Erst verschwimmt, dann verschwindet sie

Erst verschwimmt, dann verschwindet sie

Die demokratische Öffentlichkeit, zumal im Lokalen. Was dafür kommt: Netflix. Vielleicht sogar "Komafernsehen". Außerdem: FAZ-Krise; das Rauschen der Zeitung beim Aufschlagen der nächsten Seite.

"Next Level Transformation" hieß der Slogan des gestern glücklich ("mit der These, dass sich Qualität auch im Internet durchsetzen wird ...") über die Runden gebrachten Medienforums in Köln, von dem zumindest das kölsche Medienmedium dwdl.de in aller Ausführlichkeit berichtet.

Und die übernächste oder, wenn man gut antizipiert hat oder sog. early adopter ist, schon wieder vorletzte Stufe der Transformation kommt nun also wirklich. Das "schlecht gehütete Geheimnis" (TAZ), dass das US-amerikanische Video-on-demand-Portal Netflix auch in Europa inklusive Deutschland starten wird, wurde ein Stückchen weiter gelüftet, sodass nun alle Universalmedien breit darüber berichten und "die wichtigsten Fragen und Antworten" (u.a.: "Wer streamt schon in Deutschland?", sueddeutsche.de), die alle, die sich dafür interessieren könnten, schon kennen, noch mal für rasche Klicks zusammenstellen.

Der gewaltige, die Konkurrenz erdrückende Marktwert amerikanischer Konzerne, über den Manager deutscher Medienkonzernchen gerne klagen, etwa wenn sie in Medienforen beisammen sitzen, entsteht auch dadurch, dass deutsche Medien jeden, pardon, Pups solcher Konzerne in sämtlichen Ressorts aufblasen. Ein eindrucksvolles Beispiel aus der in grundsätzlich unterkomplexen öffentlich-rechtlichen "Börsenberichterstattung" stellt dar, was gestern im "heute-journal" (hier, bei "Nachrichten, Börse und Sport") Frank Bethmann so über Googles explodierenden Marktwert plauderte.

In der gedruckten FAZ wird die karge Netflix-News dreimal aufbereitet, in einer Medienseiten-Glosse, mit einem Wirtschaftsressort-Bericht ("Beobachter sagen, Netflix habe das Bedürfnis erkannt, dass sich Zuschauer heute nicht mehr von Fernsehsendern vorschreiben lassen wollen, wann sie was fernsehen") und einem Kommentar am Ende des Wirtschaftsressorts ("In jedem Fall aber ist der Einstieg von Netflix ein weiteres Signal für den Umbruch in der Branche, der aus Verbrauchersicht nur zu begrüßen ist"). Das wirkt fast so, als hätte da derselbe Praktikant den gerade in den Netzwerken empfohlenen "Deutsche Medien"-Eintrag des graphitti-blog.de weiter variiert.

In der gedruckten Süddeutschen erscheint Netflix heute nur einmal, dafür auf der ersten Seite ("Online-Fernsehen boomt, weil es Zuschauer unabhängig macht"). Pointe der meisten Berichte: dass Netflix "ohne sein schwerstes Geschütz in den Kampf um den härtesten Fernsehmarkt des Kontinents" zieht. "Denn in Deutschland ... ist 'House of Cards' längst zu haben. Bei Sky. Dort laufen alle Staffeln von Netflix’ preisgekrönter Eigenproduktion zuerst und das auch in Zukunft" (FAZ-Medienseite, bei faz.net, allerdings wiederum im Wirtschaftsressort, ähnlich).

Dass international erfolgreiche, also US-amerikanische Produzenten ihre Produktionen immer schon vorab auf sämtlichen Märkten der Welt meist an die Meistbietenden verkaufen und gerade deswegen so hohe Budgets zur Verfügung haben, die die Ergebnisse so attraktiv machen, ist ja nun eine der banalsten Binsen. Sogar Frank Bethmann vom ZDF dürfte davon gehört haben.

Etwas tiefer gehende Informationen zu Netflix bietet die Medienlandschaft natürlich auch, etwa der Netzfilmblog bei zeit.de ("Die Hoffnung, dass Netflix in Deutschland für einen monatlichen Abo-Preis von etwa 10 Euro das komplette US-Serienangebot abdeckt, dürfte sich kaum bestätigen"). Dort werden auch die gelassenen Reaktionen schon aktiver Mitbewerber gestreift, die auf dem Medienforum in Köln mit berechtigtem Ärger über das Bundeskartellamt sogar performt wurden (dwdl.de), und über die Jürn Kruse im eingangs verlinkten TAZ-Artikel schreibt:

"Nun wird sich zeigen, ob das zur Schau gestellte Selbstbewusstsein der hiesigen Anbieter dem Druck standhält. Das soziale Netzwerk StudiVZ schien auch gelassen, als Facebook nach Deutschland expandierte. Mittlerweile verwest es nur noch in der letzten Ecke des Internets."

Erwähnung verdient dann noch der Bericht bei handelsblatt.com [wofür auch ich schreibe], der insgesamt ebenfalls gelassen bleibt ("... wird ARD, RTL und Co wohl nicht ersetzen können, aber ihnen Zuschauer abspenstig machen, wenn nicht gerade eine Fußball-WM oder das 'Dschungelcamp' läuft"), aber den hierzulande bislang noch kaum strapazierte Terminus "Binge Watching", "wie das Schauen von mehreren Serienfolgen hintereinander genannt wird", tollkühn zu "Komafernsehen" eindeutscht.

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[+++] Mehr Medien-Transformation: Die gestern an dieser Stelle sowohl aus anderer Feder zitierte (von TAZ-Kriegsreporterin Silke Burmester, die heute, nicht deswegen, sondern in Wolf-Schneider-Dingen eine fröhliche Richtigstellung nachschieben muss) als auch selbst gehegte Hoffnung, bei der FAZ würden trotz ihrer Millionenverluste keine "weichen, sensiblen, empathischen, einfühlsamen FAZ-Journalisten" "abgebaut", wurde bereits relativiert:

"Betriebsbedingte Kündigungen werden nach Informationen von W&V Online wohl nicht ausgeschlossen, sollen aber 'sozial verträglich' ablaufen, wie es aus dem Umfeld des Zeitungshauses heißt. Beschlossen ist demnach auch: Eine Unternehmensberatung kommt ins Haus und soll den Prozess begleiten",

berichtet also wuv.de. Welche Berater sei auch schon entschieden: Roland Berger. Das ist ja mal eine frische Idee.

Zur ebenfalls gestern hier erwähnten neuesten Zombiezeitungs-Entwicklung in den aus der Ferne (jeweils!) so schön allegorisch klingenden nordbayerischen Landkreisen Haßberge und Lichtenfels gibt es einen Blogpost, und zwar bei zukunftsjournalismus.de. Dort bloggen in karger Optik die Geschäftsführer der Berliner Schule für Journalismus und Kommunikation, Olaf Jahn und Joachim Widmann. Widmanns Vita enthält sowohl die Station eines stellvertretenden Chefredakteurs der ehemaligen Netzeitung [in der das Altpapier entstand] als auch die das Chefredakteurs beim Fränkischen Tag. Er besitzt also Kompetenz in der Region und schreibt:

"In ganzen Regionen entstehen publizistische Monokulturen, wo einst Vielfalt herrschte. Etwa in Franken. Dort wird die brave Coburger 'Neue Presse', die 2010 bereits ihren eigenständigen Mantel aufgab, künftig für zwei ihrer vier Lokalredaktionen von Ablegern der Konkurrenz, der Mediengruppe Oberfranken in Bamberg, lokale Inhalte beziehen, wurde diese Woche bekannt gegeben. Die Bamberger wiederum, im Gegensatz zur sozialdemokratischen Gründung 'Neue Presse' auf CSU-konformem Kurs, beziehen seit einigen Wochen ihren Mantel aus Würzburg, wo er von der Redaktion der 'Mainpost' aus Material ihrer Verlagsmutter 'Augsburger Allgemeine' zusammengepuzzelt wird. Aus diesem Material bestückt auch der (im Lokalen allerdings derzeit sehr muntere) 'Nordbayerische Kurier' in Bayreuth seinen Mantel. Damit haben die publizistisch weitgehend anspruchslosen 'Nürnberger Nachrichten' die letzte eigenständige Vollredaktion im Nordosten Bayerns."

Nach einem Schlenker nach Mecklenburg-Vorpommern ("Unter den Regionalblättern scheint sich immerhin der 'Nordkurier' in Neubrandenburg derzeit aus dem Korsett zwanghaften Downsizings zu befreien") gelangt er zu einer Transformations-Zwischenbilanz, wie sie auf den Medienforen der Medienmetropolen und in den dort erstellten Medien selten zu hören ist:

"Vielerorts vertieft sich so schleichend der Graben zwischen örtlichen Eliten auf der einen Seite und der (jüngeren) Bevölkerung auf der anderen. Die Jüngeren verstehen sich zurecht als gut informiert, aber informieren sich im Internet eben nur aus überregionalen Medien. Unterdessen entsteht vor ihren Haustüren mit Hilfe eines gerade für jüngere, zumeist medienerfahrene und -affine Menschen ungenießbaren Lokalblatts alter Machart unbemerkt eine wachsende Zone weitgehend ohne Transparenz. In der biederen Harmlosigkeit inspirationslosen, kostenreduzierten Lokaljournalismus’ liegt die Gefahr, dass die demokratische Öffentlichkeit lokal erst verschwimmt und dann verschwindet. Verschärft wird dies noch durch die Tendenz, dass Behörden, Unternehmen und Interessenvertreter von Parteien und Verbänden sich im Internet mit eigenen Medien direkt an das Publikum wenden. Diese inhaltlich von Eigeninteressen und Marketing getriebene Propaganda ist oft besser gemacht und wirkt auch journalistisch hochwertiger als der Journalismus, der im Durchschnitt der Lokalblätter geboten wird. ..."

[+++] Weil's kolumnendramaturgisch passt, nicht (unbedingt) aus tieferen Gründen, rasch noch zwei Schlenker zu Zeitungshistorikern. Erstens weist im Tagesspiegel Elisabeth Binder darauf hin, dass die Zeitungshistorikerin Sylvia Lott im Auftrag der Brigitte selbst schon 1986 festgestellt hatte, dass die Gruner+Jahr-Zeitschrift viel älter ist als sie sich im Moment feiert, also als 60 Jahre (vgl. auch Altpapierkorb gestern).

Zweitens gab Martin Welke, ebenfalls Zeitungshistoriker, der wie schon so einige Male ein Pressemuseum plant, nun "Deutschlands größtes", dem Deutschlandradio ein Interview, in dem er so süffig vom "Rauschen der Zeitung" beim Aufschlagen der nächsten Seite spricht, und davon, dass im Internet zu lesen etwa so sei wie edlen Rheingauer Riesling aus einem Papierbecher zu trinken, dass man glatt wieder eine aufschlagen möchte.


Altpapierkorb

+++ Von einer cleveren bis tückischen Geschäftsidee eines Totholz-Unternehmens, des 1945 an "einem Zeitungsstand in Modena" entstandenen, zum "weltweiten Marktführer bei selbstklebenden Stickern und Trading Cards" aufgestiegenen Panini-Verlags, berichtet die TAZ. In Bremerhaven seien Sammelalben zur Fußball-WM verteilt worden, die nun gefüllt zu werden verlangen. "Die Angst vor dem Aufkleberjunkietum", lautet Lena Kaisers Überschrift. Birgit Barner, deutsche Panini-Marketingmanagerin, sagte: "Die Idee, die Alben direkt an die Kinder zu geben, sei ... von Lehrern an das Unternehmen herangetragen worden. Denn so ein Album biete ja auch für den Unterricht 'ein enormes Potenzial'. Man könne damit Zahlen lernen, sagt sie, oder die Flaggen. Außerdem befördere es den Mannschaftsgeist und die Tauschkultur." Dass Medienkonzerne Tauschkultur fördern möchten, ist auch eine neue Entwicklung. +++

+++ Sollte Komafernsehen sich durchsetzen und eine deutsche Ausprägung annehmen, die sich von der Qualität der Sendungen, mit der Binge Watching schließlich zusammenhängt, emanzipiert, ergeben sich womöglich neue Chancen für die öffentlich-rechtliche Fernsehunterhaltung. Einblick in deren Abgründe gestattet das dwdl.de-Interview mit ZDF-Unterhaltungschef Oliver Fuchs ("Wir werden im Juli an zwei Abenden in Folge zusammen mit Johannes B. Kerner 'Deutschlands beste Männer' und 'Deutschlands beste Frauen' suchen. Viele Idole der Deutschen stürzen ja derzeit regelrecht vom Sockel, denken Sie nur an Alice Schwarzer, Uli Hoeneß oder Bischof Tebartz-van Elst..."). +++ Und die "Quizduell"-App soll nun funktionieren! (ebd.: "App funktioniert, Zuschauer fliehen", @Volker_Herres, Tagesspiegel).+++

+++ "Nach der Prämierung des BILD-kritischen 'BILDblog' im Jahr 2005 gab es dieses Mal großen Zuspruch für ein Angebot aus der BILD- Familie" (grimme-institut.de zu den neuen Grimme Online-Nominierungen). +++ Heißt also: "'Bild' erstmals für Grimme Online Award nominiert" (evangelisch.de). +++

+++ Auf der SZ-Medienseite geht es um den russischen Fernsehsender namens LifeNews, dessen Reporter in der Ukraine eher als Beteiligte der Konflikte denn als Berichterstatter gesehen werden. "Die englische Bezeichnung solle den Anschein von Weltoffenheit erwecken", sagt Alexej Simonow von der (russischen) Stiftung zur Verteidigung von Glasnost. "Er sieht LifeNews im allgemeinen Trend der vom Staat kontrollierten Medien: Die Verblödung des Landes gehört zu den Aufgaben der Medien". +++ Und um amerikanische Serien geht es, nicht wg. Netflix, sondern allgemeiner: "Insgesamt haben die frei empfangbaren Sender innerhalb von nur einer Woche 23 Serien abgesetzt, sie schaffen damit Platz für neue Herbstprojekte wie etwa das Batman-Prequel 'Gotham' ..." +++

+++ Um amerikanische Serien geht's auch auf der FAZ-Medienseite. Eric Dane, der einst den "attraktivsten aller Fernseh-Ärzte" gab, spielt in "The Last Ship" "den Kapitän eines Kriegsschiffs und ist froh, nicht mehr das Sexsymbol zu sein", erfuhr Nina Rehfeld beim Setbesuch. +++ Um deutsches Fernsehen geht's auch. "Man kennt sie aus 'Fack Ju Göhte', jetzt spielt Alwara Höfels für die ARD 'Die Fischerin'", was laut Maria-Xenia Hardt aber kein Grund sei, "Die Fischerin" zu sehen: "Die Figuren sind kaum mehr als Versatzstücke aus dem Rührstück-Baukasten. Am Ende des Films stehen dramaturgisch der beinahe völlige Verlust jeglichen Realitätsbezugs und die Erkenntnis, dass Alwara Höfels diesem Film nicht halb so viel Gutes tun konnte wie die Rolle ihr Schlechtes". +++ Ebd. und auch online: eine neue wahre Datenkraken-Gruselstory: "Google will uns erzählen, wie unser Urlaub war", wenn es dafür alle Urlaubsfotos überlassen bekommt. +++

+++ Presseakkreditierungsfragen rund um Recep Tayyip Erdogans Wahlkampf-Auftritt in Köln wirft die TAZ auf. +++

+++ "Hoffen wir, dass der FC Krautreporter die Liga gehörig aufmischt": Mit einer Mütze voller Fußballanalogien begrüßt Wolfgang Michal (Carta) den genannten Verein. +++

+++ Und dass Borussia Dortmund unbedingt "einen ehemaligen Spieler wie in Zukunft beispielsweise Sebastian Kehl als inoffiziellen Markenbotschafter in den Medien ... platzieren" sollte, weil zu den Unwuchten im öffentlich-rechtlichen Fernsehen auch die Bayern-München-Lastigkeit eines seiner wichtigsten Standbeine, der Fußballberichterstattung gehört, meint bei newsroom.de Ole Heinrich. +++ Als Gedächtnis des deutschen Medienjournalismus müssen wir hier noch kurz darauf hinweisen, dass Steffen Simon, der damit auch gemeint ist, letztes Jahr zur ungefähr gleichen Zeit harsche Worte von Michael Hanfeld zu lesen bekam ("unfassbar, eine einzige journalistische Blutgrätsche...", vgl. Altpapier). +++

Neues Altpapier gibt's wieder am Freitag.