Liver geht's nicht

Liver geht's nicht

Rekordverdächtiger Umfang der nächtlichen Berichte zur US-Wahl. Ohne Lanz geht's schon wieder nicht. Frische Kritik an Weiterverbreitungs-Journalismus, frische Forderungen nach öffentlich finanziertem Journalismus. Und: Unterschätzt den "Focus" nicht!

Netz- und Newsblog, Live-Blog und Liveblog, Liveticker ohne Ende, Wahlnacht in New York-Blog und Wahl im Netz-Blog, Netzumschau, interaktive Election Night und Social TV, dazu klassisches TV mit Markus Lanz, Blitzanalyse und für Online-Traditionalisten "Die entscheidenden Momente im Wahlkampf" zum Durchklicken: mindestens so rekordverdächtig wie Barack Obamas Tweet ist die Abdeckung der aus hiesiger Sicht nächtlichen US-Wahl in deutschen Online-Medien.

Und die ersten Betrachtungen von der medialen Metaebene erreichen uns bereits auch:

"In der Wettbewerbslogik des Medienbetriebes hat sich der wahnwitzige Konsens gebildet, stundenlang über ein Ereignis zu berichten, wo es tatsächlich nur auf das Ergebnis ankommt: Wer hat gewonnen?"

schreibt Frank Lübberding bei faz.net. offenbar Im früh am Fernsehabend erreichten Zustand der Genertvtheit fand er Gelegenheit, auch die Tweets von Claus Kleber auf den Kieker zu nehmen:

"Während sich das ZDF blamierte, kurvte Kleber durch Washington und twitterte über seine Krawatte. Diese Nachricht ist in dem hyperventilierenden Medienbetrieb untergegangen. Aber wahrscheinlich sendeten auch nur noch Journalisten für Journalisten, aber das auf allen Kanälen."

Das mit dem Blamieren bezieht sich auf Lanz, zu dem wir gleich wieder kommen.

Eine Ebene darunter, also nicht an elektronischen Geräten, sondern nach eigenen Angaben analog mit dem Partyfahrrad unterwegs, trug TAZ-Kriegsreporterin Silke Burmester mit Berichten zum am Ende besonders ausführlichen Live-Blog Live-Ticker der TAZ bei:

"Hallo taz-Live-Ticker, hier schreibt die Kriegsreporterin. Auch nach Mitternacht stehen beim ZDF noch 15 Meter Leute an, um am großen ZDF-Wahl-Bums teilzuhaben. Die Frage ist, warum sie das wollen, bei dem schlechten Essen.

Bei RTL steht der 'Offizielle Mobilitätspartner' Mercedes Benz vor der Tür und wartet auf ... tja, auf wen wohl? Auf jeden Fall warten die diversen Fahrzeuge mit laufendem Motor. Man weiß ja nie, wer gleich aus dem Gebäude gesprungen kommt und nach Hause will. Und was ist schon Umweltschutz für jemanden wie Mercedes Benz! Partystimmung will auch beim Bertelsmann-Sender nicht entstehen, obschon die Frauen hier deutlich schlanker und operierter sind. Auch gibt es weniger alte Männer, als beim ZDF, dafür erstaunlicherweise diverse Romney-Bekenner. Vielleicht ist das das neue Chic, hier in RTL-Mitte? Auch 600 Meter weiter in der Sendung von Markus Lanz ..."

Falls Sie weiterlesen wollen: Von 01.52 Uhr stammt dieser Eintrag.

Da wir nun schon wieder beim unumgehbaren Superstar der deutschen Fernsehunterhaltung in jedem Sinne sind, soll's das an dieser Stelle vorerst mit US-Wahl gewesen sein. Bloß noch der Hinweis, dass der als ZDF-Kooperationspartner befangene Tsp. von einem "medialen Wahlsieg" fast aller Sender spricht und dwdl.de RTL (das Programm, nicht die Party) empfohlen hätte.

[+++] Das eigentlich Skandalon um Lanz, das mit Kopfbedeckungen und Äußerungen des Hollywoodsuperstars Tom Hanks überhaupt nichts zu tun hat, benennt Lübberding in der o.g. faz.net-Kritik:

"Mit der Sendung von Dienstag Abend hat er vor allem eines klargestellt: Dass er - und seine Redaktion - mit diesem Format hoffnungslos überfordert sind. Ein Entertainer braucht andere Qualitäten als ein politischer Journalist."

Nicht völlig überraschend, interessiert dieses schon länger bekannte Skandalon in der Breite der Medienmedien aber nicht, sondern die Fortführung der Hanks-Aufregung (siehe Altpapier gestern). Lanz "reagiert gelassen" (Süddeutsche, online ähnlich), "gibt sich cool" (Tsp.) fassen Medienseiten die neue, falls man so sagen kann: Entwicklung zusammen. Diese besteht einerseits darin, dass Lanz zwischen seinen werktäglichen Gesprächssendungen Gelegenheit zum Gespräch mit der Illustrierten Bunte gefunden hat, das diese per knapper, jedoch von sage und schreibe 86-teiliger Fotogalerie begleiteter Vorabmeldung unter der Überschrift "Jetzt spricht er!" (als spräche Lanz sonst selten) verbreitet.

Viel Textinhalt hat die Meldung nicht, dafür enthält sie die Aufforderung "Werde jetzt Fan von Markus Lanz auf Facebook!". Lanz' Kernthese also:

"Was er [Tom Hanks] gesagt hat, ist eine Sache, was daraus gemacht wird, eine ganz andere. Wir sind mittlerweile bei allem so hysterisch, dass ich mich manchmal frage, ob das schon behandlungsbedürftig ist",

wird zumindest im ersten Teil von Thomas Lückerath (dwdl.de) geteilt, der außer mit dem, was gestern hier "Nationalkarte" hieß ("Mit wie wenig Stolz und Selbstbewusstsein verteidigen wir unsere TV-Unterhaltung?") auch mit Kritik am "schlechten Journalismus" der Weiterverbreiter von Hanks' Zitatfetzen kommt. Z.B.:

Hanks' "Hinweis auf das US-Fernsehen... wurde von Journalisten gleich mehrfach in einen Kontext gestellt, der suggeriert, er beziehe die Aussage konkret auf 'Wetten, dass..?' am Samstagabend. So zum Beispiel von Spiegel Online: 'Nach einem anstrengenden Abend bei 'Wetten, dass..?' zog Hollywood-Star Tom Hanks eine schonungslose Bilanz: In den USA wäre der Verantwortliche dieser Sendung gefeuert worden.' Dieser Sendung? Nun, das dichtete sich Spiegel Online dazu",

wobei Tagesspiegel und TAZ, KSTA und Focus aber auch nicht besser gewesen seien.

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[+++] Der Onlineauftritt des Focus dreht die Sache übrigens mit einem sehr langweiligen Frank Elstner-Interview weiter, aus dem Auszüge heute ebenfalls gern weiterverbreitet werden. Dass der Focus jedoch nicht zu unterschätzen ist, das belegt der Bericht "CSU-Medienaffäre weitet sich aus" des General-Anzeigers aus der ehemaligen Bundeshauptstadt Bonn:

"Die Medien-Affäre der CSU zieht immer weitere Kreise. Die Sprecherin des bayerischen Finanzministers Markus Söder (CSU), Ulrike Strauß, hat offenbar nicht nur kritische Fernsehberichte des Bayerischen Rundfunks (BR) moniert. Nach Informationen des General-Anzeigers intervenierte Strauß im März 2010 auch bei 'Focus Online', um einen ihr missliebigen Meinungsartikel zu stoppen",

berichtet das Blatt mit Bezug auf focus.de-Journalisten Harry Luck, um einen von dessen Kommentaren es gegangen sei.

Länger her offenbar, dass Chefredakteure zumindest privatwirtschaftlicher Medien damit renommierten, wie bei ihnen regelmäßig empörte Honoratioren anriefen, um sich über missliebige Berichterstattung zu beschweren. Inzwischen kann man sich ausmalen, wie die Focus-Chefs erschraken, als plötzlich das Telefon klingelte und dann auch noch eine Vertreterin eines der Objekts der Berichterstattung dran war.

Wenn der Focus nun in einer Reihe mit den standhaften Qualitäts-Medien steht, die sich von anrufenden Pressesprecherinnen nicht nur nicht ins Bockshorn jagen lassen, sondern solche sogar mit ein paar Jährchen Verzögerung öffentlich machen, könnte sich das aber auch auszahlen.

[+++] Schließlich verdichten sich die Forderungen nach "einer öffentlich-rechtliche Finanzierung von Printredaktionen". Michael Konken, der Vorsitzende der Journalistengewerkschaft DJV hat so etwas gerade mit ein paar flankierenden Einschränkungen ("als äußerstes Mittel denkbar, wenn der Markt versage und der regelmäßige Fluss von journalistischen Informationen in den Regionen auf dem Spiel stehe...") geäußert. Lieber eine "gesamtgesellschaftliche" Finanzierung von Nachrichtenagenturen sähe die vormalige Nachrichtenagenturchefin und jetzige Journalismus-Professorin Henriette Löwisch (newsroom.de).

Und

"* Stiftung Journalismus - zur Finanzierung von journalistischer Aus- und Weiterbildung und der Förderung von innovativen Medienprojekten.

* Neugründung publizistischer Förder-Organisationen und einer publizistisch-institutionellen Neuerfindung von Projekten, die Medienvielfalt und Medienkritik fördern. Welche Medien braucht eine funktionierende Demokratie?

* (Co)-Finanzierung von Zeitungen, Agenturen und Projekten nach modernen und modifizierten Standards, die eine gesellschaftliche Repräsentanz sichern. Ziel: Förderung von Wettbewerb und Vielfalt."

lauten auch drei der Vorschläge, die Thomas Leif am Ende einer gewohnt kraftvollen, gewohnt nicht gerade internetaffinen, aber in manchen Modulen ihres 18-Thesen-Konstrukts durchaus nachdenkenswerten ("Basis der öffentlichen Nicht-Kommunikation über die Gestaltung des Pressewesens ist eine heimliche Koalition zwischen Journalisten und Verlegern in der Medienpublizistik") Suada auf Carta unterbreitet.

Vielleicht kann schon mal jemand beginnen, eine Liste der für Förderung in Frage kommenden Medien zu erstellen.


Altpapierkorb

+++ "Und, meine Güte, wenn sie keine Idee haben, wie sie mit ihrem Geld die auf Grund gelaufenen Museumsdampfer Stern und Brigitte wieder flott kriegen oder wie sie mit der Kohle mal was Neues, Innovatives, Überraschendes, Anderes, Interessantes, Relevantes vom Stapel lassen, ja, mein Gott!, dann sollen sie doch online Reifen verkaufen!" (die oben schon erwähnte TAZ-Kriegsreporterin, nun über die hanseatische Verlegerfamilie Jahr). +++

+++ Noch eine große Wutrede: wider den "Turbojournalismus", vom einstigen ZDF-Chefredakteur Nikolaus Brender (BLZ): "Der Zeitdruck, dem sich Presse und Medien selbst ausliefern – damit meine ich ausdrücklich nicht nur die Online-Medien – mittels dieses Zeitdrucks berauben sich die Journalisten selbst ihrer Freiheit, in Alternativen zu denken und alternativem Denken eine breite Öffentlichkeit zu verschaffen." +++

+++ Vor einer Woche verabschiedet, steht Steffen Grimberg heute schon wieder in der TAZ, mit einem Stück über den Marina Weisband-Merlind Theile (Spiegel)-Streit, den auch die Berliner Blätter Tsp. und BLZ zusammenfassen. Wer denn nun recht hat: beide, würde Grimberg sagen. +++

+++ Die Süddeutsche bringt ein akribisches Porträt der neuen WDR-"Tatort"-Kommissarin Aylin Tezel ("Dabei treten ihre zwei Schneidezähne hervor, was ihr eine Ähnlichkeit mit zwei Diven der deutschen Unterhaltung beschert, mit Nora Tschirner und Lena Meyer-Landrut...") und informiert knapp über neue Jugendbemühungen beim Bayerischen Rundfunk sowie aktuelle Ausläufer der britischen Murdoch-Skandale. +++

+++ Dass Schauspieler jenseits der Schweiger-Liga es nicht leicht haben, steht im Tagesspiegel. +++

+++ Der aktuelle Pfaff- bzw. "Bloch"-Film macht's Rezensenten nicht leicht (frei online: TAZ, Tsp.). +++

+++ Bei der Suche nach Hntermännern des homophoben, aber in Deutschland nicht haftbar zu machenden Portals kreuz.net ist Spiegel Online weitergekommen.+++

+++Und auf der FAZ-Medienseite berichtet Paul Ingendaay über den Streik bei El Pais in Spanien: "In diesem Zusammenhang fällt abermals die Zahlenakrobatik auf, welche die Chefredaktion in dem Artikel vom 6. November betreibt: Im Vergleich zu 2007, heißt es da, habe die Zeitung '200 Millionen Euro Einnahmen verloren'. Man muss sich diesen Halbsatz zweimal anschauen, um zu wissen, was gemeint ist. Die Erträge der Boomjahre werden als Gewinnerwartung nach vorn projiziert, es wird so getan, als sei durch außergewöhnliche Erlöse ein Gewinnanspruch entstanden." +++

Neues Altpapier gibt's wieder am Donnerstag.