Kannibalismus, Kolonialismus, Sexismus, Mobbing - heute stehen ganz große Ismen bzw. „ätzende Themen“ auf der Agenda, unter anderem aus der „Kampfzone zwischen Medien und Politik“ und dem „Schmierentheaterolymp“. Außerdem stellt sich die Frage: Ist die „Blogkultur“ die „Antwort auf die Komplexität der Gesellschaft und der Krise ihrer Institutionen“?
Lässt sich bei der FDP möglicherweise eine „Verengung auf Jungsthemen wie Steuersenkung und Aufschwung“ feststellen? Wer etwas für flapsige Formulierungen („Jungsthemen“) übrig hat - und das haben wir beim Altpapier ja immer -, wird der These womöglich zustimmen. Der Zeit-Hauptstadtbüroredakteur Peter Dausend ist der Ansicht, dass diese „Verengung“ etwas mit der vormodernen Haltung zur „Frauenfrage“ zu tun hat.
„Die FDP ist ein Männerverein. Ihr Frauenbild ist Teil des liberalen Problems“,
schreibt er. Innerhalb der FDP und bei den Wählern seien Frauen gefragt, „die Männerfantasien bedienen“, besonders der Typ „Trümmerfrau in Covergirl-Optik“
Dieser Text, der vor rund zehn Monaten in der Zeit erschienen ist (Hinweis von @UllaRamone), hat jetzt nicht direkt etwas zu tun mit dem seit Mittwoch die Runde machenden Stern-Artikel, in dem die Redakteurin Laura Himmelreich den FDP-Politiker Rainer Brüderle als weinseligen „Lustmolch“ (meedia u.a.) beschreibt, der ihr gegenüber zu später bzw. sehr früher Stunde anzüglich geworden sei. Die Aufregung, den der Text auslöste (siehe Altpapier von Donnerstag), wäre aber vielleicht einen Tick geringer ausgefallen, hätten alle, die Himmelreich (bzw. die Zusammenfassung bei stern.de) gelesen haben, vorher Dausend gelesen.
Die bereits durch die Vorabmeldung provozierte Kritik - unter anderem am Zeitpunkt des Erscheinens der Geschichte - kontert Thomas Osterkorn, der (Noch)-Chefredakteur des Stern:
„Der erste Eindruck, den Laura Himmelreich vor einem Jahr von Brüderles Umgang mit Frauen gewonnen hatte, bestätigte sich im Laufe der Zeit bei weiteren Beobachtungen und Begegnungen. Ich halte unsere Berichterstattung deshalb für legitim.“
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Emphatischere Himmelreich-Verteidigungen bzw. Reaktionen auf die Kritik findet man auch, ebenfalls bei stern.de („Die Reaktionen zeigen vor allem eines: Dass Sexismus zu Deutschland gehört wie Bier und BMW“) sowie bei wuv.de.
„Danke, Laura Himmelreich! Eine Offenbarung wie diese war lange überfällig. Denn ich habe so etwas in den ersten zehn meiner knapp 20 Berufsjahre oft genug so erlebt wie Sie“,
schreibt Susanne Herrmann. Und Frau Dingens bloggt:
„Das ist Deutschland in 2013: eine Geschichte, die fast jede Frau persönlich schon erleben musste, in unterschiedlicher Ausprägung, wird klein geredet, als Kampagne verteufelt, unglaubwürdig gebrandmarkt und als Angriff statt Tatsachenbericht verkauft.“
Der Tagesspiegel zitiert zu dem Thema die Pro-Quote-Vorsitzende Annette Bruhns mit der Aussage, „dass nun über Chauvinismus berichtet werde, stimme sie hoffnungsvoll, ‚dass sich in den Redaktionen und in der Gesellschaft etwas verändert‘“. Ausführlicher zu Wort kommt Bruhns in der taz, wo ein Autorenquartett (drei Frauen, ein Mann) schreibt:
„Noch (...) ist der politische Betrieb sehr männlich dominiert, der Medienbetrieb auch. Selbst der Stern gibt zu, dass in „manchen Redaktionen junge, attraktive Frauen strategisch eingesetzt werden.“ Eine gewisse Nähe zwischen Politikern und Journalisten wird außerdem von beiden Seiten gesucht. Abends versackt man dann eben gemeinsam an der Hotelbar. Politiker reden dann freier.“
Auf Seite 1 kommentiert Stefan Reinecke:
„Ist die Stern-Story eine unzulässige Ausweitung der Kampfzone zwischen Medien und Politik? Nein. Wenn ein Politiker eine Reporterin mit Chauvisprüchen traktiert, ist dies keine Privatangelegenheit, sondern eine unzulässige Grenzüberschreitung.“
Bei taz.de äußert sich Ursula Kosser, die einst für den Spiegel in Bonn arbeitete und sich Expertin geradezu aufdrängt, weil sie 2012 ein Buch über das einstigen Bundeshauptstadt eins verbreitete Lustmolchwesen veröffentlicht hat:
„Auch nach mehr als einem Jahrzehnt waren viele der Frauen, die wie ich in Bonn bedrängt, belästigt und genötigt wurden, nicht bereit, offen und mit Namensnennung anzuklagen. Zu tief steckte in ihnen noch die Erfahrung, dass solche Enthüllungen kaum jemanden aufregen und letztlich der Frau schaden. Heute trauen sich junge Journalistinnen an die Öffentlichkeit. Sie können sich trauen, weil das Verhalten der Brüderles dieser Welt anders beurteilt und sogar – in schlimmen Fällen – vor Gericht verurteilt wird. Auch dem letzten Macht-Macho wird so früher oder später beigebracht, die Grenzen zwischen flirtendem Miteinander und machtgesteuerter Besitzgier zu erkennen.“
Eine andere Journalismus-Veteranin mit viel Bonn-Erfahrung, die frühere Stern-Redakteurin Wibke Bruhns, kommt in einem großen SZ-Interview (Seite 31) zu Wort. Sie findet die Geschichte, mit der ihr früherer Arbeitgeber gerade auf sich aufmerksam macht, nicht so gut. Auch Kossers eben erwähntes Buch nicht, das sie „stirnrunzelnd zur Kenntnis genommen“ habe. Zu Brüderles Belästigung der Stern-Journalistin sagt die 74-jährige:
„Ich finde es nicht in Ordnung, wenn er es getan hat. Aber ich weiß nicht, ob der Stern nicht doch etwas mehr über Brüderle schreiben sollte, wenn er 40 Jahre in der Partei war, wird er auch etwas geleistet haben.“
Das ist nun wirklich eine putzige Klein-Erna-Logik, die man von einer Frau, die laut ihrem Verlag „eine der bedeutendsten deutschen Journalistinnen“ ist, eher nicht erwartet. Bruhns gibt in dem von Claudia Tieschky geführten Interview ohnehin ein befremdliches Bild ab.
- „Sie hätten als Stern-Journalistin in Bonn mit Sicherheit Anlässe gehabt, solche Geschichten aufzuschreiben. Sie haben es nie getan. Tat man das damals nicht?
?- „Nein. Man versuchte, sich subtil zu wehren, ohne es an die große Glocke zu hängen“,
lautet ein Dialog, und angesichts des verdrucksten Duktus („man versuchte“), muss Tieschky natürlich nachfassen:
?- „Wie wehrt man sich subtil?“
- „Indem man drei Schritte zurücktritt. Es passiert immer mal wieder und man entwickelt auch Techniken.“
Soso, „man entwickelt“, aber in der Antwort auf die nächste Frage - „War es die Feigheit der Frauen, nicht darüber zu schreiben?“ - wird Bruhns dann direkter:??
„Schwierige Frage. Ich glaube, es hatte grundsätzlich etwas damit zu tun, dass du dich als Autorin nicht so wichtig nehmen solltest.“
Stellvertretend für die männlichen Kritiker Himmelreichs sei hier Tobias Kaufmann (Kölner Stadt-Anzeiger) zitiert, der meint, die Stern-Story sei „näher an der Denunziation als an seriösem Journalismus“. Er vermutet marketingstrategische Überlegungen, die Story komme „pünktlich zur Ernennung eines neuen Chefredakteurs“ (siehe dazu auch Altpapier), und findet, sie übertrete
„einen ungeschriebenen Kodex im Politik- und Medienbetrieb. Man macht Dinge, die in persönlichen Gesprächen, an Bars oder in Hotellobbys, nicht zum Gegenstand von Berichterstattung. Denn sie gelten als privat – und auch Politiker haben ein Recht darauf, dass zwischen ihrem öffentlichen und ihrem privaten Dasein eine Grenze gezogen wird.“
Dabei lässt sich angeheitertes Herumprollen im beruflichen Umfeld ja nun schwer als privat definieren (siehe auch Reinecke oben). Der beschriebene Fall fällt eher in die Kategorie sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz. Ein ganz anderes Fass macht Kaufmann dann auch noch auf. Ob so eine Geschichte
„je über einen Grünen erschienen wäre?“,
raunt er, mit der Suggestion spielend, dass beim Stern mehr Redakteure zu den Grünen halten als zu den Blau-Gelben. Aber wenn wir schon in der Nähe der Verschwörungstheorie herumwaten: Gibt es in der FDP nicht möglicherweise eine Anti-Brüderle-Fraktion, der der Artikel nicht unlieb war?
Irritierend ist aus anderen Gründen, was der Deutschlandfunk berichtet. Der zitiert die Stern-Autorin Himmelreich indirekt mit folgenden Worten:
„Sie finde es wichtig, dass die Debatte über den Umgang zwischen Politikern und jungen Journalistinnen geführt werde. Allerdings habe sie nie beabsichtigt, diese Debatte anzustoßen. Und mit den heftigen Reaktionen - damit hatte sie nicht gerechnet.“
Hallo? Welche „Debatte“ wollte sie denn sonst anstoßen? Oder gar keine?
Was in den Hintergrund gerät, ist ein Fehler im System der Politikberichterstattung: die Auffassung von Journalisten, dass man mit Politikern in Bars abhängen muss, um über sie schreiben zu können. Mir persönlich fehlt ja die Leidensfähigkeit, um bis „gegen ein Uhr nachts“ - wie Himmelreich in der entscheidenden Passage - in einer Bar auszuharren, in der Liberale trinkend das Dreikönigstreffen verarbeiten. Das hat ja nicht nur etwas mit der Person Brüderle zu tun, auch mit den anderen FDP-Knaben wird man eher nicht über Judith Butler diskutieren können. Oder, um mal wieder (siehe Altpapier) zu zitieren, was Hans Hoff vor nicht allzu langer Zeit seiner Zunft zugerufen hat:
„Vergesst Parteitage!“
Das passt, obwohl das Dreikönigstreffen kein Parteitag im strengen Sinne ist, und Hoff auch nicht direkt dazu aufgefordert hat, die Besäufnisse nach Parteitagen zu meiden.
[+++] Wäre Rainer Brüderle ein paar Jährchen jünger, hätte er sich durch sein Verhalten gegenüber Laura Himmelreich womöglich als „Dschungelcamp“-Kandidat ins Spiel gebracht. Mit dieser steilen These leiten wir über zur Freude, die ein Konstantin von Stechow - laut text intern „Redakteur in der Unternehmenskommunikation“ bei RTL - in eben jenem Branchendienst (Seite 7) kundtut, und zwar darüber, dass die Zeiten, in denen
„noch verstärkt eine Geschmacksdiskussion rund um die Dschungelprüfungen geführt“
wurde, vorbei seien, und „in den vergangenen drei Jahren auch manche Kritiker“ endlich den „Hauptreiz“ der Sendung erkannt hätten, und, allgemeiner formuliert, der „Kultcharakter“ der Show
„auch immer häufiger im Feuilleton gewürdigt wird“.
Der Befund ist sicher nicht ganz falsch, obwohl das Feuilleton manchmal dann doch noch tut, was das Feuilleton tun muss - in Gestalt von Nina Pauer zum Beispiel, die in der Zeit (Seite 45) das „Dschungelcamp“ sowie „Der Bachelor“ und „Die Geissens“ als „Genre“ beschreibt, und zwar
„das des neuen deutschen Kolonialismus. Des Außendrehs in Übersee, der Expedition in fremde Welten (...) Die Verfügbarkeit von Flora und Fauna, sie bleibt die Illusion der alten wie neuen Kolonialromantik“.
Dass es auch noch ein paar Nummern größer geht, beweist Tomasz Konicz bei heise.de:
„Die historischen Vorläufer der heutigen Demütigungs-Shows finden sich in den 20er und 30er Jahren, als sogenannte ‚Tanzmarathons‘ in Mode kamen, bei denen die Teilnehmer mitunter wochenlang bis zur totalen Erschöpfung um ein Preisgeld gegeneinander tanzen mussten. Und es sind gerade solche Manifestationen kaum gezügelten Sadismus, die einen zuverlässigen Indikator für die Zunahme autoritärer und reaktionärer Einstellungen in der Gesellschaft, wie etwa der späten Weimarer Republik, liefern.“
Zu diesen Tanzmarathons, also diesen Privat-TV-Events avant la lettre, hat sich, erzählt uns Konicz, auch der Philosoph Ernst Bloch geäußert. Der
„beobachtete (...) das dort versammelte Publikum, das mit Pfiffen und Gejohle die geschundenen Marathonteilnehmer in den Kollaps trieb. Versammelt seien dort zu Tausenden nicht nur Kleinbürger, sondern auch ‚Proleten‘ und Arbeitslose, die schon damals ermuntert wurden, ihre ‚Favoriten' zu unterstützen und sich an dem sadistischen Spektakel zu beteiligen - 1.000 Reichsmark erhielt jeder, der nachweisen konnte, dass die Tanzpaare ihre vorgeschriebene Ruhezeit von 15 Minuten überschritten haben. Damals habe bereits ein Drittel der Wähler den Nazis die Stimme gegeben, so Bloch, ‚hier im Saal dürfte ihrer mehr als die Hälfte tonangebend sein‘. All das, was die ‚Volksseele‘ bei diesem Spektakel auskoche, ‚wird man in Kürze nicht schlecht anrichten‘".
Jetzt erst einmal durchatmen? Nö, da sich die Zielgruppe des „Dschungelcamps“ und die Leserschaft der Klatschpresse möglicherweise stark überschneiden, machen wir gleich weiter mit dem auch eher nicht für leichte Kost bekannten Georg Seeßlen. Zirka 25.000 Zeichen umfasst der erste Teil (!) seiner in der neuen konkret (Seite 44 f.) erschienenen Abhandlung darüber, „was die Klatschpresse zu sagen hat“ bzw. wie sie aus dem „Schmierentheaterolymp“ berichtet, den sie geschaffen hat. Bei Pauers Text übers Trash-Fernsehen spielt der Begriff Kolonialismus eine wichtige Rolle, bei Seeßlens Essay über die Trash-Blätter unter anderem der des Kannibalismus:
„(Die) Schönen und Reichen ... repräsentieren eine nicht mehr zeitgemäße Form von symbolischer Herrschaft, die aus vormodernen oder voraufklärerischen Element zusammengsetzt ist (...) Man mag jenen Prominenten, um die sich die Phantasien der bunten Unterhaltung ranken, eine karnevalisierte Form der Herrschaft zuschreiben - bisweilen nimmt sie die Hanswurstform plebejischer Anmaßung an. Das ändert aber nichts daran, dass eine solche Projektion von Herrschaft bedeutsamer für die Mehrzahl in dieser Gesellschaft ist als eine Auseinandersetzung mit der realen Macht. Es mag sich um eine Sehnsucht nach Herrschaft auf der Flucht vor der Macht handeln - oder um eine kannibalische Feier um den Körper des toten Königs.“
[+++] Ebenfalls in der dieses Mal sehr medienthemenlastigen konkret übt Manfred Hermes Kritik am „Hype um US-Fernsehserien“, vor allem an der gern aufgestellten Behauptung, „TV-Serien seien eigentlich die Romane der Gegenwart“. Hermes analysiert;
„Das war sowohl ziemlich suggestiv als irgendwie auch auf der Hand liegend. Gemeint war, daß sich Erzählstränge über die einzelne Episode hinaus ausdehnen können, daß eine deutliche Nuancierung der Ausdrucksformen stattgefunden hat (...) Allerdings, wären Serien tatsächlich wie Romane, dann müßten sie, neben dem Hang zur Expansion, auch Qualitäten teilen wie die, das Genre jenseits von Genres zu sein beziehungsweise die erzählerische Form mit der größten formalen Freiheit. Vielleicht war ‚Roman‘ in diesem Zusammenhang nur eine Parole, die ein Prestige übertragen sollte, das so nicht mehr besteht oder nicht mehr sehr ernst genommen wird. Aber selbst wenn der Romanbefund zuträfe, würde er nur für die wenigsten Titel gelten (...): ‚Die Sopranos‘, ‚The Wire‘, vielleicht noch ‚Deadwood‘ oder ‚Boardwalk Empire‘. Diese Produktionen haben es tatsächlich auf sowas wie eine zusammenfassende Deutung abgesehen, auf (...) die Analyse und Kritik des politischen und ökonomischen Systems und ihrer historischen Bedingungen.“
[+++] Altpapier-Leser, die heute Abend deutsches Fernsehen gucken, gucken wahrscheinlich „Mobbing“. Viele loben die heute bei arte zu sehende Verfilmung des gleichnamigen Annette-Pehnt-Romans „Mobbing“. Martin Weber etwa (ksta.de), Christian Buß (Spiegel Online, schon am Mittwoch erschienen) und Tilmann P. Gangloff (nebenan). Und auch Barbara Sichtermann (Tagesspiegel). Sie schreibt:
„Der Bösewicht bleibt hier im Ungefähren, im Grunde handelt es sich bei ihm um unsere heutige Arbeitswelt. Und das Opfer ist auch nicht nur ein hilfloser Einzelmensch, sondern gleich eine ganze Familie – perspektivisch die abhängig arbeitende Bevölkerung insgesamt. Mit gutem Spürsinn für eine vielfach vermittelte, schwer greifbare, atmosphärische Sonderform des Mobbing hat Regisseurin Nicole Weegmann diesen Stoff in ein differenziertes TV-Drama verwandelt.
Oder, um es mit Bernd Graff (SZ) zu sagen:
„Selten wurde ein so ätzendes Thema so gut fürs Fernsehen umgesetzt.“
+++ Stefan Niggemeier hat einen launigen Gastbeitrag publiziert - von einem Mitarbeiter des heute bereits erwähnten „Dschungelcamps“. Der malt sich die Rahmenbedingungen aus, unter denen Franz-Josef Wagners gestrige Bild-Kolumne entstanden sein könnte.
+++ Dass im Online-Journalismus Artikel oft „nur Trägermasse“ sind „für die darin zahlreich verbauten Kurztextgalerien“, also „kleine Klick-Fabriken mit teilweise absurd anmutendem Inhalt“, beschreibt Stephan Dörner in einem instruktiven Beitrag für den Onlinejournalismus-Blog. „Optimiert wird auf die vollkommen absurde Messgröße Page Impressions, die sich deutlich leichter und kurzfristiger verändern lässt als die Zahl der Leser. Optimiert wird auf den Zwischenhändler Werbetreibende, nicht auf den Endkunden Leser.“
+++ Georg-Seeßlen-hafte Ausmaße hat Christoph Kappes‘ von Carta republizierter Beitrag „Blogkultur als Antwort auf die Komplexität der Gesellschaft und der Krise ihrer Institutionen“: „Es ist besonders pikant, den Blogs schon deshalb die Relevanz abzusprechen, weil ihre Inhalte sich kaum in Massenmedien wiederfinden. (...) Denn Massenmedien kommt die Aufgabe zu, Informationen zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Teilsystemen schnell und an eine große Zahl von Empfängern zu transportieren. Für Alltagskommunikation mit begrenzter Zielgruppe sind Massenmedien nicht geschaffen worden. (...) Schlecht geeignet, weil jedenfalls als Printmedium viel zu träge, sind sie für diskursive Prozesse, an denen eine dreistellige Personenzahl und mehr beteiligt ist.“ Es sei, präzisiert Kappes, ein „Zirkelschluss, die Blog-Relevanz an der Spiegelung der Inhalte durch Massenmedien zu messen, obwohl dieser Spiegel – bildhaft gesprochen – in eine andere Richtung zeigt“.
+++ Fünf Intendantenwahlen stehen in diesem Jahr im öffentlich-rechtlichen Rundfunk an. Die Funkkorrespondenz blickt voraus.
+++ Außerdem in der FK: ein Text über den steuerrechtlichen Schlamassel, in den die Degeto sich selbst und ihre Partner in der ARD gebracht hat. (Disclosure: Der Text ist von mir)
+++ Der arme, arme Verlag Gruner + Jahr, der leider, leider mehr als 300 Wirtschaftsredakteure in die Wüste schicken muss, kann erfreulicherweise ein „Gesamtwerbebudget von fünf Mio Euro“ (kress.de) locker machen - für einen „Rebrush“ von gala.de sowie eine neue mobile Website. Seeßlen, übernehmen Sie!
+++ „Grober Schnitzer bei El País: Die Zeitung bringt ein Bild, auf dem Hugo Chávez im kubanischen Krankenhaus zu sehen sein soll. Tatsächlich ist es von 2008 und zeigt einen anderen Mann“ - das berichtet die FAZ, und auch der Guardian beschäftigt sich mit dem Fehler, der der spanischen Zeitung bei der Berichterstattung über den venezolanischen Präsidenten unterlaufen ist.
+++ In dem Prozess gegen jenen im Journalismus tätigen Zweibeiner, der einst Ottfried Fischer mit einem Sex-Video sehr übel mitgespielt hat (siehe Altpapier), hat das Landgericht München auf Freispruch entschieden, weil, wie Michael Hanfeld (faz.net), den Vorsitzenden Richter indirekt zitiert, „eine persönliche Schuld des Angeklagten nicht feststellbar“ sei. Die SZ (Seite 31) weist darauf hin, dass ein „wichtiger“, allem Anschein nach „eingeschüchterter“ Zeuge nicht erschienen war. Hanfelds Text wiederum schließt mit den Worten: „Fischers Anwälte, die den Kabarettisten als Nebenkläger vertreten, wollen eine Anfechtung des Urteils prüfen. Das letzte Wort in dem Verfahren könnte das Bundesverfassungsgericht haben.“
+++Unten auf der Medienseite der FAZ findet sich heute mal wieder eine Todesanzeige. „In ihrer Jugend stellte sie sich den Herausforderungen des Nationalsozialismus, im Alter denen ihrer Krankheit“, wird dort Elisabeth Katzer, der Ehefrau des 1996 verstorbenen CDU-Politikers Hans Katzer, von ihrer Familie nachgerufen, und jenseits der allgemeinen Frage, was ein maximal spackiger Begriff wie „Herausforderungen“ in einer Todesanzeige zu suchen hat, stellt sich in diesem konkreten Fall noch die spezielle, ob die Formulierung „sich den Herausforderungen des Nationalsozialismus stellen“ wirklich angemessen ist für jemanden, der 1944 ins KZ Buchenwald verschleppt wurde.
Neues Altpapier gibt es wieder am Montag.