Der ethische Vorhang

Der ethische Vorhang

Die Deutsche Telekom als Ritter der Freiheit. Auch im Trend: Geilheits-Komposita. Außerdem: die Verwertungskette des Postillon.

Die größte Wortschöpfung der Woche, wenn nicht gar einer deutlich größeren Zeiteinheit, steht ganz am Ende dieses faz.net-Artikels, der aus einer "Rede entstanden" ist, die "zur Eröffnung des Cybersecuritysummit am Montag dieser Woche in Bonn" gehalten wurde:

"100-prozentige Sicherheit kann es nicht geben. Es ist ein ständiger Wettlauf der Techniker auf beiden Seiten des ethischen Vorhangs. Aber wir wollen den Cyberraum in Einklang mit der Achtung von Bürgerrechten so sicher machen, wie es eben geht. Wir wollen Schwachstellen eindämmen und Angriffe so weit wie möglich kontrollieren und begrenzen. Und dadurch Vertrauen schaffen."

Dieser ethische Vorhang ist bestimmt nicht eisern, sicher überwiegend kabellos, vermutlich sogar so durchsichtig (wenngleich nicht transparent), dass jeder selbst entscheiden kann, von welchen beliebigen anderen Mitmenschen und Institutionen er ihn trennt und von welchen nicht. Die auf Jahrzehnte angelegte Wortschöpfung könnte uns länger begleiten. Sie stammt von René Obermann, dem Noch-Chef des keineswegs überall beliebten Infrastruktur-Unternehmens Deutsche Telekom.

"Ich verstehe ja nicht, dass diesen Telekomikern überhaupt jemand ein Ohr schenkt", bloggte Fefe aus relativ ähnlichem Anlass, also der Ankündigung des Telekom-Plans eines "innerdeutschen Internets" (heise.de), der heute gar dem Tagesspiegel Anlass für ein Titelseiten-Glösschen mit Innenminister-Friedrich- und Berliner-Flughafen-Witzen ist.

"Etwas zu starke Stilisierung der Telekom zum Ritter der Freiheit", schreibt Matthias Hannemann auf der FAZ-Medienseite 35 über diesen Cybersecuritysummit, den die Telekom mit veranstaltet hat. Hannemann war nicht grundsätzlich begeistert von der Veranstaltung. Was dort sonst so abging:

"IT-Manager hörten in Bonn Vorträge, bildeten Arbeitsgruppen hinter verschlossenen Türen und gebaren mittelmäßige Ideen wie die einer Verbraucherschutz-Ampel fürs Internet und den Ruf nach politischem Beistand. Es verbreitete sich vor allem die Erkenntnis, mit der eigenen Ratlosigkeit nicht allein zu sein."

Frei online einen sachlichen Bericht, in dem der künftige Telekom-Chef Timotheus Höttges als waschechter Skeptiker auftritt ("... berichtete ... von einem Treffen mit der ehemaligen US-Außenministerin Condoleeza Rice, die US-Regierung sei sogar besorgt, dass sie zu wenige Informationen sammele"), bietet erneut heise.de. Die FAZ wiederum verweist unter ihrem Artikel auf Obermanns Rede "im Youtube-Kanal von Phoenix".

Dort ist sie, die Rede, dummerweise vorne wie abgeschnitten. Der Clip beginnt fast ganz vorne mit dem kraftvollen Appell "Aber man darf nicht die Freiheit vergiften, aus Angst dass sie stirbt" (Medienbeobachter wissen: eine Anverwandlung des Mathias-Döpfner-Klassikers "Selbstmords aus Angst vor dem Tod"), und endet mit den Worten "Zurecht steht die Cyberkrimi..." - mitten im Satz, leider einen Absatz vor dem ethischen Vorhang.

Zum Thema passt der Leitartikel "Deutschland und Frankreich verhalten sich in der NSA-Affäre wie Entwicklungsländer" heute vorn auf der FAZ, in dem Nikolas Busse einerseits beliebte Wortbausteine in durchaus prägnanten Argumenten verwendet, z.B.:

"Die Googles, Facebooks und Microsofts dieser Welt, die die NSA so schamlos für ihre Zwecke nutzt, mögen von privaten Unternehmern gegründet worden sein. Aber ohne die staatliche Förderung, die das Pentagon über viele Jahre hinweg in die Entwicklung der Informationstechnologie gepumpt hat, hätte es sie vielleicht nie gegeben",

andererseits damit jene "Die gegen Wir"-Kulisse aufbaut, gegen die sich natürlich ebenfalls gut  anpolemisieren lässt. Das tat vielleicht am kräftigsten Michael Seemann (mspr0.de) in seinem gleichnamigen, mit einem fröhlichen (nun wiederum unmittelbar Telekom-bezogenen) "#schlandnet verrecke!" endenden Blogpost.

Irgendwo dazwischen dürfte der Vorhang der Wahrheit wehen. In die Tat umgesetzte Ankündigungen, mit unethischen Partnern nicht zu kollaborieren, und offene Debatten, was einerseits supranationale Institutionen und andererseits Nationalstaaten oder die EU jeweils nicht erreichen können und was doch, könnten dabei helfen, ihn zu greifen.

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[+++] Außerdem trending im Wortschöpfungs-Bereich: Komposita mit "geil" und "Geilheit". Das hat mit Christian Wulff zu tun, richtet sich freilich nicht mehr gegen den gefallenen Präsidenten, der nun endlich vor Gericht auftreten darf oder muss. "Verfolgungsgeilheit der Ermittler" lauten die zentralen Reizworte im großen Süddeutsche-Leitartikel "Wegen 753, 90 Euro/ Ein Ex-Präsident vor Gericht, vor dem sonst Totschläger stehen", den Heribert Prantl für die heutige Meinungsseite verfasst hat. Der Satz in Gänze:

"Die Ermittlungsakten belegen auf vielen Tausend Seiten nicht die strafbare Schuld des Angeklagten, sondern eine Verfolgungsgeilheit der Ermittler, die, warum auch immer, mit einer Voreingenommenheit sondersgleichen recherchiert, und warum auch immer, nicht verhindert haben, dass immer wieder Details, die sich dann als strafrechtlich irrelevant erwiesen, an die Öffentlichkeit durchgestochen wurden."

Vielleicht ließen sich die enthaltenen relativ impliziten Warum-Fragen beantworten mit: weil die Ermittler von ihren Qualitätszeitungen beeinflusst waren? Der unermüdliche Michael Hanfeld ist schon ein Stück weiter. Er hat sich gestern nacht die Maischberger-Talkshow zum Thema gegeben und schreibt heute morgen dazu bei faz.net:

"So etwas liegt ja auch gerade in der Luft, rein stimmungsmäßig, auch oder gerade unter Journalisten. Die 'taz' hat gerade erst in diese Richtung gefiedelt, Hans-Ulrich Jörges vom 'Stern' hat vor einiger Zeit schon bekundet, dass er sich schämt, 'Teil der Meute' gewesen zu sein (bei Wulff und bei Steinbrück). Doch ist das alles so einfach? Machtvergessene, schlagzeilengeile Journalisten haben einen Bundespräsidenten zu Fall gebracht und jetzt ist es Zeit, die Sache umzukehren? So einfach ist es nicht..."

Womit er natürlich auch loyal zum eigenen Haus ist. Gerade die Frankfurter Allgemeine Sonntags-Qualitätszeitung war ja führend bei der Investigation, was genau Wulff auf Kai Diekmanns Mailbox gesprochen hatte. Andererseits hat Hanfeld einfach den Überblick, um, zumindest wenn's (ihm) passt, herausschälen zu können, dass einfache Schuldzuweisungen zu einfach sind:

"Und wenn man sich schon in dezenter Selbstanklage erinnern will, gehörte dazu auch der Hinweis, dass Sandra Maischberger auf dem Höhepunkt der Wulff-Geschichte eine Ausgabe ihrer Talkshow unter den Titel setzte: 'Die Schnorrer-Republik: Sind wir alle ein bisschen Wulff?' Jetzt hieß die Sendung: 'Der Prozess des Jahres: Gehört Christian Wulff vor Gericht?'"

[+++] Nun noch eine gute Nachricht, die heute unscheinbar auf der SZ-Medienseite versteckt steht. Medienbeobachter wissen, was für ein Problem "Verzögerungen beim Verfertigen zeitgemäßer Mediengesetze" darstellen. Kaum hat ein neuer Rundfunkstaatsvertrag endlich alle Parlamente zwischen dem Saarland und Sachsen passiert, sind (meistens in Kalifornien) schon wieder dutzende neuer Verbreitungswege erfunden worden. Dagegen wird von der künftigen GroKo nun geholfen:

"Wie aus informierten Kreisen zu hören ist, soll im Koalitionsvertrag eine Arbeitsgruppe mit Vertretern von Bund, Ländern und Sendern festgeschrieben werden, um 'Schnittstellenprobleme' rasch aus der Welt zu räumen".

 


Altpapierkorb

+++ Der Postillon bekommt eine richtige Verwertungskette, die nun außer deutschen öffentlich-rechtlichen sowie privatwirtschaftlichen Medien ("Postillon-Witze werden seit längerem im Radio auf Bayern3 gesendet, seit Anfang November laufen sie auch auf dem niedersächsischen Privatsender FFN...") auch noch kalifornische Konzerne umfasst: "Von Donnerstag an zeigt Yahoo nun wöchentlich gefälschte Nachrichten unter dem Namen 'Postillon24'. Autor Stefan Sichermann und Moderator Thieß Neubert, der die nötigen Kontakte ins Fernsehgeschäft hat, beliefern den US-Konzern. Finanzielle Details nannte Yahoo nicht" (Süddeutsche). +++

+++ "Dieser Sammelband ist mehr ein Schnellschuss denn ein Standardwerk. Wofür die Veröffentlichung aber taugt, ist, die Debatte über übermütige Geheimdienste und gegen üppige Überwachungsgesetze am Leben zu halten. Allein das ist ein Gewinn." Daniel Bouhs sprüht beim Besprechen des offiziellen "Sammelbandes zum NSA-Skandal" in Buchform in der TAZ ebenfalls vor hintersinnigem Humor ("Dennoch strotzen die 300 Seiten vor Vielfalt - schlicht in der Qualität der Schreibe, viel wichtiger aber noch: in den Perspektiven"). +++ Unterdessen listete netzpolitik.org selbst auf, "dass Wirtschaftsspionage im Vergleich zu Terrorabwehr vielleicht sogar weitaus größeren Stellenwert hat". +++

+++ "Deutsche Welle unter Druck von Oligarchen"? Diese Überschrift eines ungenannten Mediums in Bulgarien, wo die Deutsche Welle eigentlich "als eines der letzten unabhängigen Medien" gelte, scheint nicht völlig falsch zu sein. Die FAZ-Medienseite berichtet ausführlich, wie sich die DW dort aufgrund eines von einer Bank geschickten Beschwerdebriefes von zwei langjährigen freien Mitarbeiter zunächst trennte, um dann diese Trennung zurückzunehmen. Inzwischen gehe es "darum, dass alle versuchten, aus der peinlichen Situation herauszukommen und die Reputation der Deutschen Welle wiederherzustellen", sagt Emmy Barou, eine betroffene (Ex-)DW-Mitarbeiterin. +++

+++ Die SZ hat den norwegischen Fernsehreporter Oystein Bogen interviewt, der bei Dreharbeiten zu einem Winterolympia-Vorbericht in der russischen Republik Adygeja von russischen Behörden drangsaliert worden ist ("Irgendwann behaupteten sie, wir hätten Drogen genommen, und wollten uns zu einem Test zwingen. Da habe ich die norwegische Botschaft in Moskau angerufen. Man hat uns geraten, auf keinen Fall den Test zu machen. Wenn der manipuliert sei, könnten sie nichts mehr für uns tun. Nach einer Weile kam dann wohl von höherer Stelle die Anweisung, uns gehen zu lassen.") +++

+++ Nicht nur ein Näpfchen, einen "Fettnapf" kennt nun Focus-Money-Chefredakteur Frank Pöpsel von innen, und zwar weil er die Leichte Sprache nicht kannte, meint Stefan Winterbauer bei meedia.de. +++

+++ In den Medienmedien um sich greift die EPD-Meldung, dass mal wieder eine Webseite einer Zeitung aus einem kämpferischen Verlag öffentlich-rechtliche Nachrichten gratis bei sich einbindet. Es ist faz.net, das sowohl die 100-Sekunden-Nachrichten der ARD als auch des ZDF zeigt. "Nach Angaben von NDR-Sprecher Martin Gartzke zahlt der Verlag der FAZ kein Geld für das integrierte Angebot. Für den NDR sei dies eine weitere Möglichkeit, die 'Tagesschau in 100 Sekunden' zu verbreiten" (dwdl.de). +++

+++ Fernsehfilm des Tages: "Arnes Nachlass" in der ARD. "Am Ende bleibt der Eindruck einer irritierend kongenialen Verfilmung von (Siegfried) Lenz’ Roman", schreibt Gerrit Bartels am Ende seiner Tagesspiegel-Kritik, doch wer nun den Eindruck hat, da werde der Film gelobt, irrt. Denn der Roman zähle "nicht gerade zu den herausragenden Romanen im Werk des neben Grass und Walser bedeutendsten deutschen Schriftstellers der Nachkriegszeit". +++ "Der 87-jährige Siegfried Lenz erlebt derzeit im Fernsehen eine Spätblüte, die selbst den unermüdlichen Martin Walser erröten lässt", schnackt Willi Winkler (SZ, S. 31) von der Waterkant, findet den heutigen Film aber auch nicht toll: "Das Schärfste an 'Arnes Nachlaß' war das scharfe ß, mit dem Lenz der 1999 noch umstrittenen Rechtschreibreform trotzte. Der NDR-Titel hat sich der neuen Zeit bereitwillig ergeben, die Geschichte aber womöglich noch altbackener gemacht, als sie es eh schon war. Maulfaul und schicksalsschwer ächzt der Film dahin". Und dann zieht Winkler gar noch das "unvergleichliche Volker-Herres-Deutsch" aus dem Presseheft durch den Kakao. +++ " Eine November-Elegie eben, etwas bieder und besinnlich, für entsprechend empfindsam eingestellte Zuschauer aber durchaus nicht ohne Berührungspotential" (Jochen Hieber, FAZ) +++ Der Roman "ist unsagbar traurig, doch die Verfilmung ist womöglich noch erschütternder. Das Werk setzt die Tradition der ausnahmslos ausgezeichneten Lenz-Adaptionen des NDR mit Jan Fedder in der Hauptrolle fort..." (Tilmann P. Gangloff). +++

+++ Holla, die TAZ-Kriegsreporterin. Heute in noch viiiiiel eigenerer Sache als sonst (aber auch mit enorm viel Matthias Matussek). +++

+++ "Selten war der Weg aus der Unschuld in die Hölle so kurz wie derzeit im RTL-2-Nachmittag", schreibt Peer Schader im Fernsehblog, hält aber "die Wirkung der erfundenen Dokusoaps auf ihr Publikum" für "längst nicht so simpel ...wie die Geschichten, die darin erzählt werden". +++

Neues Altpapier gibt's wieder am Donnerstag.