Denkanstößeaustausch

Denkanstößeaustausch

Die ARD Themenwoche wirkt schon bevor sie begonnen hat, zumindest in die schöne Diversität der ARD hinein. Ein neues deutsches Videoportal bezahlt Blogger mit Naturalien und wird fast schon mit Netflix verglichen. Außerdem: der "Social-Media-Bischof" an der Spitze der Evangelischen Kirche.

Bei deutschen Mediendebatten ist manchmal ein Blick nach Österreich hilfreich. Es ist ein anderes Land, spricht aber dieselbe Sprache und gehört daher in vielen Mediendingen zum gleichen Markt (Markus Lanz brach ja sogar noch ein Land weiter südlich auf ...). Der Standard leitet seine Zusammenfassung der Aufregung um die ARD-"Themenwoche Toleranz" (Altpapier gestern) so ein:

"Erst am Samstag hatte 'Wetten, dass ...?'-Moderator Markus Lanz etwas von 'unserer Toleranz', die Conchita Wurst mit ihrer Erscheinung auf die Probe stelle, schwadroniert. Anscheinend bewegen sich nicht nur Repräsentanten des ZDF in einem kleinen Spektrum von Toleranz, auch in der ARD sorgt jetzt eine eigenwillige Interpretation des Begriffs für Diskussionen."

Aus der im deutschen Onlinejournalismus immer noch üppigen "Wetten, dass ...?"-Berichterstattung war das irgendwie kaum durchgedrungen. Öffentlich-rechtliche Samstagabendunterhaltung erreicht eben allenfalls noch ein einziges Milieu, mit dem es längst kein anderes mehr ins Gespräch bringt. Die ARD an sich erreicht, wenn sie sich anstrengt, mehrere. Und tatsächlich gerät die beträchtliche Diversität, die aus den zahlreichen Kanälen, Wellen und Angeboten ihrer Anstalten so sendet und funkt, bereits ins Gespräch miteinander.

"Es geht um die Bereiche außerhalb der 'Komfortzone' ... Wir haben die Fragen bewusst zugespitzt, um bei diesem abstrakten Thema die konkrete individuelle Betroffenheit deutlicher zu machen. Solche zugespitzten Fragen sind Teil der gesellschaftlichen Realität, auch wenn mancher sie als Provokation empfindet. Der Text zielt selbstverständlich nicht darauf ab, einzelne Gruppen anzugreifen - auch wenn nachvollziehbar ist, dass bei isolierter Betrachtung einzelner Sätze ein solcher Eindruck entstehen kann",

treten sie beim Hessischen Rundfunk, wo die Aufregung am ehesten ausgelöst wurde, im angefügten "Update vom 11.11." der dennoch naheliegenden Annahme entgegen, all das sei eher unbewusst zugespitzt worden.

"Die Kritik nehmen wir selbstverständlich ernst. Wir haben mit den Plakaten anscheinend einen Nerv getroffen. ... Intolerantes Verhalten wird oft von Äußerlichkeiten und Vorurteilen geprägt. Genau damit spielt die Kampagne. Wir wollen zur intensiven Diskussion anregen und zum Nachdenken über eigene Haltungen und Vorurteile. Eine gewisse Provokation haben wir dabei in Kauf genommen ... Wir greifen existierende Themen und Debatten auf, beziehen aber mit der Plakatkampagne keine Position, sondern wollen Denkanstöße geben",

unterstreicht die Erfolgsmeldung des verspielten Bayerischen Rundfunks nicht minder wortreich.

"Dass Angehörige der stigmatisierten Gruppen eben nicht die Wahl haben, welches Maß an Ausgrenzung oder 'Toleranz' der Mehrheitsgesellschaft sie erdulden wollen - diese Erkenntnis scheint den Programmverantwortlichen der beworbenen Sendung noch nie gekommen zu sein. Doch Menschen kann man nicht 'ein bisschen' oder mit guten Willen 'etwas mehr' tolerieren. Denn niemand hat das Recht, andere Menschen einfach auszugrenzen, weil er sie als nicht 'normal' betrachtet ... ",

entgegnet der Norddeutsche Rundfunk (Zapp-Blog) mit einem sehr kritischen Text, der sich auch schon so liest, als hätten sämtliche Vorsitzenden aller in den Aufsichtsgremien vertretenen gesellschaftlich relevanten Gruppen ihn gegengezeichnet.

In den Komfortzonen der öffentlich-rechtliche Redaktionsstuben werden also Denkanstöße schon ausgetauscht, bevor die offiziell erst am Samstag beginnende Toleranzwoche überhaupt begonnen hat. Und das ist doch gut so!

Große Teile der übrigen Gesellschaft beteiligen sich ebenfalls. In den Agenturzusammenfassungen von APA (Standard), DPA (hier nebenan), AFP (SZ-Medienseite, Augsburger Allgemeine) kommt jeweils diese Rundumumfrage von handelsblatt.com vor, in der sich u.a. die Grüne Tabea Rößner, der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbandes, ein bekennender Pirat (viele Ex-Piraten bekennen sich ja längst nicht mehr ...) und mit Volker Beck ein weiterer Grüner zum Thema äußern. Aufmerksamkeit zieht auch dort ein Update auf sich:

"Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version des Artikels wurde Volker Beck als bekennender Homosexueller bezeichnet. Das Adjektiv 'bekennen' ist unpassend und wurde daher gestrichen."

####LINKS#### Im Themenfeld Toleranz/ Minderheiten ist eben eine ziemlich dynamische Sensibilisierung im Gange, die sich auch auf die Wortwahl auswirkt. Darüber darf und sollte natürlich gestritten werden, am besten, ohne dass jemand die eigene aktuelle Wortwahl absolut setzt. Auch Twitter ist, zumal in Deutschland, nur ein kleiner Ausschnitt der Gesellschaft. Und vermutlich entwickeln sich Ansichten zum Themenfeld Toleranz/ Minderheiten in einigen Parallelwelten auch andersrum dynamisch. Insofern bleibt die Themenwoche der in eigenen Sonntagsreden und theoretisch sowieso der ganzen Gesellschaft verpflichteten ARD, eine gute Idee. Gerade wegen des verstolperten Starts kann man auf die kommende (anders als auf vorherige Themenwochen) nun sogar etwas gespannt sein.

 

[+++] Ein weiteres Forum des bewegten Denkanstößeaustauschs ist gerade online gegangen (Korb gestern): das Videoportal dbate.de von Stephan Lambys Fernsehproduktionsfirma Eco media. Es erntet bereits großes Lob von klassischen Medien mit klangvollen Namen.

Es schaffe, "woran ARD und ZDF oft scheitern", schreibt Christian Buß bei Spiegel Online, nämlich "das Potenzial von Twitter, Skype und YouTube journalistisch zu bündeln und an der Schnittstelle zwischen Internet und klassischem Fernsehen neue Strategien für den Journalismus und die Reportage zu finden". Hinzufügen ließe sich, dass der Spiegel-Verlag, der schließlich auch eine zumindest früher wichtig gewesene Fernsehfirma unter seinem Dach beherbergt, an ungefähr solchen Schnittstellen auch lange experimentiert hatte.

"Ein Projekt ..., das die Mittel des Web für den Dokumentarfilm in voller Konsequenz ausreizt", würde Claudia Tieschky heute auf der SZ-Medienseite sogar sagen:

"Am eminentesten ist noch nicht einmal, dass sich die Rolle des Filmemachers verschiebt - in Richtung eines Prüfers, Verwalters und Monteurs von fremdem Material, das über soziale Netzwerke aufgespürt wird. Nein, das entscheidende Experimentierfeld betrifft die Frage, wie sehr der Dokumentarfilm noch auf die Ausstrahlung über einen Rundfunksender angewiesen sind."

Womit sie dbate.de gleich mal neben Netflix stellt. (Und was genau Tieschky am "Skype-Talk" mit Wolfgang Kubicki "extrem niedlich" findet, müsste man sie vielleicht mal per Skype fragen ...)

Lamby selbst vergleicht sein Projekt lieber erst mal nicht mit Netflix, sondern umreißt das Finanzielle auf die meedia.de-Frage, ob er Urhebern des aufgespürten fremden Materials denn etwas zahlt, so:

"Normalerweise haben Video-Blogger Interesse daran, dass aus ihrem Material ein Film entsteht, in dem Sie dann auch selbst vorkommen. Das heißt: In der Regel fließt kein Geld. Nur in seltenen Ausnahmefällen, wenn wir einen Film an das Fernsehen verkaufen beispielsweise, zahlen wir ein geringes Honorar. Ansonsten muss man einen Austausch von Naturalien sehen."

Diese Naturalien könnte man, wie gerade Dorin Popa ("...war mal ein gut beschäftigter Journalist. Inzwischen verdient er sein Geld als Türsteher und vertut seine Zeit mit Twittern") im in ähnlicher Hinsicht aufschlussreichen turi2.de- oder sogar turi3.de-Interview "Aufmerksamkeit, um Georg Franck aufzugreifen", nennen. Oder halt Denkanstöße.

Ja, womöglich lassen sich Denkanstöße am Ende gar monetarisieren. Zumindest deutet Jessica Weber, ihres Zeichens Kommunikationsberatungs-Mitarbeiterin der Krautreporter, im Interview mit zeit.de (das sich irgendwie daran stört, dass Nichtabonnenten die Kommentare unter Krautreporter-Texten nicht lesen können) so etwas an:

"Aber ich muss mich bei Ihnen ja auch dann kostenpflichtig registrieren, wenn ich die Kommentare nur lesen möchte."

Weber: "Viele Leser wollen die Kommentare unbedingt lesen. Zu wissen, was andere von einem Text halten, ist für die Meinungsbildung heutzutage extrem wichtig geworden. Außerdem verkaufen wir damit ein Gefühl der Zugehörigkeit, einen Blick hinter die Kulissen."

[+++] Dass in den Kommentarspalten, von denen augenblicklich ja noch viele unentgeltliche Meinungsbildung ermöglichen, zumindest unglaubliche Abenteuer warten, machte kürzlich radiowatcher.de deutlich.

Dieser Blog kümmert sich um die vielfältige, keineswegs immer schöne deutsche Radiolandschaft und hatte im Februar 2013 hier eine der immer laufenden irren Radioaktionen am Beispiel des Privatsenders Antenne Bayern beschrieben. Der Beitrag war und ist mit einem im seinerzeit verschneiten Franken aufgenommenen Foto eines Werbeplakats illustriert und zog dann viel später, in diesem November, Kommentare nach sich, die den kritischen Blog offenbar mit dem Sender selbst verwechselten, und die Kommentier-Funktion zum Artikel mit derjenigen einer E-Mail an den Sender:

"Wie tief verbunden sich viele Menschen mit 'ihrem' Antenne Bayern fühlen, zeigen Kommentare, die kurioserweise nicht in München bei Antenne Bayern, sondern hier bei Radiowatcher angekommen sind. Offensichtlich haben die Schreiber diese Website mit der von Antenne Bayern verwechselt. Eine Dame etwa schrieb diese Woche per Kommentarfunktion:
mein grösster wunsch ist es in einem bauwagen das kleinste cafe im schönsten garten bayern zu eröffnen. bauwagen hab ich schon, aber die einrichtung fehlt noch. kostenvoranschlag beläuft sich auf € 12.600.– ddamit würde ein traum für mich in erfüllung gehen
liebe grüsse ans ganze team, besonders an hern leickermooser"

Vielleicht kann radiowatcher.de-Macher Ekki Kern, der im Hauptberuf Redakteur bei Springers bekanntlich obsessiv Google verbundener Welt ist, Suchmaschinenoptimierung einfach besser als Antenne Bayern und vielleicht hat die Dame einfach gegoogelt.

Jedenfalls bleibt auch die Medienkompetenz ein weites Feld.


Altpapierkorb

+++ Schon seit fast einem halben Jahrtausend fast immer medienkompetent: unser Gastgeber hier, die evangelische Kirche. Margot Käßmann, die vor wenigen Jahren Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) war, ist sozusagen Legende (und immer noch Kolumnistin der Bild-Zeitung). Nikolaus Schneider ist nun zurückgetreten, zum Nachfolger wurde auf der ohnehin sehr digitalen Synode in Dresden der "Social-Media-Bischof" Heinrich Bedford-Strohm gewählt: "Professor Menschenfischer" (Print-SZ heute, online ähnlich) ist "der erste Ratsvorsitzende, der tatsächlich selber twittert", und zwar als @landesbischof. +++ "Geäußert wird jedoch bereits die Sorge, Bedford-Strohm dürfe sich in seinem neuen Amt nicht zu sehr treiben lassen von seinem Arbeits- und Mitteilungseifer. Wer einen Blick auf seinen Facebook-Account wirft, ahnt, was gemeint ist: Bedford-Strohm besitzt eine immense und strapazierfähige Begeisterungsfähigkeit" (FAZ-S. 8). Doch "Bedford-Strohm will weiter bei Facebook aktiv sein". +++

+++ Inzwischen gibt's inzwischen RT deutsch, doch die aktuelle russische Medienoffensive (Tsp. kürzlich) läuft nicht nur international, sondern auch im russischen Inland. Den Bericht über die angekündigte Abschaltung des russischen CNN zum Jahresende leitet die Süddeutsche mit Ted Turners zum amerikanischen Start gegebenen Versprechen "Wir werden erst abschalten, wenn die Welt untergeht" ein. Das dem Entschluss zugrundeliegende russische Gesetz, dem zufolge ausländische Investoren nur noch maximal zwanzig Prozent eines in Russland erscheinenden Mediums besitzen dürfen, dürfte auch deutsche Verlage "wie Burda, das in Russland mehr als achtzig Zeitschriften herausgibt, oder Axel Springer, das in Russland sein Wirtschaftsmagazin 'Forbes' verbreitet", treffen (FAZ). +++

+++ Mozilla arbeitet nun mit dem Tor-Projekt zusammen (FAZ, frei online: heise.de). +++

+++ "Man sieht nur, was man weiß. Der Satz ist von Goethe, stimmt aber immer noch. Wissen verändert Sehen, weswegen Sie heute an dieser Stelle zwei Fernsehkritiken in einer zu lesen bekommen", leitet Evelyn Roll auf der SZ-Medienseite ihre Kritiken zum heutigen ARD-Film "Altersglühen" ein: "den schnellen, gelangweilten, unwissenden Verriss der schnell gelangweilten, unwissend an ihre 'Tatort'- und 'Traumschiff'-Erfahrungen gefesselten Zuschauerin. Und eine dringende Ein-schalt-, am besten sogar zweimal Anschau-Empfehlung ...", die dann überwiegt. +++ "Schlicht großes Theater im Fernsehformat", findet auch Ursula Scheer in der FAZ. +++ "Ganz großes Tennis", würde Jens Müller sagen und vollzieht auf dem engen Raum der TAZ Rolls zwei-Kritiken-in-einer nach. +++ Das größte Tennis der Kritiker bietet Nikolaus von Festenberg im Tagesspiegel ("Er ist ein unfairer Gott wie alle Götter: Eros. ...") +++ Was sagt TPG? +++

+++ Ebenfalls viel besprochen: die Serie "Silicon Valley", die beim deutschen Sky startet. "Die Persiflage ist täuschend echt. Die pseudoreligiöse Inbrunst, mit der hier neue Gadgets präsentiert werden, unterscheidet sich nur in Nuancen von dem Pathos, mit dem die real existierenden Protagonisten der Online-Konzerne um die Ecke kommen, wenn sie der Menschheit einmal mehr weismachen wollen, dass sie auf genau diese neue Applikation gewartet hat" (Michael Hanfeld in der FAZ). +++ Siehe auch TAZ. +++ Der Tagesspiegel hat den Autor und Regisseur sowie "Beavis and Butt-Head"-Erfinder Mike Judge interviewt ("Es ist noch nicht lange her, da waren die reichsten Menschen der Welt Typen vom Schlage der Rockefellers, klassische Alpha-Männer. Heute sind es sozial unbeholfene Menschen wie die Microsoft-Gründer Bill Gates und Paul Allen, die vor 100 Jahren ganz sicher keine milliardenschweren Konzernchefs geworden wären. Da steckt jede Menge Komödienstoff drin.") +++

+++ "Vox streut seit dieser Woche die neue, eigenproduzierte Sketch-Comedy 'Einfach unzertrennlich' in sein Vorabendprogramm ein. Immerhin: Die meisten Zuschauer schalteten nicht einfach irritiert ab" (dwdl.de). Es ist die Produktion, für die tatsächlich die alte Harald-Juhnke-Partnerin Grit Boettcher wieder hervorgeholt wurde. +++

Neues Altpapier gibt's wieder am Donnerstag.