Beruhigungsfernsehen vs. Grusel, Gewalt, Empörung

Beruhigungsfernsehen vs. Grusel, Gewalt, Empörung

Kulturbruch, Generationenabriss. Eine grundsätzliche Inhaltskritik am Spiegel und seinem düsteren, geschlossenen System, und eine noch grundsätzlichere am öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Außerdem: ein Journalistengewerkschaftschef mal bemerkenswert unkernig.

Heute in Hamburg, in der Kantine des repräsentativen Bauwerks am Hafen, in dem Gruner + Jahr zurzeit ansässig ist, gibt's was für Auge: Von 11.30 bis 13.00 Uhr ist "Dinner in schwarz", d.h. G+J-Mitarbeiter sind eingeladen, "schwarz gekleidet" zu dinieren, um gegen den "beispiellosen Kahlschlag", den "Kulturbruch" der bis zu 400 Stellenstreichungen zu protestieren, der im August (Altpapier) bekannt gegeben wurde, aber im Einzelnen, Persönlichen gerade erst begonnen hat.

Auf Optik verstehen sie sich in Hamburg, wo "People & Fashion" ja als eine "Communitiy of Interest" erhalten bleibt. Freuen Sie sich schon jetzt auf die Klickstrecken, die meedia.de gewiss in Near-by-Echtzeit online stellen wird. Dazu passt die neueste Spar-Anstrengung, die bei der Gala stattfindet:

"Der Verlag legt die Ressorts Foto und Grafik des wöchentlichen People-Magazins zu einem Großressort Optik zusammen und spart en passant sechs Voll- und Teilzeitstellen ein. In den Ressorts Foto und Grafik sind derzeit rund 20 Mitarbeiter beschäftigt" (kress.de)

"Großressort Optik", das dürfte auch für Glamour-Anzeigenkunden attraktiv klingen. Beim Wording besitzt Gruner + Jahr weiterhin Weltniveau.

Was geht sonst in der Hansestadt? Kritik aus Berlin beim Hochdruckreiniger der Demokratie ein. Nicht wegen des aktuellen Kohl-Zitate-Titels (bzw. das auch, unten im Korb), auch nicht wegen der Seifenopern-Haftigkeit seiner Spitzenpersonals-Findung und -Loswerdung, sondern mit einer Grundsätzlichkeit, die zumindest einen frischen Ton darstellt. Indem sie den Tonfall des Spiegel kritisiert. "Die Weltsicht des 'Spiegels' ... ist düster, grau und gruselig", diagnostiziert Malte Lehming im Tagesspiegel. Als Beleg zitiert er eine Menge im aktuellen Heft auf den Kohl-Artikel folgende Überschriften und bilanziert anschließend:

"Spannung soll entstehen durch Grusel, Gewalt, Empörung. Das Ganze wirkt wie ein geschlossenes System. Jeder Artikel fügt sich in die oberste Ideologie ein und bestätigt sie. Die Welt ist schlecht, wir decken’s auf - und was wir aufdecken, das belegt, wie schlecht die Welt ist. Man hat das Gefühl, jede Woche dasselbe in einer anderen Geschichte zu lesen (ganz anders übrigens 'Spiegel-Online'). Am Ende des Heftes stellt sich daher für den unvoreingenommenen Leser die Frage: Wird das den 'Spiegel'-Machern nicht selbst langweilig?"

Woher Lehming etwas über unvoreingenommene Spiegel-Leser weiß, ist natürlich eine andere Frage. Immerhin stellt er dem Spiegel nicht nur SPON gegenüber, das mit den Stilelementen Grusel, Gewalt, Empörung ja durchaus umzugehen versteht, sondern auch den gedruckten Economist, der eine ganz andere Weltsicht habe und an- statt aufrege (wobei seine Online-Startseite heute morgen übrigens noch mit einem attraktiven Foto von "Germany’s most photogenic minister" aufmacht ...). Kurzum: In seinem zugespitzten und keineswegs langen Artikel basht Lehming natürlich den Spiegel, aber nicht ohne gute Argumente. Medienjournalismus sollte und muss ja nicht ausschließlich daraus bestehen, prominente und zahlenstarke Personalien zu verkünden und Geschäftsmodelle zu analysieren, sondern darf und sollte auch Inhaltekritik enthalten (und damit verknüpfen).

Und wenn Medien aus einem Verlag welche aus einem anderen mal grundsätzlich inhaltlich kritisieren, belebt es das Genre. (Falls der Spiegel zurückkritisieren möchte, im bewährten Empörungs-Modus, böte die komplizierte Geschichte um den u.a. für den Tagesspiegel, nun aber wieder nicht mehr für die Versicherungswirtschaft tätigen Starkolumnisten Harry Martenstein vielleicht noch Stoff ..., vgl. newsroom.de).

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[+++] Neue Kohl-Zitate-Erregung wie gesagt weiter unten, hier muss noch ein grundsätzlicher, ein noch grundsätzlicherer Medienressort-Zeitungsartikel verhandelt werden. Auf der Süddeutschen-Medienseite gewinnt Claudia Tieschky dem Thema des ARD/ ZDF-Jugendkanals, das einerseits wegen der endlosen Debättchen darüber, ob, wie und wann er beschlossen und ggf. dann eingerichtet werden könnte, schon ziemlich ausgezehrt ist, wobei es andererseits Kanal und Beschluss noch gar nicht gibt, neue Aspekte ab. Vor allem diesen: "Alle müssen die Rundfunkabgabe zahlen. Darum muss es öffentlich-rechtliches Fernsehen für alle geben - auch die Jugend. Aber warum soll die einen eigenen Kanal bekommen und der Rest weiter Mainstream?"

Der einstweilen nicht frei online verfügbare Artikels lobt zunächst den Digitalsender ZDFkultur, dessen Abschaltung zwar längst beschlossen wurde, den es aber noch gibt (er "ist, wie es so schön heißt, auf Schleife gesetzt"), gelangt dann über Standortfragen (Wäre Baden-Baden, das der ARD-seits zuständige SWR bevorzugen würde, der richtige Sitz für einen Jugendkanal?) als Zwischenergebnis zu einer fulminanten Diagnose des akuellen Zustands des deutschen Fernsehens:

"Diesen Zustand kann man so beschreiben: Das meiste, was im Fernsehen kommt, im öffentlich-rechtlichen vor allem, ist nicht richtig schlecht. Es ist mittelmäßig, anforderungsarm, im Gefühlsspektrum unauffällig. Das Mittelmaß als Prinzip der Mehrheit, wie es das Fernsehen vorführt, ist vor allem eines: beruhigend. Ungefähr so beruhigend wie ein Donna-Leon-Film, bei dem alle Venezianer von deutschen Schauspielern gegeben werden, weshalb im Beruhigungsfernsehen kein Ort jemals fremder ist als die 'Lindenstraße'. Oder der 'Tatort', bei dem ja auch nichts anderes geschieht, als dass die bestehende Ordnung jeden Sonntag nicht am Hindukusch, sondern in Köln, München, Stuttgart oder Leipzig verteidigt wird.  Mit Erfolg natürlich. Dieses Fernsehen ist wie gemacht für Zuschauer, die vom Lebensalter her in einer existenzstabilisierenden bürgerlichen Langeweile geankert haben. Also ungefähr in jenem Zustand, den man, wenn man noch nicht 25 ist, zum Heulen findet."

Wenn wir kurz hinauf schauen, zur Lehming'schen Spiegel-Betrachtung: Wer tagsüber beim Spiegel-Lesen mit Grusel, Gewalt, Empörung konfrontiert wurde, kann vorm Schlafgehen unter einer Menge Beruhigungsfernsehen auswählen (und um den Föderalismus des deutschen Fernsehens nicht geringzuschätzen: unter Hindukusch-Verteidigung an Schauplätzen wie Sylt, Usedom, Rosenheim auch).

Und der Jugendkanal?

"Der Plan vom Spezialkanal für die Jugend ist auf erschreckende Weise systemkonform. Das Versagen beim jungen Publikum wird zwar von Intendanten oft zum Anliegen erklärt. Doch das eigentliche Problem der Öffentlich-Rechtlichen löst ein Jugendkanal nicht im Geringsten. Denn dieses Problem ist nur dem Symptom nach der gern zitierte 'Generationenabriss' .... In Wirklichkeit ist das Problem dasselbe, das auch die Verschiebung von Kultur in die Nachtstunden und die ARD-Dauertalks verursacht hat: Masse ist Masse, und die Minderheit kann schauen, wo sie bleibt."

Tieschky bezweifelt dann das von Jugendkanal-Befürwortern benutzte Argument, "dass sich die Gesellschaft insgesamt fragmentiere", zumal im Internet ("denn das Netz ist ja zunächst ein Ort, an dem sich Leute zusammentun, die vorher viel vereinzelter waren"), und verwendet die in diesem Jahr beschlossene bayerische Radio-Umschichtung (Der BR hat "hat fünf UKW-Plätze und setzt einen Jugendsender, mit dem man auch bei der Politik gut dasteht, an die Stelle des bisherigen Klassikkanals. Die Plätze für Schlager und Pop standen selbstverständlich nicht infrage") als Argument für ihre Sicht, dass die Öffentlich-Rechtlichen Massen statt Kultur bevorzugen.

Es sind also komplexe Gedankenbögen, die es lohnen, sie mit etwas Abstand noch einmal durchzulesen - was auf Zeitungs-Medienseiten ja auch nicht der Regelfall ist. Für den Medienjournalismus ist dieser Donnerstag ein ganz guter Tag.
 


Altpapierkorb

+++ Eigentlich immer für kernige Äußerungen zu haben ist Michael Konken, Chef der Journalistengewerkschaft DJV. So unkernig wie zur Frage, was von Heribert Schwans Umgang mit den Helmut-Kohl-Zitaten (Altpapier gestern) zu halten ist, präsentiert sich Konken selten: "'Ob das Ergebnis im vorliegenden Fall tatsächlich von besonderem öffentlichem Interesse ist, hängt von der Frage ab, ob dadurch wirklich wichtige neue Informationen über die Person Kohl zugänglich gemacht werden', sagte Konken. Klar sei aber auch, 'dass, wer einmal gegen die Vertraulichkeit verstößt, in Zukunft wohl keine Informationen mehr bekommt ... Gleichwohl hält er es für nachvollziehbar ... Konken sagte aber auch..." (handelsblatt.com). +++ Eine kleine Twitter-Battle der prominenten Boulevardjournalisten Kai Diekmann und Nikolas Blome dokumentiert das unermüdliche meedia.de. "Ich finde, die #Kohl-Protokolle gehören wie die #Wulff-Mailbox ins Bonner Haus der Geschichte. Wohin denn sonst?", twitterte Blome (Der Spiegel). +++ Lieber mit den "Dirndl-Aussagen des früheren FDP-Fraktionschefs Rainer Brüderle gegenüber der Stern-Redakteurin Laura Himmelreich", die ebenfalls "mit Sicherheit nicht zur Veröffentlichung bestimmt" waren, vergleicht Jürn Kruse sie. Und bezieht damit die bei der TAZ noch freie Position, Schwan "durfte ... nicht nur, er musste ... sogar" veröffentlichen. +++ Wenn Sie trotz allem noch zu carta.info klicken mögen: Dort kleidet Freischreiber-Tausendsassa Kai Schächtele, geboren 1974, "Journalist, Autor und Multimedia-Storyteller", die Sache in Wein- und Winzer-Metaphern und argumentiert wiederum gegen Schwan. +++

+++ Die TAZ hat sich die Krise der Bravo (Altpapierkorb gestern) zusammen mit Gabriele Rohmann, Leiterin des Archivs der Jugendkulturen in Berlin, angeschaut. Die Zeitschrift "hat sich lange auf dem scheinbaren Alleinstellungsmerkmal ausgeruht, das erste und lange einzige Jugendmagazin seiner Art zu sein", urteilt die Expertin. +++ "Wie das SED-Zentralorgan 'Neues Deutschland' vor 25 Jahren die Wende ins Blatt hob" hat sich der Tagesspiegel gemeinsam mit dem aktuellen Chefredakteur des Blattes, Tom Strohschneider, angeguckt. +++

+++ Komplementär zum Tieschky-Text auf der SZ-Medienseite: eine Kritik der beiden neuen ARD-Vorabendserien, der deutschen "Dating Daisy" und der britischen "Cuckoo". Die deutsche sei "eine Serie wie ein lauwarmes Fußbad - stört nicht, könnte mit mehr Entschiedenheit aber wesentlich mehr Spaß machen", findet David Denk. +++

+++ "Mit der Premiere von 'Die Einsamkeit des Killers vor dem Schuss', einer Komödie von Florian Mischa Böder im Auftrag des ZDF, die beweist, dass das deutsche Fernsehen in seltenen Momenten doch einmal guten Humor hat, eröffnete am Wochenende die vierundzwanzigste Cologne Conference", leitet Oliver Jungen auf der FAZ-Medienseite seinen Veranstaltungsbericht ein: "Telekom-Mitarbeiter der Strategie-Abteilung, die allen Ernstes als 'Top Transformation Team' vorgestellt wurden, bildeten einen guten Teil des Publikums. Von Vortrag zu Vortrag schauten die Transformatoren allerdings konsternierter drein, denn als Verheißung erschien das Internet hier ganz und gar nicht". Aber hoch her ging's: "Der Medienhistoriker Wolfgang Hagen forderte ... harte Auflagen für Google & Co. und – schräg genug – die Totalreform des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in Deutschland, der mit komplett neuem Personal eine Gegenöffentlichkeit im Internet zu organisieren habe ...". +++ Das Hauptthema der FAZ-Medienseite könnte Strategieabteilungs-Mitarbeiter auch konsternieren. Patrick Bahners berichtet davon, wie Jeff Bezos seine Zeitung mit seinem Amazon verknüpfen möchte. "Er habe der Zeitung eine Startbahn gebaut, sagte er neulich. Eine Startbahn sei keine Landebahn - früher oder später müsse das Unternehmen abheben. Um die Flugtauglichkeit sicherzustellen, hat die 'Washington Post' im September die Betriebsrenten gekürzt. Sie spart sich jetzt die Krankenversicherung ihrer Pensionäre." +++

+++ Was zur Beruhigung: "Bettina Wulff tritt wieder im TV auf – in einer Koch-Show"(Hamburger Abendblatt). +++

+++ "Selbst wenn Ingo Zamperoni so eine Sendung machen würde, einer, der seriöser daherkommt als ich, würde das frühestens um 0 Uhr 30 gezeigt werden. Da wünsche ich mir von den Entscheidern mehr Eier. Dem Fernsehen in Deutschland fehlen Mut und Haltung", sagt Manuel Möglich, dessen über seine neue Sendung "Deutschland von außen" bei ZDF-Neo immerhin schon um um 23.15 Uhr on air darf (Tagesspiegel-Interview; zur Sendung: BLZ/ DuMont-Pool). +++ Jürgen von der Lippe würde zustimmen. "'Wenn heute ein Fernsehredakteur eine Idee hat, muss er mindestens drei Leute fragen, und er kann sicher sein: Irgendeiner knickt es', sagte der 66-Jährige der 'Bild'-Zeitung (Mittwochsausgabe): 'Diese Bürokratie erstickt jeden witzigen Ansatz.'" (EPD-Meldung, bild-plus). +++ Aber Christian Ehring nicht, der heute abend als Beckmann-Nachfolger in der ARD debütiert. "Bei 'extra 3' ist es so, dass wir unser Publikum grundsätzlich für intelligent, reflektiert, neugierig und aufgeschlossen halten", vertraute er dwdl.de an. +++

+++ Und die Story mit Helmut Markworts Pseudonymen, die newsroom.de etwas arg irrig René Martens als "'Zeit'-Reporter" zuschreibt (während es so richtig war; hier Renés Altpapier dazu), erhielt vom multiplen Machertypen selbst "jetzt erstmals eine offizielle Bestätigung" und ist sogar ver-DPA-t. +++

Neues Altpapier gibt's wieder am Freitag.