Kalkül in Kanäle kübeln

Kalkül in Kanäle kübeln

Reaktionäre Organisationen in Zeiten der digitalen Revolution. Deutsch-marokkanische Meinungen über "Scharia-Polizei"-Berichtererstattung. Eigeninitiative eines Springer.Mitarbeiters. Außerdem: "Es wird eng, Land".

Die Schweiz ist nicht das allereuropäischste Land, wenn man bei Europa an Institutionen wie die EU denkt. Aber sie hat zumindest mehrere wichtige europäische Sprachen im Blick, und damit Zusammenhänge, die in Deutschland, das sich außer für eigene vor allem für englischsprachige Inhalte interessiert, womöglich entgehen.

In einem Kommentar für die Neue Zürcher Zeitung denkt Rainer Stadler die Entwicklungen bei der französischen Libération und den FAZ und Spiegel zusammen. Sie sind natürlich nur zum Teil vergleichbar, schließlich streicht der Spiegel zurzeit gar keine Stellen, aber:

"Die drei Zeitungshäuser haben eines gemein: Sie entstammen einer Journalismus- und Verlagskultur, in der die Erzielung maximaler Renditen nicht zum Daseinszweck gehört."

Ob die "Führung ... im Fall des 'FAZ'-Herausgebergremiums" ähnlich "komplex" ist wie beim Spiegel mit seiner Mitarbeiter KG, zu der längst nicht alle Mitarbeiter gehören, wäre auch eine interessante Frage. Jedenfalls lautet Stadlers These in seinem knappen Kommentar dann:

"Die digitale Revolution verkehrte die progressive Organisation gleichsam in eine reaktionäre",

also die fürs Print-Zeitalter sinnvollen Führungsstrukturen der drei genannten Medien sei im digitalen nicht mehr sinnvoll.

Einen ausführlichen Bericht über die "Libé", die jeden Tag 22.000 Euro verliere und daher 93 von 250 Stellen loswerden will, hat gerade Rudolf Balmer für die TAZ verfasst. Das darin erwähnte Editorial des Direktors Laurent Joffrin steht auf französisch hier (wo auch der Eiffelturm-Blick von der ebenfalls erwähnten, für die verbleibenden Redakteure bald ehemaligen "prächtigen Dachterrasse bei der Place de la République" schön zur Geltung kommt). Zur Spiegel-Lage gibt's heute scheinbar nichts Neues (am Morgen bei meedia.de dann doch ...), und die gedruckte FAZ berichtet auch heute über ihre eigene Krise nichts.

Stadlers These wirft natürlich die Frage auf, ob es für Journalismus in der Digitalära Formen progressiver Organisation gibt, die also keine ständigen Zuschussbetriebe sind, ohne dabei renditeversessen zu sein.

Bei der Gelegenheit unwillkürlich ein Blick zu carta.info, dem "Netzwerk der Autoren, des Vereins, des Beirats, der Herausgeber, des miteinbezogenen Publikums und der Redaktion" (Selbstdarstellung) bzw. dem "weitgehend intransparenten Projekt eines kleinen Berliner 'Netzwerker'-Klüngels" (wie der offenkundig unwürdig vor die Tür gesetzte Wolfgang Michal es dann formulierte): Hat der für den gestrigen Mittwoch versprochene Relaunch denn stattgefunden, ist "die nächste Folge der großen öffentlichen Blog-Demontage" (Altpapier) raus?

Am Donnerstagmorgen einstweilen wieder noch nicht. Das heißt, am Mittwochabend war mit einem neuen, anders spartanischen Layout experimentiert worden. Was in diesem neuen Layout oben ganz gut zur Geltung kam: das Logo der Rudolf-Augstein-Stiftung.

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[+++] Jakob Augstein, der "als stellvertretender Vorstandsvorsitzender den journalistischen Zweig" dieser Stiftung betreut und als Betreiber des Freitags, als Krautreporter-Massenabonnent und mit der Stiftung eben auch Carta-Förderer sozusagen der weißeste Ritter des deutschen Journalismus ist, hat gerade einen hübschen Auftritt in seinem reichweitenstärksten Medium, bei Spiegel Online.

Ein bisschen wie "Augstein und Blome" in Textform wirkt das Pro und Contra herzliche Miteinander, das die marokkanisch-deutsche Journalistin Sounia Siahi und er dort präsentieren. Es geht um das natürlich auch im Altpapier behandelte Thema der vor allem in Wuppertal aufgetretenen "Scharia-Polizei". War das eine auf "maximale mediale Wirkung" zielende PR-Aktion, auf die die sensationsfreudigen Medien hereingefallen sind? Ja, meinte der ... begnadete Zuspitzer Augstein zunächst ("Dümmer als die 'Scharia-Polizei' erlaubt"). "Herr Augstein, Sie irren", entgegnete Siahi in einer "besorgten Zuschrift" (SPON). Und unter dieser gibt Augstein ihr nun mit "herzlichem Dank" recht. Bzw. spricht er Fragen der Perspektivik an, die im zuspitzenden Onlineleitartikelschreiben oft zu kurz kommen:

"Ich schreibe natürlich für eine autochthone, hauptsächlich weiße, bürgerliche Leserschaft, die sich darüber Gedanken machen muss, wie sie die offene Gesellschaft am Leben erhält. Und das eigene Ressentiment, die Vorurteile gegen Ausländer, gegen andere Religionen sind ein alter Feind der offenen Gesellschaft. Sie kennen andere Feinde - weil Ihr Hintergrund ein anderer ist, Ihr Blickfeld ist anders ..."

Was dem Thema Wucht gibt: dass anderswo zurselben Zeit Ähnliches geäußert wird. Im Tagesspiegel schreibt eine weiter deutsch-marokkanische Journalistin, die Gazelle-Chefredakteurin Sineb El Masrar, einen ebenfalls lesenswerten Artikel zum selben Thema ("Die breite Berichterstattung über die Scharia-Polizei war wichtig. Sie macht deutlich, in welchem Elend wir Muslime uns befinden"). Darin heißt es dann u.a.:

"... Die Berichterstattung über und die Medien-Zeiten für Muslime haben sich geändert -  und zwar zum Positiven. Über Muslime wird nicht mehr berichtet, als wären sie gerade aus einem unzivilisierten Loch gekrochen. Was eigentlich nicht zu kritisieren wäre. Niemand hat Einfluss auf seine Herkunft. Auf sein eigenes Handeln schon. Das ist auch der springende Punkt: Was machen wir Muslime daraus? Konvertiten wie Sven Lau und Pierre Vogel haben Blut geleckt. Endlich haben sie ihre Rolle im Leben gefunden. Allah ist barmherzig und verzeiht im Gegensatz zu ihnen die Überforderung mit Freiheiten wie Alkoholkonsum, Sexualität, unbedecktem Haar und Religionsfreiheit. All das, womit die Konvertiten und ihresgleichen nicht umgehen können, wollen sie der gesamten Menschheit verbieten. Damit gehen sie einem nicht nur auf den Keks. Sondern kübeln ihre gefährliche Einfältigkeit, die zum Kalkül geworden ist, in alle neuen Medienkanäle. ... So instrumentalisieren deutsche Salafisten die Diskriminierung der muslimischen Einwanderer und geben sie in den neuen Medien als die ihre aus."

[+++] Passt an dieser Stelle die Meldung vom Mord an der afghanischen Journalistin Palwascha Tokhi, die bei "einem von der Bundeswehr gegründeten Medienzentrums" (NDR-Zapp) bzw. einem "mit deutscher Unterstützung aufgebaute Medienzentrum für afghanische Journalisten" (augengeradeaus.net) gearbeitet hatte? Sie ist jedenfalls leider aktuell.

[+++] Ganz anderes Thema. Gestern oben im Altpapierkorb stand der Bildblog-Text mit der großen Überschrift "Die verlorene Ehre des Alexander Blum", in dem es um einen Bild-Zeitungs-Mitarbeiter ging, der offenbar das vom Europäischen Gerichtshof ermöglichte sog. Recht auf Vergessenwerden mit Erfolg gegen den Bildblog angewendet hat.

Meike Laaff ist der Sache für die TAZ nachgegangen und hat nicht nur von Mats Schönauer gehört, dass sie beim Blog länger überlegt haben, ob sie den Namen (den Blum ja offenbar gerade aus den schnellen Suchergebnissen heraushalten will) nennen. Aber: "Es ist  doch bemerkenswert, dass jemand, der ausgerechnet bei so skrupellosen Medien wie Bild und Bild am Sonntag arbeitet, erreichen kann, dass man ihn mit seinem Schweinenummern nicht mehr in Verbindung bringen kann". Sie hat außerdem von Springer-Sprechern, die bekanntlich eigentlich nicht zu interessanten spektakulären Aussagen neigen, Sätze erhalten, die klingen, als sei der Konzern mit dieser Eigeninitiative seines Mitarbeiters nicht glücklich, z.B.:

"'Als Medienhaus müssen wir natürlich besonders verantwortlich mit der Frage umgehen, ob Beiträge weiterhin  im Netz auffindbar bleiben.' Den vorliegenden Fall schaue man sich an."

[+++] Zurück zum Anfang, der Blick auf Europa. Heute natürlich überall groß in deutschen Zeitungen: die Frage, ob Europa, was die Anzahl seiner Staaten anbelangt., noch größer wird, also das Thema Schottland (Altpapier).

Die Seite 3-Geschichte der Süddeutschen trägt die Überschrift "Es wird eng, Land". Die FAZ zeigt als Titelseitenfoto den "Häuptling der Würste", einen "mit Schafsinnereien gefüllte Schafsmagen namens Haggis", und auf der TAZ steht ein echtes Pro und Contra zum Thema. Pro argumentiert Ralf Sotscheck, schon weil er die Chance sieht, vom Korrespondenten "für Großbritannien und Irland" zu dem "für Kleinbritannien, Irland und Schottland" aufzusteigen.
 


Altpapierkorb

+++ Ui, eine gute Nachricht aus dem Zeitungsgeschäft. Zumindest ein bisschen, wenn man die passende Perspektive wählt. Die Münchener Abendzeitung, im März insolvent gegangen (Altpapier), habe ihre "verkaufte Auflage ... bei gut 40.000 Exemplaren pro Tag stabilisiert und liege damit klar über der Marke von rund 30.000 Exemplaren, die für das Erreichen der Gewinnschwelle erforderlich sei", zitiert wuv.de aus einer Verlagsmitteilung. Sie verkauft also ein Drittel Exemplare mehr als nötig wäre. Wobei von "ehemals 102 Mitarbeitern" inzwischen zwar mehr als die zunächst vorgesehenen 25 bei der AZ aktiv sind, nämlich "mehr als 30". Womit zwei Drittel der ursprünglichen Stellen aber weiterhin weg sind. Siehe auch Tagesspiegel. +++

+++ Inzwischen zu haben: ausgeruhte Nachberichte zur großen Berliner Netflix-Party. Es war "eine ziemlich normale deutsche Branchenparty. Journalisten, Presseverantwortliche und Senderchefs deutscher Programmveranstalter liefen da herum, ein paar vereinzelte deutsche Schauspieler (Dominic Raacke), deutsche Entertainer (Jan Böhmermann) und deutsche Produzenten (Oliver Berben", und später begannen "ein paar schöne junge Frauen ..., um eine der vielen Bars herumzutanzen", analysiert Katharina Riehl auf der SZ-Medienseite. +++ " Viele junge Schauspieler sind da, und die Hipster und alle, die was mit Medien machen. Kaum jemand vom politischen Establishment. Vielleicht dominiert die Angst davor, dass eine Talkshow-Einladung havarieren könnte, wenn man zu nahe bei Netflix ist?" (rolandtichy.de, mit Fotos). +++ Klickstrecke bei meedia.de. +++ "Nach Paris und der Berliner Party ist Reed Hastings heute schon in Wien und danach in Zürich und Brüssel, um den Dienst vorzustellen und freizuschalten", wusste kress.de gestern zu berichten. +++ "Der Videostreaming-Markt ist kaputt und die Streaming-Anbieter machen es nicht besser. Im Gegenteil. Sie fragmentieren weiter. ... Ich schmeiße den Geräte-Zoo jetzt aus dem Fenster. Danke für nichts Netflix, Apple, Amazon, Google, Sky und Telekom" (Caspar Clemens Mierau bzw. leitmedium.de aus technischer Sicht zum selben Thema). +++

+++ "Im Internet tobt ein Krieg. Die Schlachten werden auf Twitter und Youtube, in Blogs und Magazinen geschlagen." Einer nur? In dem, den die SZ-Medienseite damit meint, verlaufen "die Fronten ... sehr verworren". Grob gesagt, sind "die Angreifer ... Blogger und Computerspieler, die sich unter dem Banner 'GamerGate' versammeln. Das Ziel sind Medienkritiker, Journalisten und Entwickler von Videospielen." Hier geht's zu Anita Sarkeesians feministfrequency.com. Nach Gamergate in der Wikipedia zu suchen, hilft im Kontext nur auf englisch, auf deutsch dagegen gar nicht. +++ "Beispielloser Strudel aus Pressekritik, Sexismus, Feminismus und Verschwörungstheorien", macht gamestar.de auf den Blick hinter seine Paywall gespannt. +++

+++"Sachen, die einem Angst machen können", hat Michael Hanfeld auf der FAZ-Medienseite in Christoph Keeses "tiefgründig lehrreichem Buch 'Silicon Valley' (Knaus Verlag, 19,99 Euro)" entdeckt. "Luzide" sei es, "ohne larmoyant zu werden". +++ Bloggt der Springer-Außenminister Keese eigentlich noch auf presseschauder.de? Zuletzt im Juli lieferte er stolze dreizehn Argumente für das Leistungsschutzrecht. +++ "Er hatte für das ZDF einen Epochenwechsel zu bewältigen, der heute schon wie ein Kapitel aus der Frühgeschichte der Medien wirkt", nämlich als in den 1980ern die Privatsender aufkamen, würdigt ebenfalls Hanfeld ebd. den damaligen ZDF-Intendanten Dieter Stolte zum achtzigsten Geburtstag. +++

+++ Außerdem auf der FAZ-Medienseite: ein Text aus dem viel zu selten vertretenen Genre der nicht-lobenden Fernsehkritik. "Wer sagt, Splatterfilme seien grausam, schaut zu selten Frauenfilme. In denen gibt es zwar keine Gewaltorgien mit literweise Kunstblut, aber die braucht es auch gar nicht für ein Höchstmaß an subtiler Grausamkeit. Der wahre Horror lauert in Kulissen wie aus der Margarine-Werbung", würdigt Ursula Scheer "Charlottes Welt - Geht nicht, gibt’s nicht" heute abend im ZDF. +++ "Der Handlungsreichtum hat fast zwangsläufig zur Folge, dass alles oberflächlich bleibt", schreibt auch Tilmann P. Gangloff, vermag dem Film aber dennoch Positives abzugewinnen. +++ Nur drei von sechs Sternchen bei tittelbach.tv! +++

+++ "Manchmal muss man vielleicht etwas trommeln, um für ein nicht so ganz leichtes Thema zu interessieren. Aber wir haben auch gelernt, dass bei starken Themen wie zuletzt die Zwischentöne etwas leiser sein können. Es gilt immer wieder, die richtige Balance zu treffen", sagt der neue RTL-Chefredakteur Michael Wulf enorm diplomatisch in einem Tsp.-Interview. +++ "Es gibt aber auch eine gute Nachricht: RTL geht auf Distanz zum Genre Castingshow. Sprecher Körner: 'Vielleicht ist der Bedarf an neuen Variationen nach mehr als zehn Jahren Casting im deutschen Fernsehen jetzt mal gedeckt.'" Das hat David Denk Rising Star"-halber für die SZ-Medienseite erfahren." +++

+++ Was Wobbler sind, erfährt man im jüngsten Boris-Rosenkranz-Text auf stefan-niggemeier.de, der geradezu danach schreit, im süffigen "Zapp"-Stil gesprochen zu werden. Es geht um eine neue Werbekampagne der Rheinischen Post. +++

+++ Zum Sport, der kein Fußball ist: Die ARD will wieder mehr davon einkaufen, nämlich doch wieder Boxen (Tagesspiegel: "Ringen ums Boxen") und doch wieder Radfahren in Frankreich (FAZ). +++

Neues Altpapier gibt's wieder am Freitag.