Viagra für Berlin

Viagra für Berlin

Um welche Zeitung es schade wäre, wenn Alter alleine an Zeitungen schon ehrwürdig wäre. Wie Steve Jobs sich zu Richard Wagner verhält. Außerdem: die Teufelskreise der Zitronenmärkte, Sinn und Form.

Kaum hatten wir gestern hier im immer etwas deprimierenden, doch noch längst nicht abgeschlossenen Kapitel des mählichen Niedergangs der gedruckten Presse geblättert, kaum folgten im eingespielten Rhythmus auf die harten IVW-Zahlen die immer etwas weicheren und daher agenturenmäßig lieber vermeldeten Zahlen der Arbeitsgemeinschaft Media-Analyse (TAZ dazu: "45,5 Millionen Menschen" in Deutschland lesen weiterhin Tageszeitungen, "das sind 65 Prozent der über 14-Jährigen. Das kann man für viel (epd) oder wenig (dpa) halten"), da ließe sich schon wieder der Verlust der Eigenständigkeit einer altehrwürdigen Traditionszeitung beklagen.

Am emphatischsten beklagt sich bezeichnenderweise ein Onlinemedium:

"Was Springer euphemistisch als 'digitale Offensive' und 'Schulterschluss' verkauft, ist de facto das Ende der selbstständigen 'B.Z.'",

heißt es bei turi2.de. Denn wenn auf dem harten Zeitungsmarkt Alter alleine schon ehrwürdig wäre, dann hätte dieses Blatt allerhand zu bieten:

"Das Ende als eigenständige Zeitung kommt für die 'B.Z.' nach 136 Jahren: 1877 als 'Berliner Zeitung' gegründet, vom jüdischen Verleger Leopold Ullstein übernommen, überlebte die 'B.Z.' zwei Weltkriege, die NS-Zeit, die deutsche Teilung mitsamt der Ost-'Berliner Zeitung'. 1953 wurde sie in West-Berlin wiedergegründet, 1960 von Springer gekauft - und jetzt zur lokalen Filiale von 'Bild' degradiert".

Es ist immer noch turi2.de, was da spricht. Berliner, denen manchmal im Straßenbild die B.Z.-Titelseite begegnet, wissen natürlich, dass daran schon längst nichts mehr ehrwürdig ist. Aktuell in der B.Z. zu blättern klicken, führt zu geradezu erschütternden Texten wie diesem über "Berlins erotischsten Exportschlager", die Fernsehdarstellerin Sandra Speichert. Die News: "Die sinnliche Sandra" zieht wieder nach Berlin zurück, offensichtlich weil ihr Engagement beim in Lüneburg hergestellten täglichen ARD-Schund "Rote Rosen" endet, und "dieser Re-Import wird auf unseren Sexy-Single-Markt wirken wie Viagra". Auf dem Foto guckt Frau Speichert übrigens, als hätte sie den Artikel gerade gelesen...

Diese B.Z. verliert nun also dem Springer'schen Redaktionszusammenlegungs-Modell gemäß ihre Eigenständigkeit, womit (wie als erstes wohl newroom.de bzw. Bülend Ürük herausfanden) auch der Verlust von bis zu 50 Redakteursstellen einhergeht. Nicht zuletzt, weil die Bild-Zeitung derzeit auch als digitale Bezahlinhalte-Lokomotive für die deutschen Zeitungen insgesamt dienen soll, führt das zu allerhand Medienaufmerksamkeit.

Beim Tagesspiegel, der alten westberliner Qualitätstageszeitung, malen sie sich "die langen Gesichter am Ku’damm" aus, als die dort ansässigen Redakteure erfuhren, dass diejenigen unter ihnen, die bleiben dürfen, aus dem tiefen Westen ins Springer-Hochhaus nach Mitte bzw. Kreuzberg umziehen müssen. Dazu reimen sie beim Tsp. weitere angekündigte Umstrukturierungen ("Am Ku’damm gehen die Lichter aus, in Los Angeles gehen sie an"), die Kai Diekmann, künftig auch B.Z.-Herausgeber, als Powertwitterer lebhaft performt.

Worauf diese Umstrukturierungen hinauslaufen, arbeitet die Süddeutsche (S. 25) heraus: "An 'Bild'-Standorten wie Düsseldorf, Dresden oder Hannover arbeiten dann nur noch Redakteure als Reporter, dazu Fotografen. Es gibt dort aber keine Redaktionsleiter mehr, kein Layout, keine Fotoredaktionen." Das solle der "Verzahnung von Print und Online" dienen.

Insgesamt dürfte der Stellenabbau (auch wenn der Verlag "Optionen wie Altersteilzeit oder Weiterbildung zu digital versierteren Journalisten" prüft) "einem knappen Drittel" der Berliner Boulevardredakteursstellen bei Springer entsprechen, glaubt meedia.de:

"Das ist nicht gerade wenig - und wird nun die verantwortlichen Chefredakteure herausfordern, die publizistische Eigenständigkeit und das Profil der Blätter, vor allem das Profil der B.Z., zu bewahren. Kritiker der Fusion könnten auch sagen: 'verteidigen', doch..."

zu Kritikern des Springer-Verlags zählen sie bei meedia.de natürlich nicht. Deshalb hält Christian Meier ein Pläddoyer gegen "Medien-Puristen, die auf der Formel 'Eine Redaktion für einen Titel' beharren". Einen Absatz weiter unten steht dann "der Journalist am Scheideweg". Das hätte Kai Diekmann auch nicht schöner formulieren können. Etwas kürzer kann er natürlich (wobei sein Tweet allerdings ein Foto von einem bearbeiteten Ausdruck der oben zitierten DPA-Vermeldung zur oben verlinkten jüngsten Media-Analyse enthält...).

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[+++] Lesebefehl! von Kai Diekmann: der neue Stern! In einem großen Interview äußert sich dort Mathias Döpfner (der monatlich noch jünger wird, wie das Stern-Foto auf dem von Diekmann nun diesem Tweet hinzugefügten Foto zeigt...) zwar nicht als Springer-Chef zum Medienwandel grundsätzlich oder aktuell, aber immerhin als Musikwissenschaftler zu Richard Wagner.

Hier pitcht der der Stern selbst das Interview als Vorabmeldung. Hier kann man das aktuelle Heft online durchblättern und (am Zitatausriss "Die Reputation von Steve Jobs steht der Wagners kaum nach") sehen, dass Döpfner, auch wenn der Ansatz der Illustrierten eher zeitlos war, doch ein paar Sätze zum Medienwandel und einer seiner aktuelleren Passionen hineinzuschmuggeln verstand. Übrigens, um fair zu bleiben: Nach den jüngsten IVW-Zahlen gehört der Stern unter seinem frischen Chefredakteur Domink Wichmann zu den wenigen Titeln, die ihre Auflage steigern konnten (um 0,2 Prozent auf 814.019 Hefte pro Woche).

[+++] Werden wir aber wieder ernst: Medienmärkte sind "sogenannte 'Zitronenmärkte'", erklärt Stephan Russ-Mohl, der europaweit umtriebige Journalismus-Professor, heute im Tagesspiegel die aktuell schlechte Lage, wobei weniger die sinkenden Einnahmen der Verlage als der Anfang Juli vermeldete steigende Korruptionsverdacht gegen Medien der Aufhänger ist:

"Wenn die Qualität eines Produkts für den Käufer intransparent ist oder auf der Käuferseite Qualitätsbewusstsein fehlt, werden gerne Güter relativ schlechter Qualität angeboten, eben sogenannte Zitronen - ein Begriff, der im amerikanischen Slang auch für Gebrauchtwagen steht."

Wie sich aus den Teufelskreisen, die zu solchen Zitronenmärkte gehören, ausbrechen lässt:

"indem qualitätsbewusste Redaktionen den journalistischen Mehrwert, den sie erzeugen, auch kommunizieren. Das wiederum geht aber nicht allein mit teurer Werbung und mit PR. Am ehesten dürfte sich das Qualitätsbewusstsein – und damit auch die Zahlungsbereitschaft der Publika – wohl durch beherzten und unbestechlichen (Medien-)Journalismus heben lassen, statt die Probleme in falscher Solidarität mit den Dreckschleudern der Branche unter den Teppich zu kehren."

Solche Plädoyers für Medienjournalismus zitieren wir hier und drucken Medienredakteure auf ihren Seiten natürlich immer wieder gerne ab.

[+++] Wo bleibt das intrinsisch Positve? Im Freitag, der Wochenzeitung, die ihre Leser oft mit Artikeln von enorm unterschiedlicher Qualität überrascht. Dort hat Katharina Teutsch ein so schön illustriertes wie lesenswertes Doppelinterview mit Sebastian Kleinschmidt, dem jahrzehntelangen Chefredakteur der Literaturzeitschrift Sinn und Form, und seinem nun antretenden Nachfolger geführt.

Ganz ohne Wagner-Jobs-Vergleiche schlägt Kleinschmidt einen Bogen durch diese (und noch mehr) Jahrzehnte: von 1949, als Johannes R. Becher die Zeitschrift in der noch jungen DDR gründete ("Wenn man die Nazizeit als Kulturbruch interpretiert, und das war sie doch, dann ist die natürliche Gegenposition dazu die Restitution der Kulturnorm. Das ist also gar nicht so abwegig und hatte auch zur damaligen Zeit nichts Beengendes") in die 1990er, als im jungen vereinigten Deutschland Walter Jens als Präsident der (die Zeitschrift dann herausgebenden) Akademie der Künste sich über Ernst Jünger-Texte erregte. Jens also, der in seinen späten Jahren ja auch mit völlig anderen Themen in den Feuilletonschlagzeilen war. Hat man so eine Distanz aufgebaut, dann läuft, Echtzeit hin, Echtzeit her, das 21. Jahrhundert ja auch gerade erst an.

"Sie haben keine Vision fürs 21. Jahrhundert?",

fragt der Freitag also den neuen (aber auch schon sieben Jahre beim Magazin tätigen) Chefredakteur. Und Matthias Weichelt antwortet:

"Was ich schon für wichtig halten würde, ist, dass man in dieser sich immer mehr ausdifferenzierenden Welt die Begriffe 'Sinn' und 'Form' hochhält und die Möglichkeit nutzt, zu den Zeitgeschehnissen Stellung zu beziehen. Was ist Konservatismus? Was ist Kultur? Und gleichzeitig darf das Ganze nicht museal werden. Wir wollen Texte bringen, die eine eigene Brisanz haben und die geistig interessierte Menschen heutzutage umtreiben: Gespräche, Gedichte, Essays."

Über Sinn und Form im Medienjournalismus, vielleicht noch über Maß und Wert (die in der Wikipedia erwähnte Anekdote, dass die Zeitschrift ursprünglich so heißen sollte, jedoch Thomas Mann als seinerzeitiger Inhaber des Titelschutzrechtes nicht zugestimmt hatte, kommt im Freitag nicht vor...), darüber wäre demnächst ein Essay von Stephan Russ-Mohl schön.
 


Altpapierkorb

+++ Heutzutage heißen Zeitschriften nicht Maß und Wert, sondern Meet und Tweed. Letztere Neuerscheinung bespricht heute die TAZ: "Neben dem allgegenwärtigen Zeitungssterben" gebe es "durchaus einen Markt für neue Magazine - sofern diese klug Ränder bedienen und genau die Wertigkeit mitbringen, die dem Internet aktuell noch fehlt", schreibt Michael Brake. Allerdings sei Tweed so ein Magazin gerade nicht. +++

+++ Da, wo einer der gemeinsamen Springer-Newsrooms für nach außen hin unterschiedlich auftretende und vermarktete Zeitungen schon steht, in Welt und Hamburger Abendblatt, vergleicht Ekkehard Kern das deutsche Fernsehen mit dem "modernen Pop-Formatradio": Die von den Nutzern "gelernte Bequemlichkeit" führt dazu, dass längst bestehende Methoden, sich Inhalte nach eigenen Vorstellungen (z.B. von Sinn, Form, Maß oder Wert), also was das Fernsehen betrifft: on Demand zusammenzustellen, in Deutschland kaum funktionieren. +++ Breakingst! Das eben erwähnte Abendblatt ist bald keine Springer-Zeitung mehr, sondern wird von der Ex-WAZ-nun-Funke-Gruppe gekauft (Springer-Mitteilung). Die Analysenanalyse zu diesem überraschenden Schritt gibt's selbstredend morgen an dieser Stelle. +++ "Je nachdem, wem man also zuhört, erhält man vollkommen andere Antworten auf die Frage zum Zustand des Lokaljournalismus" (Stephan Weichert bei vocer.org, nicht ohne sechs Tipps für die "digitale Überlebensstrategie").+++

+++ Die genannte WAZ-Gruppe ist derzeit außer durch ihre Zeitungszombie-Strategie in Teilen Westfalens (Altpapier) auch durch ihr Investigativressort in den Schlagzeilen der Medienmedien. Gegen dieses klagt bekanntlich das Verteidigungsministerium aus bizarren urheberrechtlichen Gründen. Dazu hat die TAZ den  Münsteraner Rechtsanwalt und Piraten Markus Kompa interviewt, der der Klage wenig Chancen gibt: "Weil das Urheberrecht nicht die Aufgabe hat, Dinge geheimzuhalten. Es soll auch nicht Informationen dem öffentlichen Wissen entziehen. Sondern es soll wirtschaftliche und ideelle Interessen schützen". +++

+++ Grundsätzliche Umwälzungen im amerikanischen Fernsehen I:  Al Jazeera heuert Personal für den Start seines US-Programms an. Mit Namen wie Ali Velshi, Soledad O'Brien, Michael Viquiera und zuletzt der vormaligen ABC-Nachrichtenchefin Kate O' Brian sei es dem Sender "schon vor dem Start gelungen, aus der Nische des politisch kontroversen Minderheiten-Journalismus herauszukommen", berichtet die Süddeutsche (S. 25) und sieht Chancen: "CNN laufen die Zuschauer davon, während Fox News und MSNBC auf der rechten und der linken Seite des politischen Spektrums immer einseitiger werden". +++

+++ Grundsätzliche Umwälzungen im amerikanischen Fernsehen II: "Die englischsprachigen Sender verlieren Zuschauer, während die spanischsprachigen neue hinzugewinnen", was zumindest mittelfristig auf "die neue gesellschaftliche Realität" in den USA schließen lässt (Berliner Zeitung).

+++ Was mit Recht viele freie Journalisten interessiert: die Zukunft der Künstlersozialkasse. Zurzeit fehlen der E-Petition zu deren Gunsten noch gut 7.000 Unterschriften, berichtet die SZ (Wirtschaftsressort, also aus Unternehmenssicht). +++ Und wenn das interessiert, den könnte auch dieses Kölner Gerichtsurteil gegen den Bonner General-Anzeiger wegen niedriger Tageszeitungs-Zeilensätze interessieren. +++

+++ Nachdem die SZ gestern, wie inzwischen frei online steht, über einen "dem rechtsextremen Milieu" "nahe" stehenden Redakteur des Deutschlandfunks berichtete (bzw. "herumlavierte"), lobt sie heute inhaltlich die ebendort laufende "vielschichtige und erhellende Sommerreihe 'Urlaub vom Leben'". +++

+++ Und die FAZ-Medienseite befasst sich mit einem "gleichsam heimlich und bisher unbemerkt" entstandenen "Sendeplatz für Liebhaber von Filmen und Dokumentationen in den jeweiligen Originalfassungen" beim digitalen Fernsehkanal BR-alpha, mit der "Monaco Franze"-Wiederholung ebenfalls im Bayerischen Fernsehen (Folge 2: heute, 20.15 Uhr) und sah bei einer Hörspiel-Produktion des SWR, "Drachenreiter" von Cornelia Funke, im Studio zu ("Welch ein Gewimmel!"). Die Sendung ist zu Weihnachen (24.-26.12., "jeweils um 14.05 Uhr") vorgesehen. +++

Neues Altpapier gibt's wieder am Freitag.