Würden Sie für guten Onlinejournalismus zahlen?

Würden Sie für guten Onlinejournalismus zahlen?

Jetzt könnte sogar Twitter die Demokratie gefährden. Außerdem beharken sich Mitarbeiter womöglich untergehender und schon untergegangener Zeitungen, festigt das Radio seinen Ruf als Nervmedium und sollten einige Rundfunkgebührenzahler jetzt aktiv werden.

Hach, es könnte so schön sein. Am dunklen, nur vom Schnee draußen erhellten Dezembermorgen einen süffigen Artikel über das türkische Historiendrama "Prächtiges Jahrhundert" lesen, der in ferne Welten entführt, aber auch aktuelle politische Brisanz besitzt, weil er vom höchst seltsamen Medien- und Politikverständnis des aktuellen türkischen Ministerpräsidenten Tayyip Erdogan kündet (das die Türkei ja schon Anfang dieses Jahres auf Platz 148 der Rangliste der Pressefreiheit geführt hat). Überdies verlinkt der Artikel im heutigen Tagesspiegel (das unterscheidet ihn von früheren zum Thema, die es ja gab) in die deutsche Gegenwart mit der Information, dass in der TV-Serie den osmanischen Sultan Süleyman den Prächtigen die "rothaarige Lieblingsfrau" Roxelana "im Griff" hat, die "von der deutsch-türkischen Schauspielerin Meriem Sarah Userli aus Kassel" gespielt wird. Ein Klick zur IMDb zeigt, dass Userli tatsächlich über eine urdeutsche Fernsehdarstellerinnen-Vita verfügt, "Ein Fall für zwei" und Inga Lindström inklusive.

Doch wir sind ja nicht zum Spaß hier. Es ist Krise in vielen Mediengattungen. Insofern sollten Sie Ihren Blick kurz auf eines der Kästchen richten, mit denen der Tagesspiegel die Online-Wiedergabe des Texts in der rechten Randspalte flankiert. Da findet sich die "Umfrage" "Würden Sie für guten Onlinejournalismus zahlen?". Stand heute morgen gegen 8.00 Uhr: 67 Prozent der Teilnehmer würden nicht. Man muss dazu sagen, dass die Menschen, die an solchen Umfragen teilnehmen, vielleicht nicht besonders repräsentativ sind, aber immerhin der jeweiligen Webseite noch zwei, drei Klicks zusätzlich spendieren, die diese dann monetarisieren könnte. Anders finanzieren die meisten deutschen Webseiten ihren Journalismus unterschiedlicher Güteklassen bislang nicht (wobei gerade die Meldung reinkommt, dass Springers welt.de morgen mit dem "Bezahlmodell für die bisher kostenfreie Webseite" loslegen will).

Jetzt die tagesaktuellen Medien-Krisenherde aus deutscher Sicht: Erstens setzt Twitter "seinen Ruf als demokratieförderndes, der Meinungsfreiheit verpflichtetes Medium aufs Spiel". Zweitens sei eine bekannte bzw. die seit gestern einzige deutsche Wirtschaftstageszeitung ein "shit, declining newspaper". Drittens müssen einige Nutzer und aber auch Nichtnutzer des öffentlich-rechtlichen Rundfunks nächstes Jahr mehr Rundfunk- bzw. "Zwangs"-Gebühren bezahlen als bisher. Viertens gibt's zum Radioformat des "Scherzgesprächs" ein, der Gag muss jetzt sein, Schertz-Gespräch - allerdings aus dem tödlichsten unter den genannten Anlässen.

Aus meiner Sicht ist Twitter, was auf deutsch ja "Gezwitscher" heißt, unter den sogenannten sozialen Medien das sympathischste, weil es bislang weder zu datenversessen ist, noch täglich seine vielhundertseitigen, rudimentär übersetzten AGBs ändert. Ebenso wie Facebook ist Twitter freilich ein kommerzielles Unternehmen, das Geld verdienen muss. Um unter potenziellen Kunden bekannter zu werden, bietet es nun auch deutschen Firmen "spezielle Seiten" zu speziellen Hashtags (also mit einer Raute gekennzeichneten Schlagworten bzw. Abkürzungen) an, "um das Gezwitscher zu einem Hashtag ihrer Wahl in einem Umfeld zu präsentieren, das ihnen genehm ist", berichtet die Süddeutsche auf der Medienseite:

"Was genau auf die Seite kommt, bestimmt allerdings ausschließlich Twitter. 'Algorithmen und Kuratierung' seien für die Auswahl verantwortlich, schreibt das Unternehmen. Über die genauen Kriterien schweigt sich der Dienst aus - und gerät damit in den Verdacht, auf den Event-Seiten ein wohlwollendes Bild der Veranstaltungen zeigen zu wollen."

Und weil zu den hiesigen "Firmen", die vom Angebot Gebrauch machten, die SPD und die CDU zählen, die gerade große Parteitage aufführten, erhebt sich allerlei Kritik, die die SZ online auch verlinkt. Daher gelangt  Johannes Boie auf der Meinungsseite zum oben zitierten "setzt ...seinen Ruf als ... der Meinungsfreiheit verpflichtetes Medium aufs Spiel"-Kommentar.

Man könnte natürlich fragen, warum ausgerechnet Twitternutzer nicht die Vorzüge einer nach Vorlieben konfigurierbaren Filter-Bubble genießen können sollten, sodass Twitter dann wie alle anderen Unternehmen auch die erhöhte Verweildauer monetarisieren kann. Aber weiter:

[+++] Nurmehr auf Facebook aktiv ist die am Freitag (siehe Altpapier) eingestellte Ex-Tageszeitung FTD. Dort hübsch animiert: ein Streitgespräch sozusagen zwischen Gabor Steingart, dem Noch-Chefredakteur des Handelsblattes, der die Noch-Abonnenten des Ex-Mitbewerbers FTD gestern mit einem "Sonder-Editorial" (meedia.de) begrüßte, und Andrew Gowers, dem Gründungs-Chefredakteur der FTD, der im gestrigen Handelsblatt gleich mit einem Gastkommentar vertreten war. Das sei allerdings nur extrem ausnahmsweise geschehen, sagte Gowers offenbar darob entgeisterten Ex-Kollegen, und fügte hinzu: "I' ll never write a column for his shit, declining newspaper".

Falls das interessiert: Dazu hat meedia.de mehr aufgeschrieben. Grundsätzlich sollte sich Gowers, dessen FTD ja niemals wirklich florierte, beim Thema decline ja auskennen. Wobei ich dazuschreiben muss, dass ich für handelsblatt.com gelegentlich Talkshowkritiken schreibe. Diskussionswerter: wie Thomas Knüwer, der einst ja auch beim Handelsblatt tätig war, die "mangelnde Moral jenes Deals", mit dem Gruner + Jahr die FTD-Abonnentendaten an den zu FTD-Lebzeiten so heftig befehdeten Mitbewerber in gewohnter Weise ("Deutschlands Datenhändler schlagen wieder zu") anklagt.

Und falls gerade jemand nicht weiß, wohin er surfen soll: Hier und hier sind offenbar gerade "sämtliche E-Paper und Print-Artikel der FTD jetzt kostenfrei verfügbar", wie André Kühnlenz via Twitter mitteilte.

####LINKS####

[+++] Beim Themenfeld der neuen Rundfunkgebühr/ Haushaltsabgabe begegnet man derzeit oft dem Handelsblatt-Redakteur Hans-Peter Siebenhaar, der gerade das Buch "Die Nimmersatten - Die Wahrheit über das System ARD und ZDF" veröffentlicht hat. Zum Beispiel bei welt.de (Klicken Sie welt.de, solange es noch gratis ist!), wo er im Interview erklärt, warum gerade "auf Seite 77 ein Satz ... geschwärzt" wird. Zum Beispiel bei dwdl.de, wo Thomas Lückerath den "aktuellen Verkaufsstopp des Buches" anders, nämlich mit "fehlerhafter Recherche" erklärt.

Wir verweisen zum Thema lieber aktuell auf die TAZ, wo Daniel Bouhs heute in Fortsetzung der gestern gestarteten Reihe geduldig erklärt, wer genau als Fernseh-, Radio- und eben auch Internet-Verbraucher denn jetzt aktiv werden sollte:

"Manch einer wird künftig hingegen mehr zahlen müssen als bisher, andere wiederum sollten sich kümmern, weil sie sonst unnötig zu viel zahlen, ihnen das die GEZ aber nicht sagt. Das neue Modell entlastet zweifellos Großfamilien und Wohngemeinschaften..."

[+++] Und damit noch rasch ins alte Medium Radio. In den anspruchsvollen Nischen herrscht "Verkrampfung", berichtet der Tagesspiegel über einen Deutschlandfunk-/ Deutschlandradio-internen Streit rund um eine geplante "Wortnacht", die zwar "kostenneutral", dann aber "inaktuell" erstellt werden könnte. Das breite Boulevard-Radio, in dem derzeit circa alle fünf Minuten ein Werbe-Weihnachtsmann "Ho ho ho" ruft, ist mit einem seiner besonders dämlichen Formate seit kurzem Topthema der bunten Panaorama-Ressorts. Relativ seriös zusammengefasst hat diese verzwickte und traurige Sache zwischen einem australischen Sender, einem englischen Krankenhaus und etwas, das öffentlich-rechtliche Manager "royales Event" nennen würden, die TAZ.

Die sich aufdrängende Frage, wie solche "Scherzanrufe, zum Beispiel jener bei der inzwischen verstorbenen britischen Krankenschwester, juristisch einzuordnen sind", hat Stefan Fischer, der Radioexperte aus der SZ-Medienredaktion, dem prominenten Medienanwalt Christian Schertz gestellt. Zu den Antworten gehört:

"Diese Formate sind im Regelfall mit einer Täuschung verbunden. Selbst wenn man hierdurch einen Politiker dazu bringt, irgendetwas zu erklären, liegt keine wirksame Einwilligung vor, wenn er nicht wusste, dass das Ganze aufgezeichnet und gesendet wird. Etwas anderes mag im Bereich investigativer Recherche gelten. Hier geht es aber nur um die Belustigung, und da steht das Recht des Individuums, selbst zu entscheiden, ob man öffentlich stattfindet, regelmäßig vor dem Unterhaltungsinteresse des Publikums."


Altpapierkorb

+++ Wo bleibt das Positive? Heute (bzw. gestern) in Sachsen: Vom guten Ausgang des sog. Sachsensumpf-Prozesses, dem "überfälligen Freispruch" für die freien Journalisten Thomas Datt und Arndt Ginzel berichten zeit.de, SPON und die TAZ. +++

+++ Den heutigen grundsätzlichen Papierzeitungs-Abgesang übernehmen im Kanon Michael Geffken ("Journalismusexperte" nennt cicero.de den Direktor der "Leipzig School of Media" unterm Interview) und Peter Littger. Der Unternehmensberater findet auf meedia.de den Dreh, Print zu "Vintage" zu erklären, schließlich musste die letzte FTD-Ausgabe ja sogar nachgedruckt werden. Insofern: "Print ist tot, es lebe Print!" (bloß könnten von Print-Vintage-Produktion dann halt wesentlich weniger Journalisten leben als bisher). "Ob es gedruckte Zeitungen gibt oder nicht, ist unerheblich", sagt auch Geffken. Junge Leute sollten aber ruhig Journalist werden, müssten sich bloß "vom klassischen Bild des Journalisten als rasendem Reporter und auch vom Rudolf-Augstein-Journalismus verabschieden". +++

+++ Daran, dass die FTD als einzige deutsche Zeitung zeitweise vielbeachtete Wahlempfehlungen gab, erinnert der grüne Netzpolitiker Tobias Schwarz auf Carta. Denn einmal empfahl sie sogar die Grünen, um deren Zeitungs-Verbündete es dann vor allem geht ("... Persönlich halte ich 'Die Zeit' für eine mit den Grünen sympathisierende Zeitung..."). +++

+++ Eine schöne und kompetente Gegenrede zu Siebenhaars "Nimmersatten"-Thesen steht übriges von Klaudia Wick auf vocer.org. +++ "Ich vergleiche das Fernsehen ja gerne mit Gemüse." - "Mit Gemüse?"...: aus einem ausgeruhten Funkkorrespondenz-Interview mit Karl-Otto Saur, dessen Nachfolgerin beim Fernsehfilm-Festival Baden-Baden Wick ja wird. +++

+++ "Der Nachrichtensender Al Dschazira war der Wahrheit verpflichtet. Jetzt wird sie verbogen. Es geht um Politik, nicht um Journalismus. Für die Reporter heißt das: Zeit zu gehen", steht über dem Haupttext auf der FAZ-Medienseite. Geschrieben hat ihn Aktham Suliman, dessen Weggang vom arabischsprachigen Nachrichten ja schon im November Thema war. +++

+++ Schließlich: Achtung Gremiengremlins! Nicht ohne die gewohnte Sprachgewalt ("die neuesten Bocksgesänge aus Absurdistan, die jedoch zu der Art und Weise, in welcher die ARD die Diskussion über ihre Talkshows laufen lässt, leider bestens passen") greift Michael Hanfeld auf der FAZ-Medienseite 35 in die ARD-Talkshowdebatte ein. Er nennt "Anne Will" mit Anne Will "die im positiven Sinn öffentlich-rechtlichste der ARD-Talkshows", die also bei der geplanten Ausdünnung der Talkshowschiene nicht gestrichen werden sollte. +++

Neues Altpapier gibt's wieder am Mittwoch.