Vergessbar

Vergessbar

Führt Googles Albtraum zum Comeback vergilbender Papierarchive? Und andere dramatische Folgen des Luxemburger Urteils. Aber der Rundfunkbeitrag scheint durch zu sein.

Zwei hoch- bzw. höchstrichterliche Urteile sorgen seit gestern für Hallo im elektronischen und nun auch gedruckten Mediendschungel. Eins fiel in Koblenz und war nicht so überraschend, das andere fiel rund 120 km entfernt in Luxemburg und war es umso mehr.

Beginnen wir mit dem nicht so überraschenden, das immerhin in seiner Erscheinungsform in der renommierten "Tagesschau" verblüffen konnte (die nämlich, wie der Funkkorrespondenz auffiel, den Gerichtssitz verwechselte; vgl. Foto): Für den Rundfunkbeitrag, die Ex-GEZ-Gebühr, von dem u.v.a. auch die "Tagesschau" finanziert wird, wurde es doch nicht so ernst, wie gestern vor der Urteilsverkündung noch befürchtet/ gehofft werden konnte.

Vielmehr hat der rheinland-pfälzische Verfassungsgerichtshof "sehr viel deutlicher als vorherzusehen war", nämlich mit der "Note Eins mit Stern" (Claudia Tieschky jeweils, Süddeutsche S. 31) "eine Carte blanche im Nachhinein" derart erteilt, dass "juristisch dagegen kaum noch ein Kraut gewachsen sein dürfte" (Michael Hanfeld jeweils, faz.net).

Zwar wird "allgemein ... erwartet, dass der Rundfunkbeitrag bis zum Bundesverfassungsgericht hochwandern wird" (Joachim Huber, Tagesspiegel). Aber diese Wanderung wird er wohl eher vom bayerischen Landesverfassungsgericht aus antreten als von Koblenz aus. Schließlich wird dort am morgigen Donnerstag über die im Vorfeld gespannter erwartete Klage des Juristen Ermano Geuer und der prominenten Drogeriekette Rossmann entschieden. Hanfeld, der für die Druck-FAZ statt des knappen Online-Textchens eine große Reportage vom Koblenzer Termin verfasst, zitiert den Anwalt des dort unterlegenen Klägers, eines mittelständischen Bauunternehmens, mit der Einschätzung, dass es sich um ein "bundesweites Signal, dass der Rundfunkbeitrag Bestand hat", handele.

Andererseits, Überraschungen funktionieren natürlich besser, wenn sie überraschend kommen.

Damit nach Luxemburg, wo genau das geschah.  Kaum hatte (FAZ bzw. Altpapier gestern) der noch amtierende EU-Wettbewerbs-Kommissar Joaquin Almunia sich "für eine kluge, breit gefächerte Disziplinierungs-Strategie des Google-Unternehmens" ausgesprochen, hat der Europäische Gerichtshof mit so etwas losgelegt. Hier (PDF) ist sein Urteil auf deutsch zusammengefasst; curia.europa.eu heißt die Webseite des Gerichtshofs der Europäischen Union.

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Das "sehr grundsätzliche Urteil" (Thomas Stadler, auf den wir noch zurückkommen, im sueddeutsche.de-Interview) zum "Maulkorb für Google und Co." (die Top-Metapher hat wieder meedia.de) zog schon eine Flut an Kommentaren und Einschätzungen nach sich. Um rasch in die Zeitungen zu schauen, denen wir hier im Altpapier ja verhaftet sind: "Google ist nicht der Pontius Pilatus des Internets" (Heribert Prantls SZ-Leitartikel; das heißt: "Google kann also nicht einfach seine Hände in Unschuld waschen, wenn es auf Internet-Seiten mit falschen oder kompromittierenden Daten verweist"), und: "Die Welt ist keine Google" (Reinhard Müllers Leitartikel vorn auf der FAZ; soll ungefähr heißen: "Das Netz ist kein Naturereignis. Es ist Menschenwerk wie Google, das erst dafür sorgt, dass alle Informationen sichtbar bleiben"). Um nicht immer nur in SZ und FAZ zu schauen: "Der Albtraum für Google" (Die Welt), "Googles Albtraum" (Peter Riesbeck in der Berliner Zeitung mit dem schönen Vers "Zeitung vergilbt, das Netz aber speichert").

Einen Aspekt, der in den meisten Kommentaren gewürdigt wird, und den tatsächlich jeder Europäer begrüßen muss, der nicht als Vermarkter oder Pressesprecher für Google unterwegs ist, brachte am schönsten schon gestern vormittag netzpolitik.org auf den Punkt:

"Auch shcön, dass es mal ein EuGH-Urteil gibt, was einen Zusammenhang zwischen Verantwortung und Werbeanzeigen-Verkaufsniederlassung bringt."

Das heißt, die bisherige Ansicht, dass Google in europäischen Staaten zwar enorme Gewinne machen kann, sich aber an die Gesetze dieser Staaten nicht halten muss, weil das dafür eingesetzte Material, also die Daten, in den USA lagert, ist hinfällig. "Anders als bisher darf Google sich nicht länger für den Global Player von personenbezogenen Informationen halten, der allenfalls US-Recht zu befolgen hat" (Bernd Graff, SZ-S. 2). "Der Datenschutz, die Persönlichkeitsrechte, das Recht auf informationelle Selbstbestimmung - daran muss sich auch der mächtige Suchmaschinenbetreiber halten. Das ist die bahnbrechende und dabei fast banale Formel, mit der der EuGH Google in seine Schranken weist" (Wolfgang Janisch, ebd.). Dass das keineswegs Zensur darstellt, also einen Eingriff auf auffindbare Informationen, schon weil Google längst schon aus "wirtschaftlichem Eigeninteresse" die Informationen auswählt, die es Nutzern jeweils zur Verfügung stellt, arbeitet Svenja Bergt vorn auf der TAZ heraus.

Einen weiteren Aspekt bzw. "dramatische Folgen für die Betreiber von Suchmaschinen", die sich aus dem Urteil ergeben, sieht Ex-Spiegel-Chef Mathias Müller von Blumencron, jetzt ja "Chefredakteur digitale Produkte" bei der FAZ voraus, der bei faz.net schon mal Verbindungslinien zwischen den feuilletonistischen Google-Diskussionen und dem Urteil zieht:

"Konzerne wie Google, Microsoft oder Yahoo gelten in Zukunft im Hinblick auf ihre Suchfunktion als Datenverarbeiter. Die Folge: Sie sind für das inhaltliche Bild einer Person, das sich aus der Darstellung der gefundenen Links ergibt, verantwortlich. Diese Auslegung wollten die Konzerne mit aller Kraft verhindern, indem sie stets argumentierten, lediglich Dokumente auffindbar zu machen, aber ihren Gehalt dabei nicht berücksichtigen zu müssen. Mit dieser Argumentation ist Google gescheitert."

"Der Europäische Gerichtshof erkennt demnach an, dass der Suchmaschine Google eine entscheidende Gatekeeper-Funktion im Zeitalter des Internets zukommt", wird im schon erwähnten "Albtraum"-Artikel der Welt Anwalt Christian Solmecke zitiert. Damit zurück zum ebenso gern gefragten Internetrecht-Experten Thomas Stadler.

"Man kann sich schon die Frage stellen, ob die Entscheidung nicht auch generell für soziale Medien wie Twitter oder Facebook gilt, die ja auch Suchfunktionen eingebaut haben. Gerade dort gibt es viele personenbezogene Inhalte", sagt der im ebenfalls schon erwähnten suddeutsche.de-Interview. In seinem Blog internet-law.de analysiert er aus dem Urteilswortlaut weitere Folgen heraus:

"Diese Entscheidung bestätigt das, was von Datenschützern gerne in Abrede gestellt wird, nämlich dass das Datenschutzrecht in einem erheblichen Spannungsverhältnis zur Meinungs- und Informationsfreiheit steht."

Und im Update zum Urteilswortlaut-Volltext:

"Google kann danach selbst bei Inhalten, die im Netz rechtmäßig veröffentlicht wurden, nicht länger davon ausgehen, dass auch die Indizierung für die Googlesuche stets rechtmäßig ist."

Vielleicht am weitesten im deutschsprachigen Raum dreht das Blog des österreichischen Medienrechtlers Hans Peter Lehofer, auf den Stadler verlinkt, die Sache unter der Überschrift "Das Supergrundrecht auf Datenschutz und die Bowdlerisierung des Internets". Nur eine von vielen Folgen, die Lehofer antizipiert:

"Das Urteil ist damit jedenfalls auch ein Boost für Papierarchive und Internetausdrucker - gerade für Journalisten, die ja weitgehend frei von Datenschutzbeschränkungen Daten sammeln können, heißt es damit wohl immer öfter, alle halbwegs - vielleicht auch erst in Zukunft - interessanten Informationen sofort lokal speichern oder ausdrucken, wer weiß ob man sie wieder findet."

Das führt zurück zur in der Tat verwirrenden Frage, ob denn der spanische Kläger, der in Luxemburg gegen Google geklagt und gewonnen hat, nicht auch gegen die spanische Zeitung oder deren Onlineausgabe, deren Artikel Google künftig nicht mehr anzeigen darf, geklagt hat.

"Zunächst gilt das Urteil nur für Suchmaschinen. Ob es auch einen Anspruch gibt, Informationen an der Quelle zu löschen, also in dem Fall auf der Webseite der spanischen Tageszeitung, musste der EuGH nicht entscheiden", schreibt Christian Rath in der TAZ. "Werden Informationen nun auch aus Zeitungsarchiven gelöscht?" - "Nein. ...", antwortet Springers Welt schon mal auf eine selbst gestellte FAQ-Frage (u.a. auch mit: "Welche Daten sind vergessbar?") mit Bezug auf ein Bundesgerichtshofs-Urteil von 2012.

Kurzum: Viele Folgen des EuGH-Urteils sind noch völlig unklar, schon allein, weil weder ein Gesetzgeber noch ein deutsches oder europäisches höheres Gericht bisher versucht hatte, Tatsachen wie die, dass Google sowohl ein profitorientierter Konzern als auch eine quasi konkurrenzlose Infrastruktur der digitalen Informationsgesellschaft ist (bzw. mehrere konkurrenzlose Infrastrukturen), auch nur in Worte zu fassen.

Insofern ist das Urteil ein wichtiger Schritt ins sog. Neuland.


Altpapierkorb

+++ Das Hallo von gestern hallt kräftig nach. Die 2.000er-Marke von gewünschten 15.000 Unterstützern haben die Krautreporter am Morgen überschritten. +++ Das größte Lob hat Kurt Sagatz vom Tagesspiegel: Der Ansatz sei "ähnlich revolutionär wie die Gründung der 'taz' Ende der 1970er Jahre als Genossenschaftsprojekt". Im Tsp.-Artikel erfährt man auch vom Mitwirken des Prenzlauer Berg Nachrichten-Geschäftsführers Philipp Schwörbel. +++ In der TAZ von heute selbst führt Daniel Bouhs seinen gestern schon online begonnenen Ansatz fort und ist weniger begeistert: "Nun ist nicht nur die Idee, ein neues Projekt auf Kollegenschelte aufzubauen, ziemlich befremdlich, sondern das neue Modell auch seltsam inkonsequent. ... Ausgerechnet die, die sich über die teils dürftigen Konditionen im digitalen Journalismus mokieren, wollen die Kostenlosmentalität mit eigenen Inhalten befeuern." +++ "Einzig zu bemängeln ist die geringe Zahl an Frauen im Team", meint Maria-Xenia Hardt auf der FAZ-Medienseite, und: "Die fast minütlich hinzukommenden Unterstützer deuten darauf hin, dass das Unterfangen nicht ganz so verstiegen ist, wie es auf den ersten Blick scheint." +++ Ob das Projekt "die Mühe der Aufmerksamkeitsebene" übersteht, bezweifelt indes der ebenfalls gestern schon im Altpapier erwähnte datenjournalist.de Lorenz Matzat, der sich nun auch inhaltlich "unterwältigt" zeigt ("Mir ist so, als ob es die von Krautreporter angestrebte Form des Journalismus doch recht viel - auch gut - im Netz gibt ..."). +++ Stefan Niggemeier, einer der beteiligten "Tollschreiber" (Kriegsreporterin Silke Burmester), kennt sich natürlich aus in den Abgründen der Aufmerksamkeitsebene und argumentiert in diesem Sinne fürs Projekt ("Deutsche Online-Medien finanzieren sich zum größten Teil über Werbung. Wer mehr Klicks generiert, verdient mehr. Weil Online-Werbung billig ist, müssen Online-Medien ganz besonders viele Klicks generieren. Es müssen möglichst viele Artikel publiziert werden, die geklickt werden. ... Wohin das bestenfalls führt, sieht man bei 'Spiegel Online'. Es ist ein Medium, in dem ununterbrochen Aufregung herrscht.") +++ TAZ-Kriegsreporterin Silke Burmester ist also keine Krautreporterin. Sie erinnert das Werbefilmchen sehr zu Recht "an die Zeit-Werbespot-Kampagne vor drei Monaten". +++ Aber wer den "gesellschaftlichen Wandel" "will, muss Abonnent werden" (Karsten Wenzlaff, Carta)! +++

+++ Dass die ganze Nische gerade umso mehr über Finanzierung redet, nutzt netzpolitik.orgs Markus Beckedahl, um den "Lobo-Effekt" gebührend zu würdigen: "Auf der vergangenen re:publica hatte Sascha Lobo explizit dazu aufgerufen, unsere Arbeit finanziell zu unterstützen. Ein Ergebnis können wir in unseren Spendenzahlen sehen, ganz im Gegenteil übrigens zum Verschenken unseres Buches 'Überwachtes Netz', wo es trotz über 90.000 Downloads keine sichtbaren Auswirkungen gab. ... Rund 160 zusätzliche Spenden haben wir in der vergangenen Woche erhalten und bedanken uns bei allen herzlich". +++

+++ Der Verwaltungsrat des Bayerischen Rundfunks bräuchte sich zur bevorstehenden Frage, ob der BR sein klassisches Musikprogramm aus dem UKW-Angebot rausnimmt (vgl. allerhand Altpapiere der letzten Zeit), gar nicht äußern, er tat es aber u.a. mit dem zustimmenden Satz "Aus der Sicht des Verwaltungsrats widerspricht es der Grundausrichtung des dualen Systems, wenn nur private Hörfunkanbieter junge Hörer ansprechen." Das meldet die SZ-Medienseite. +++

+++ Das ZDF hat "internationale kreative Allianzen"! Das verriet Thorsten Haas, der "Show-Vize" des Senders, bei einer dwdl.de-Veranstaltung: "Mit Sendern und Produktionsfirmen in Großbritannien, Frankreich und Schweden gibt es seit vorigem Jahr Co-Development-Vereinbarungen", und die sollen helfen, den frei werdenden "Wetten, dass..?"-Sendeplatz zu füllen. +++

+++ Aus Schweden hat sich die ARD auch "Quizduell"-Showidee eingehandelt: "Die schwedische Schwester ITV Studios Nordic aus Stockholm kaufte die Fernsehrechte an der App zu einem unbekannten Preis von den schwedischen Erfindern und brachte sie auf den größten Quizduell-Markt, Deutschland. Dort entwickelte ITV mit Pilawa und dem NDR das Spielkonzept. Innovatives Fernsehen made in Germany hätte so schön sein können ...", berichtet die SZ-Medienseite heute ausführlich. Doch, "es wird alles immer schlimmer" (Jörg Seewald, faz.net). +++ "Ein noch viel dramatischeres Problem" im selben Zusammenhang kennt heise.de. +++

Neues Altpapier gibt's wieder am Donnerstag.