Streichkonzert für zwei Redaktionen und RTL

Streichkonzert für zwei Redaktionen und RTL

Die FAZ streicht bis zu 200 Stellen und das Handelsblatt hat’s exklusiv. Wolfgang Michals fünf Cent zum Kampf um Carta. Ulrich Wickert hat die Patentlösung zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf entdeckt. RTL lässt „Rising Star“ fallen. Das Leistungsschutzrecht debütiert bei web.de und Netflix in Deutschland. Und beim Economist glaubt man noch an die Überlegenheit des Lesens.

Das Wort „Exklusiv“, welches das Handelsblatt gestern Nacht stolz einer Meldung und dem dazugehörigen Tweet voranschickte, scheint zwar aufgrund der Sachlage angebracht, aber trotzdem ziemlich unangemessen. Denn: Auch die FAZ wird Stellen abbauen, und zwar massiv. Von derzeit 900 Mitarbeitern sollen bis zu 200 gehen.

„Diesen Dienstag soll die Belegschaft von den Stellenstreichungen informiert werden.“

Braucht sie jetzt nicht mehr; steht ja exklusiv im Handelsblatt.

[+++] Jemand, der den Abbau seiner Stelle wohl schon länger ahnte, ist Wolfgang Michal, der sich im schwelenden Kampf um Carta (u.a. Altpapier gestern) nun mit einem Brief an die Autoren zu Wort meldet (nachzulesen derzeit bei newsroom, auf der Website des SPD-Medienpolitikers Christian Soeder und natürlich nach allen Regeln der Kunst ausgiebig copy-pasted bei Meedia).

Nach Vera Bunse erklärt nun auch Michal, die komplette Redaktion – Bunse und er – seien gegen die redaktionelle Einmischung des Fördervereins gewesen, die auch nicht rechtens sei, weil dieser laut Satzung gar nichts mit den Inhalten bei Carta zu tun habe.

Zudem formuliert Michal eine Erkenntnis, die auch für andere dieser Internet-Medien-Klitschen von Interesse sein könnte.

„Bedingt durch den Kapitalmangel sind kleine journalistische Medien-Projekte im Netz oft hybride Angelegenheiten. Meist mischen nur wenige hauptberufliche Journalisten mit. Die Mehrzahl der Beteiligten kommt aus der Berater- und Projektentwicklerszene, aus Hochschul- oder privaten Instituten, aus der Internetwirtschaft, aus freien Berufen - insgesamt aus einer Dienstleistungsbranche, in der journalistische Grundregeln nicht ganz so wichtig genommen werden wie ‚gelernte’ Journalisten das erwarten. Der Widerspruch zwischen dem Wunsch der Journalisten, ein unabha?ngiges Medium im Netz zu etablieren und den Interessen derjenigen, die ein funktionierendes (und legitimes) Netzwerk zur gegenseitigen Fo?rderung schaffen wollen, fu?hrt dann zwangsla?ufig zu Zusammensto?ßen.“

Außerdem meint er, als funktionierendes Team müsse man sich auch mal treffen, immer nur Mail und Skype und Hangout, das führe auf die Dauer zu Missverständnissen. Empathie erfordere ein sichtbares Gegenüber.

Morgen folgt der Relaunch von Carta und damit vielleicht schon die nächste Folge der großen öffentlichen Blog-Demontage.

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[+++] Da wir gerade beim Thema Stellenabbau sind: Julia Jäkels Mann ist doch ein Teufelskerl! Diese Erkenntnis müssen wir noch rasch aus einem Interview Ulrich Wickerts mit dem Zeit Magazin, das ja schon am Donnerstag erschien, nachreichen. Dabei geht es ausnahmsweise nicht um seine unnachahmliche Fähigkeit, gleichzeitig unabhängiger Journalist und Werbegesicht der Dämmstoff-vertreibenden Industrie zu sein (Altpapier), die unter dem Deckmäntelchen der Umweltverträglichkeit ganz gutes Geld zu verdienen scheint, wenn man der FAS Glauben schenkt.

Diesmal geht es um Ulrich Wickert, den „modernen Mann“ (Zeit Magazin), den Interviewer Tillmann Prüfer nicht genug dafür loben kann, dass er zu Hause bleibt und die zweieinhalbjährigen Zwillinge hütet, während seine Angetraute bei Gruner und Spar Vollzeit Mitarbeiter entlässt

„ZEITmagazin: Wie schaffen Sie es eigentlich, immer als moderner Mann zu gelten? Nach Ihrer Fernsehkarriere hüten Sie als 71-Jähriger Haus und Familie, während Ihre Frau Julia Jäkel den Zeitschriftenverlag Gruner + Jahr leitet.“

(...)

ZEITmagazin: Sie müssen nun den Haushalt organisieren, sich um Ihre beiden kleinen Kinder kümmern. Mussten Sie etwas neu lernen?

Wickert: Ich hatte nicht das Gefühl. Es ist herrlich.“

Ganz abgesehen davon, dass ich gerne mal testen würde, ob Prüfer es ähnlich erwähnenswert fände, wäre sein Gegenüber eine Frau, die den ganzen Tag zu Hause die Kinder hütet, während der Mann Großkonzerne lenkt: Wie schafft man es, gleichzeitig Werbegesicht, Krimiautor und dann auch noch Hausmann und Vollzeit-Dad zu sein?! Herr Wickert, verraten Sie uns Ihr Geheimrezept!

„ZEITmagazin: Wie sieht ein typischer Wickert-Tag aus?

Wickert: Ich frühstücke, lese Zeitung, zwischen 10 und 11 Uhr mache ich etwas Verwaltungskram, und dann schreibe ich. Ich korrigiere das Krimimanuskript vom Vortag und schreibe dann weiter. Das geht dann bis halb vier, vier, halb fünf. Ich kann erst aufhören, wenn ich weiß, wie die Story am nächsten Tag weitergeht. Und dann mache ich ganz normale Sachen, einkaufen zum Beispiel. Ich liebe Einkaufen. Ich kann mit dem Gemüsehändler diskutieren, mit dem Metzger reden. Ich überlege mir immer genau, welchen Käse ich kaufe.“

Woraus wir lernen: Am besten lassen sich Arbeit und Kinder im Alltag vereinbaren, wenn man die Kinder einfach weglässt. Danke, Uli, für diese bahnbrechende Erkenntnis! Und nun zum Wetter.

(Ach ja: Wenn das Hamburger Jugendamt bei Gelegenheit mal bei den Wickert-Jäkels vorbeischauen könnte, ob mit den im Tagesablauf ihres Betreuers keine Rolle spielenden Zwillingen alles in Ordnung ist... Vielen Dank.)

[+++] Streichkonzert, das können nicht nur Verlage bei ihren Printprodukten; selbst RTL beherrscht diese Kunst, wie wir seit gestern Abend und diesem Text wissen, der beweist, dass bei Meedia nicht nur Meister des Copy-Paste, sondern auch Autoren mit sehr feinem Humor am Werke sind.

Anders kann man es sich nicht erklären, dass ausgerechnet die Blitz-Absetzung von „Rising Star“- einer RTL-Castingshow, die ausnahmsweise nicht auf DSDS-eske Dramatik setzt – mit Vokabular aus eben jener Kiste verkündet wird.

(Das Ganze entfaltet seine Wirkung am besten, wenn man sich dazu eine mit Hall unterlegte, bedeutungsschwangere Stimme vorstellt – leihen wir bei Sat1 doch die von „Big Brother“. Zu sehen wäre dabei die von Blitzen und Donner verzerrte Totale vom „Rising-Star“-Studio):

„RTL zieht dem Quoten-Desaster ,Rising Star’ vorzeitig den Stecker.“

„Um dem Schrecken ein Ende zu setzen opfert RTL einen ganzen Donnerstagabend für Casting im Schnellverfahren.“

„für RTL entpuppte sich die mit großen Erwartungen gestartete Show als Mega-Flop.“

„Von der großen Pleite überschattet...“

High Noon bei RTL. Oder, wie es der Sender selbst formuliert:

„Das Finale wird vorverlegt.“

Statt geplanten zehn gibt es angesichts der miesen Quoten nun nur sieben Sendungen. Nach einer Mammut-Ausgabe am Donnerstag ist Schluss, RTL hat damit seinen ganz privaten Millionärswahl-Moment – und die Erkenntnis gewonnen, dass Castingshows auf diesem Sender nur noch geschaut werden, wenn ein sonnengegerbter so-called Poptitan von der Pubertät Gezeichnete als Sackgesicht (Symbolbegriff; ich habe die Sendung wohl seit Elli Erl nicht mehr gesehen) beschimpft.

Was lernen wir daraus? Joachim Huber vom Tagesspiegel schlägt den ganz großen Bogen von einer Wand in Köln zu Landtagswahlen in Ostdeutschland und meint, Deutschland habe einfach das Wählen satt.

„In Deutschland sinkt die Wahlbeteiligung allerorten. Und diese Wahlmüdigkeit hört beim Fernsehzuschauer nicht auf. Ständig entscheiden, unterscheiden, urteilen, anrufen, klicken – das Fernsehen hat das Fernsehmachen ans Publikum delegiert. Sehr demokratisch und so faul. Und wie reagiert der Zuschauer? Der will nur fernsehen.“

Für Stefan Winterbauer, nochmal die nimmermüde Text-Maschine Meedia, ist es einfach das Casting-Prinzip, das durch ist:

„Eine beliebte Schein-Begründung für TV-Flops ist, das der ,Mut’, etwas Neues zu probieren, leider nicht belohnt werde. Damit haben sich die Verantwortlichen bei ProSieben ihre Flops schön geredet. (...) Mit ,The Voice of Germany’ erlebte das Genre eine kurze Renaissance aber ,Keep Your Light Shining’ und ,Rising Star’ zeigen deutlich, dass die Idee der Musik-Castingshow abgenudelt ist. (...) Es ist also keinesfalls ,Mut’, der hier leider nicht belohnt wird. Vielmehr wird rasende Einfallslosigkeit vom Publikum abgestraft.“

Wer am Wochenende einen Blick in die Kommentarspalte unter diesem DWDL-Artikel warf, konnte aber auch zu einem dritten Urteil kommen:

„Die Leute sehen es möglicherweise nicht, weil es einfach nur bei RTL läuft und immer mehr Zuschauer den Sender boykottieren“,

hieß es da unter anderem.

Nicht „Rising Star“ ist das Problem, sondern RTL. Oder sagen wir doch gleich RTL eineinhalb, Kurs Richtung RTL zwei.

[+++] Und wo bleibt das Positive?! Falls Sie nicht gerade Mitarbeiter bei Watchever oder Maxdome sind, freuen Sie sich vielleicht darüber, dass Netflix seit heute Nacht auch in Deutschland erreichbar ist. Bei faz.net hat man sich schon einmal die Tarife angeschaut.


Altpapierkorb

+++ Breaking news: Deutsche Internetnutzer suchen nicht bei web.de, gmx.net oder T-Online. Das ist die kleine Nachricht, die als Beiboot an der großen Nachricht hängt, dass bei besagten drei Suchmaschinen schon seit Anfang August die Angebote einer erlesenen und in der VG Media organisierten Gruppe an Verlagshäusern nicht mehr auftauchen (Codewort: Leistungsschutzrecht). Stefan Niggemeier hat das gestern aufgeschrieben und das Internet teilt es wie verrückt. Was normalerweise ein Anzeichen für einen gewissen Neuigkeitswert ist. Was wiederum bedeutet, dass seit über sechs Wochen niemand einen Artikel aus einem der Verlagshäuser bei besagten drei Suchmaschinen gesucht oder dann irgendwie vermisst zu haben scheint. +++

+++ Stellenabbau, so was hat man beim Economist nicht nötig, wo die Leser teure Abo-Gebühren gewöhnt sind und Anzeigenerlöse nicht so ins Gewicht fallen, wie Chefredakteur John Micklethwait heute im Interview auf der SZ-Medienseite erklärt. Außerdem hält er ein kleines Plädoyer für die Überlegenheit des Schriftlichen. „Nehmen wir den Abschuss des Flugzeugs über der Ukraine. Ich kann eine sehr pfiffige Videografik von den Flugbewegungen entwerfen. Ich kann ein Video produzieren, das den Kummer und das Entsetzen der Angehörigen in Holland zeigt. Doch wenn Sie in zehn Minuten so viel wie möglich lernen und erfahren wollen, dann ist es viel einfacher, sich hinzusetzen und darüber zu lesen. So vermittelt man schneller mehr Information. Videos werden besser sein für WM-Endspiele oder Angela Merkels Ausrutschen auf einer Bananenschale. Aber Lesen ist immer noch die effizienteste Art, die kompliziertesten Vorgänge schnell zu verstehen. Unser Vertrauen in die bleigrauen Seiten ist nicht altmodisch. Wir glauben an die Überlegenheit des Lesens.“ +++

+++ Die Debatte um das Zeigen oder Nicht-Zeigen der IS-Enthauptungs-Videos findet heute auf der Medienseite der FAZ statt. „Der Krieg wandert in die Handfläche. Mit dem Smartphone lässt der Nutzer Krieg und Gewalt in seine Komfortzone, mit dem Daumen entscheidet er über die Verbreitung von Propagandamaterial. Nicht nur die reale Front wird immer diffuser, sondern auch die digitale: Sie wird nicht mehr länger nur von Medien abgesteckt, sondern von einzelnen Nutzern.“ +++ Gedanken über das Thema macht sich auch Rainer Stadler im NZZ-Medienblog. +++

+++ Ebenfalls in der NZZ ist nachzulesen, wie es derzeit syrischen Journalisten in ihrem Land ergeht. +++

+++ „Herr Piel, Sie bekommen in diesem Jahr den Theodor-Wolff-Preis.“ Wie es nach dem Anruf mit dieser Information weiterging, beschreibt der diesjährige Preisträger und Redakteur bei der Elbe-Jeetzel-Zeitung, Benjamin Piel, bei newsroom. +++

+++ Ab und an bei der Themenauswahl auch auf die Klickzahlen zu gucken, das kann nicht schaden, schreibt Matthias Chapman im Off-the-record-Blog des Tagesanzeigers, womit er sich auch gleich um den Tagespreis der schönsten Speise-Analogien bewirbt. „Was im Lebensmittelladen Milch, Kartoffeln und Karotten sind, das sind bei Medien Information und Aufklärung zu relevanten Themen. Die bundesrätliche Pressekonferenz über die Energiewende wird niemals durch die Maschen fallen, nur weil der Webseismograf wegen der komplizierten Materie nicht wummert. Ein weiterer Bereich journalistischer Bearbeitung ist aber frei wählbar. (...) Auch Journalisten müssen die Freiheit haben, nicht den trockenen Boskop zuvorderst im Verkaufsregal präsentieren zu müssen. Und dabei kann der Webseismograf manchmal dienlich sein.“ +++

+++ Dem Nischen-Angebot Dokus für Kinder widmet sich heute die taz. +++

+++ Mit einem Porträt verabschiedet der Tagesspiegel Hans Hege als Direktor der Medienanstalt Berlin-Brandenburg nach 22 Jahren in den Ruhestand. „So ist die Zeitspanne von Heges Wirken identisch mit der Ära der Etablierung des dualen Rundfunksystems und zugleich der Gestaltung der deutschen Einheit auf diesem Gebiet. Für das Endergebnis erwies es sich als förderlich, dass hier kein Dogmatiker, sondern ein liberaler Regulierer am Werk war, der für Pluralismus focht und bei der Zuweisung von Frequenzen nicht nur, aber auch das ökonomisch Sinnvolle im Blick hatte.“ Am Mittwoch ist feierliche Verabschiedung, was nicht bedeutet, dass Hege seinen Schreibtisch endgültig räumen darf, denn seinen Nachfolger soll wohl der neu gewählte MABB-Medienrat bestimmen, und da gibt es, äh, gewisse Probleme (siehe dieses Altpapier). +++ 

+++ Zum Abschluss noch ein Fernsehtipp: Prinz Harry wird 30 und das Royal-Expertenteam aka ZDF feiern ihn, allerdings auf fragwürdige Weise, meint Martin Wittmann in der SZ: „Schon der Titel, Prinz Harry – der wilde Windsor’ klingt wie eine Mischung aus Porno und Soap, und viel niveauvoller wird es dann auch nicht mehr in den folgenden 45 Minuten.“ +++

Neues Altpapier gibt es morgen wieder.