derselben Antwort zieht dann Thadeusz aus irgendwelchen, wohl kalendarischen Gründen die vegan lebende Schriftstellerin Hilal Sezgin, die er ebenfalls interviewte, zum Vergleich heran. Im sich erneut unmittelbar anschließenden wiederum besseren Teil sagt er dann: 

"Inwiefern es für diese Interviews besonderen Mut brauchen soll, kann ich mir nicht erklären. Ich mache das beruflich."

Was nach einer sinnvollen Haltung klingt. Wie war das Pirincci-Interview nun?

In der enorm komplexen RBB-Mediathek ist es nicht zu finden, aber auf radioeins.de. Komplett habe ich es nicht gehört. Wie Thadeusz fragt, wann Pirincci zuletzt am Sexualkundeunterricht teilgenommen hat, macht aber einen zupackenden Eindruck. Und wie dieser aus baden-württembergischem Sexualkundeunterricht-Material zitiert, dem zufolge am Ende gar 90 Prozent der Bevölkerung homosexuell seien, dürfte ihm nicht viele neue Fans beschert haben.

Mit zupackenden Interviewern, deren beruflich bedingter Mut keiner besonderen Erwähnung bedürfte, das abzubilden, "was in diesem Land gedacht" wird (wie Thadeusz das anfangs in der Audiodatei formuliert und im Tsp.-Interview ähnlich sagt), ist jedenfalls keine üble Deutung des "öffentlich-rechtlichen Auftrags".

####LINKS#### [+++] Überhaupt nicht im Rahmen der Toleranzwoche ist Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer gerade nach China gereist, wo er dann, schwups, zu einer kleinen Ikone der Medienfreiheit wurde. Sein Fernsehinterview auf dem Platz vor dem Tor des Himmlischen Friedens wurde polizeilich abgebrochen (zeit.de).

 

Das war dann natürlich Thema in der Nachrichtensendung des Bayerischen Rundfunks (in dessen Mediathek hier ca. ab 06:45, Foto oben) In Peking bekam Seehofer "das Vorurteil bestätigt, wie pressefeindlich noch immer die kommunistischen Herrscher dort sind". In der Sendung folgt ein Filmbeitrag aus Peking, in dem zwar nicht der Abbruch des Interviews auf dem Tiananmen-Platz zu sehen ist, aber das, was Seehofer später in eine kleine Mikrofonwolke von BR und Antenne Bayern (und eben in die BR-Fernsehkamera) hinein sagt:

"Für uns ist ja China insgesamt nach den USA, die an der Spitze stehen..., der drittwichtigste Markt für Bayern. ... Das ist nicht zu vernachlässigen."

Solche O-Töne des lokalen Ministerpräsidenten am anderen Ende der Welt einzufangen, müsste nicht unbedingt zum öffentlich-rechtlichen Auftrag zählen. Da hätte es gewiss gereicht, wenn Seehofer das gleiche, vielleicht etwas ausgefeilter, nach seiner Rückkehr am Flughafen erzählt hätte. Und dennoch ist nun ein insgesamt wohl eindrucksvolleres Seehofer-Statement zur Medienfreiheit in der Welt als jemals eines beabsichtigt zustande gekommen wäre.

[+++] Ganz andere "#panne" (Christian Füller bei Twitter), die aber auch mit Kommunikationstechnik zu tun hat. Im "Archiv der Zukunft" (adz-netzwerk.de) hat der Betreiber der Webseite, der "Journalist und Erziehungswissenschaftler" (TAZ) Reinhard Kahl, seinen E-Mail-Wechsel mit der TAZ-Redakteurin Anna Lehmann wegen deren Berichts über einen von seiner Organisation gerade ausgerichteten Kongress veröffentlicht.

Der TAZ-Bericht heißt "Besoffen in Bregenz" bzw. "'Besoffen' in Bregenz". So richtig wichtig ist er im Medien-Kontext hier nicht, wichtiger ist die Veröffentlichung von E-Mails, die anders als z.B. Tweets ja (noch) zur Sphäre privater Kommunikation zählen, und was Kahl dazu schreibt:

"Liebe Frau Lehmann,
erstens: Sie sind eingeladen an der Auseinandersetzung auf unserer Homepage teilzunehmen!
zweitens: Sie agieren in der Öffentlichkeit. Wenn der Diskurs nicht in dem von Ihnen genutzten Medium stattfindet, dann in einem anderen. Er ist jedenfalls keine 'Privatangelegenheit'.
drittens: das CC für die Chefredakteurin hat ihre Geschichte ...",

die er dann auch noch ausführlich erzählt. Bei der TAZ führen sie wahrscheinlich jede Woche noch brisantere Debatten und Diskurse, was nicht heißt, dass die pädagogische Arbeit, über die in Bregenz live diskutiert wurde, nicht mindestens so wichtig ist.

Bloß dass E-Mails keine "Privatangelegenheit" mehr sind, auch wenn man sie dafür halten möchte, und dass theoretisch jede Webseite, auch wenn gegenwärtig eher wenig beachtet, ein Archiv der Zukunft ist, sind Sachverhalte, an die Journalisten und eigentlich alle sich wohl zu gewöhnen beginnen sollten.

[+++] Und ist gar auch noch ein Aufruf "Erst prüfen, dann teilen" nötig, weil soviele Medieninhalte inzwischen ungeprüft geteilt werden?

"Dass die Nutzer von sozialen Netzwerken ein geschärftes Bewusstsein im Umgang mit manipulativen Inhalten entwickeln" sollen, würden, nur zum Beispiel, wahrscheinlich auch Horst Seehofers chinesische Gesprächspartner und Akif Pirincci begrüßen.

Die vom Bundesfamilienministerium geförderte, vom Verein "Neues Potsdamer Toleranzedikt" getragene und vom Song sowie Musikvideo "Die Erben der Rose" untermalte Kampagne "Stoppt Hass-Propaganda!", die gestern an den Start ging, ist so was von gut gemeint (in jedem Sinne dieses Ausdrucks), dass man erst mal inhaltliche Kritik an Argumentation (und womöglich Musik) erst mal stecken lassen sollte.
 


Altpapierkorb

+++ Die hohe Zahl der meedia.de-Chefredakteure sinkt. Mit, auch was Jahresetat und Anzeigeneinnahmen angeht, harten Zahlen sowie natürlich einer dicken Portion Befangenheit (was das "Erreichen" der "Kernzielgruppe Media-Entscheider" angeht), berichtet turi2.de vom Wechsel eines der Chefredakteure des Konkurrenten, Christian Meier, zu Springers Welt. +++

+++ "Würde die ARD so umfangreiche Nutzerprofile der Beitragszahler erstellen, wäre die öffentliche Empörung immens". Sagte der Leiter der WDR-Fernsehforschung, Erk Simon, Anna Fromm von der TAZ, die der Frage nachging, ob Netflix' Empfehlungsmechanismus-Algorithmen die herkömmliche Einschaltquote ersetzen könnten. +++

+++ Werber freuen sich schon auf Bauers neue Zeitschrift People als "Gala-Killer" (horizont.net). +++

+++ "Laut der Kids-Verbraucher-Analyse 2014 lesen 74 Prozent der sechs bis 13-Jährigen einmal wöchentlich ein Kindermagazin. Ein Markt, der nach den Regeln des Gendermarketings verdoppelt wurde: Wer Sohn und Tochter hat, braucht zwei verschiedene Kindermagazine. Denn wie alle wissen, machen sich Jungs rein gar nichts aus Hundebabys. Und was soll ein Mädchen mit einem Dinosaurier anfangen?" Einen Marktüberblick hat die SZ-Medienseite.

+++ "Überhitzter Markt mit Wachstumszwang sorgt für ... kreative Verödung" jetzt auch bei Youtube (dwdl.de). +++

+++ "Eine echte Sternstunde": die jüngste "Die Anstalt"-Show des ZDF (Alexander Krei ebd.). +++

+++ Das lesenswerte Glossar "Formulierungshilfen für die Berichterstattung im Einwanderungsland", die die Neuen deutschen Medienmacher zusammengestellt haben, findet man hier auf neuemedienmacher.de als PDF. +++

+++ "Die seit langem geforderte Reform der Spionagepraktiken des US-Geheimdienstes NSA ist vorerst gescheitert. Im Senat in Washington fehlten am Dienstagabend zwei der benötigten 60 Stimmen ..." (heise.de). +++ "Das von der NSA belauschte Ausland hat von all dem Gezerre in Washington ohnehin nichts. ... Von damals geäußerten Überlegungen, den Bürgern einiger verbündeter Länder die gleichen Schutzrechte zu gewähren wie amerikanischen Staatsangehörigen, ist heute nicht mehr die Rede ..." (SZ-Meinungsseite dazu). +++

+++ Öffentlich zugängliche Dokumente nach dem Informationsfreiheitsgesetz "müssen nicht freiwillig veröffentlicht worden sein, sondern darunter fallen auch geleakte Dokumente" (Malte Spitz bei netzpolitik.org). +++

+++ "Angesichts von zehn Sitzungen im Jahr, in denen 400 bis 500 Seiten Protokolle erstellt werden, die hinterher breit in der ARD gestreut werden, sei es eigentlich auch 'erfreulich selten', dass Teile daraus gezielt an die Presse lanciert werden". Das vertrauten Mitglieder des weniger bekannten Gremiums ARD-Programmbeirat dem schon erwähnten Stefan Niggemeier (krautreporter.de) an. +++

Neues Altpapier gibt's wieder am Freitag.