Content-Trends: Freigeist, Katzen, Hitler

Content-Trends: Freigeist, Katzen, Hitler

Doris Heinze bekommt Bewährung von einem weniger Anstalten- als fernsehkritischen Richter, Adolf Hitler eine englischsprachige Fernsehserie mit Millionenbudget und hunderte Youtube-Kanäle (aber auch das alte Fernsehen) bekommen dutzende neue Youtube-Originalkanäle als neue Konkurrenz.

Ein Jahr und zehn Monate auf Bewährung, 180mal 18 und dreihundert mal sieben Euro für drei Personen und insgesamt 14 Fälle von Betrug, schwerer Untreue und Bestechlichkeit im öffentlich-rechtlichen Fernseh-Sektor. Über 15 Millionen Euro für achtmal eine Stunde (englischsprachig) über den meist- oder zweitmeistverfilmten Menschen der Weltgeschichte. Allerhand Millionen Euro für etwa 60 Youtube-Kanäle, die das Wachstum des 72-Stunden-pro-Minute-Wertes (siehe Altpapier) pushen sollen: Wer harte (oder zumindest hohe) Zahlen für den besten Maßstab hält, um die Leistungen von Medien beziehungsweise Medialeistungen einzuschätzen, kommt an diesem Dienstag voll auf seine Kosten. Es wird kräftig beziffert zwischen Cannes und Hamburg.

Wie Sie gestern hier bereits im Altpapierkorb lesen konnten, packte Robert Kyncl, seines Zeichens "Global Head of Content Google/YouTube", die Gelegenheit der gerade in Cannes laufenden größten europäischen Fernsehmesse Mipcom beim Schopf, den bevorstehenden Start von 60 weiteren "Originalkanälen" anzukündigen. Dabei handelt es sich um europäische Kanäle, die ab Herbst zu circa 100 schon besetehenden amerikanischen hinzukommen und (gegenüber den abertausenden sonstigen Youtube-Channels) "original" insofern sind, als dass die Google-Tochter Youtube sie erst einmal finanziert.

"'Wir bringen die nationalen Märkte jeweils etwa zwei Jahre lang mit eigenen Mitteln in Schwung. Dann schauen wir uns das Resultat an, arbeiten je nach Erfolg mit den bestehenden Partnern weiter, schaffen mit ihnen neue Spartenkanäle oder suchen neue Partner', erklärt Kyncl",

erläuterte das Geschäftsmodell gestern Springers Welt, der Kyncl über seine (selbstredend auf Youtube guckbare) Mipcom-Performance hinaus auch ein paar Sätze sagte, also quasi Original-Content lieferte.

Weil zwölf dieser neuen Kanäle aus Deutschland heraus produziert werden und teils bereits von entsetzlich euphorischem Werbegedröhne begleitet werden (der "Urban Life Channel" "'Heartbeat Berlin' (AT)" werde "über global relevante Trends aus Berlin informieren, den großstädtischen Freigeist inspirieren und mit urbanen Zeitgeist-Themen unterhalten", macht z.B. die UFA gespannt), schlägt das Thema Kreise. Auf der Medienseite 31 der Süddeutsche ätzen Bernd Graff und Michael Kläsgen gegen das Rezept. Sie meinen, es

"zeigt die Grundaufgeregtheit, mit der die Ankündigung von Cannes begleitet wurde, doch vor allem eins: Wie schwer es immer noch fällt, das Zukunftsgeschrei von Internetkonzernen mit der adäquaten Bewertung zu quittieren. Youtube, das vorweg, ist unbestritten zu einem Kleinod für das visuelle Gedächtnis weltweit geworden",

schreibt dann vermutlich Graff (unter womöglich eher imaginärem Bezug auf alte Ramones-Videocassetten). Mit konkretem Bezug auf den lang schon laufenden Originalkanal The PetCollective's channel voller "Videos von putzigen Katzen und Hunden" folgern die SZ-Autoren dann:

"Interessant an diesem Gesende ist also nicht der Inhalt. Interessant ist das Geschäftsmodell, die vorgeschalteten Werbeclips. Manager Robert Kyncl sagt auch klar, worum es wirklich geht: Man suche gezielt nach 'weißen Flecken', Themengebiete also, zu denen es kein Angebot gibt. Und wir hoffen, dass die Firma hinter der Werbeanzeige dann gerne mehr bezahlt'."

Dass Googles Idee eher darin besteht, aus Millionen von Kleinodien solche zu sieben, die sich zu aber mindestens Millionen schweren Geschäften bündeln lassen, wird aus dem sueddeutsche.de-Artikel zum selben Thema deutlicher. Mit Bezug auf amerikanische Experten und deutsche wie Markus Hündgen (der hin in Kürze erneut auftauchen wird) meint Benjamin Romberg, das Google-Konzept könne bei jüngeren Zuschauern aufgehen.

Konkurrenz fürs Fernsehen erkennen weitere Vertreter der gedruckten Presse: "eine Waffe..., die die Öffentlich-Rechtlichen und Privaten nicht umbringen, aber doch mehr als anpieksen dürfte" Sonja Pohlmann vom Tagesspiegel (inklusive ""Dennoch bleiben die etablierten TV-Sender gelassen"-Umfrage), sogar "ordentlich Konkurrenz für traditionelle TV-Sender" Meike Laaff von der TAZ.

Wer nach Zahlen sucht, um einzuschätzen, ob etwa die UFA aus dem bekanntlich sehr renditewunsch-getriebenen Bertelsmann-Konzern damit eher Geld verdient oder dereinst vielleicht zu verdienen hofft, der stößt auf das ZDF-betriebene Hyperland-Blog. Dort hat Markus Hündgen, nun als Autor, außer den pauschal  rund 300 Millionen Euro, die Google insgesamt in seine circa 160 Originalvideokanäle bislang steckte, noch folgende Info parat:

"Wie viel Geld jeder Original-Kanal erhält, will YouTube nicht sagen. Einige YouTuber sprechen gegenüber dem ZDF von einer Millionen Euro, für ein Jahr Laufzeit. Auf den ersten Blick viel Geld für Webvideos, auf den zweiten Blick allerdings nur ein Startgeld für professionelle Produktionen."

Einen Überblick über die, die diese Millionen kriegen, zwischen den Fernseh-Industriellen von Endemol und dem Comedy-Trio Y-Titty, das Youtube längst "ein geregeltes Einkommen" verdanke, gibt Hündgen auch. Überdies kommt in diesem instruktiven Artikel Jürgen Doetz zu Wort. Der alte Recke von der Privatsender-Lobby VPRT weist vermutlich sehr zu Recht darauf hin, dass das alte Prinzip der Privatfernseh-Kontrolle durch die Landesmedienanstalten durch die jüngste Youtube-Initiative wohl endgültig ausgehebelt werden wird.

[+++] Szenenwechsel, aus dem warmen Cannes ins kalte Hamburg,  aus dem pulsierenden Internet mit seiner Formenvielfalt zum klassischen Neunzigminüter des alten Fernsehens: Doris Heinze ist verurteilt worden. Die frühere NDR-Filmchefin bekommt ein Jahr und zehn Monate auf Bewährung, ihre beiden Mitangeklagten Geldstrafen von 3240 beziehungsweise 2100 Euro.

Wie sieht's aus mit Einschätzungen des Urteils? Die FAZ hat, obwohl sie auf der Titelseite ihrer Druckausgabe ganz oben ganz links neben dem Foto auf den Medienseiten-Bericht verweist, eigentlich keine Meinung. Der Tagesspiegel legt auf seiner bunten Seite den Schwerpunkt auf human touch:

"'Ich kann mit dem Urteil sehr gut leben. Und ich glaube, Frau Heinze auch', sagt ihr Anwalt hinterher. 'Sie hatte Angst, dass sie tatsächlich ins Gefängnis muss'. Sie selbst setzt noch im Gebäude die Sonnenbrille auf und lächelt stumm. Dann ist sie auch schon weg."

Tatsächlich, angesichts der staatsanwaltlich geforderten Dreijahres-Haftstrafe "vergleichsweise milde Urteile", meint Charlotte Frank in der Süddeutschen und berichtet von den ausführlichen Erläuterungen des Richters. Es sei den Angeklagten ja nur um "gute Filme" gegangen, sie hätten ja trotz des Betrugs Leistung erbracht, habe der Vorsitzende Richter Volker Bruns argumentiert und gar noch ein merkwürdiges Bild von einer Straßenbaubehörde gebracht, die ja auch betrügerisch gute Straßen bauen könne. Ob Heinze also, wenn dem Richter ihre Filme schlechter gefallen hätte, doch ins Gefängnis gemusst hätte?

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Dass die Urteilsbegründung "fast zweieinhalb Stunden am Stück" dauerte, aber "in einem irren Tempo" (hat das Hamburger Landgericht schon einen Youtube-Channel?), lässt sich dem Bericht der TAZ entnehmen, die außerdem per Kommentar zu folgender, negativer Urteils-Beurteilung gelangt:

"Die Sender sehen sich in all diesen Prozessen als Opfer. Dabei kommen die Kammern stets zu dem gleichen Schluss. Die Richterin im KiKa-Verfahren formulierte ihn am prägnantesten: Das Gericht würde sich wünschen, dass der MDR so intensiv kontrolliere, wie die GEZ Gebühren eintreibe."

Eher das Gegenteil stehe aber bevor, bringt Jürn Kruse, in seiner Öffentlich-Rechtlichen-Kritik äußerst TAZ-untypisch, gleich noch die Haushaltsabgabe ins Spiel. "Das System des öffentlich-rechtlichen Rundfunks muss man sich wie eine Partei vorstellen, die einfach schon zu lange regiert", ist aber jedenfalls ein Faust-aufs-Auge-Satz.


Altpapierkorb

+++ Breaking News wiederum aus Cannes: Nico Hofmann (laufende TV-Saison: "Der Turm", "Rommel"...) plant wieder Neues Serie: Hitler als Fernsehserie, "8 x 1 Stunde", beginnend mit dem Ersten Weltkrieg 1914 und endend mit Hitlers Tod 1945. Die meisten Details über die Pressemeldung hinaus bringt der Hitler-Biografien-Kenner Sven Felix Kellerhoff ("Über keinen Menschen, Jesus Christus einmal ausgenommen, sind mehr Bücher geschrieben worden als über Adolf Hitler. Mindestens 75 unterschiedliche Biografien, nicht gerechnet Übersetzungen, kurze Porträts sowie Schriften aus Nazi- und Neonazi-Kreisen, sind seit 1936 erschienen. Und über keinen Menschen sind mehr Filme gedreht worden, sowohl Spiel- als auch Dokumentarfilme") in der Welt: "Das Budget soll mehr als 15 Millionen Euro betragen", wer den Hitler gibt in der englischsprachigen Produktion und welcher Sender sie circa 2015 ausstrahlen wird, sei noch unklar. Außerdem informiert Kellerhoff zackig über das zugrundeliegende Buch "Hitlers erster Krieg" des Historikers Thomas Weber (im Ersten Weltkrieg "war Hitler kein 'Frontschwein', sondern als Meldegänger des Regimentsstabes viel eher ein 'Etappenhengst'...") und demonstriert solch ein Einschätzungsvermögen ("Unübersehbar ist die Fülle von Dokumentationen über Hitler. Doch darunter findet sich keine Produktion mit einem vergleichbaren hohen Anspruch wie das Teamworx-Projekt"), dass Teamworx zumindest keinen Fehler dabei gemacht hat, Kellerhoff mehr heiße Infos zu stecken als Katharina Riehl von der Süddeutschen. +++

+++ Auf der FAZ-Medienseite ärgert sich Jan Wiele nicht nur über den "bräsigen Schülerpupshumor des Moderatorenduos Joko Winterscheidt und Klaas Heufer-Umlauf", sondern auch darüber, wie sie im "Selbstverstümmelung im ZDF salonfähig" machen, und zwar in der ZDF-Neo-Sendung  "Neoparadise".  +++ Ebd. stellt Michael Hanfeld die Frage nach Kurt Becks Nachfolger in Mediendingen, v.a. als ZDF-Verwaltungsratsvorsitzender und Chef der Rundfunkkommission der Bundesländer. Olaf Scholz, Marc Jan Eumann oder Malu Dreyer seien in der Debatte.+++

+++ Dass Hubert Burda Medien voll auf Video und Youtube ist, sagt der frisch angeheuerte Director TV, Rainer Laux, im meedia.de-Interview. +++

+++ "Nachgestellte Szenen, in denen alte Frauen leidend in Krankenhausbetten gelegt werden. Eine Bildführung, bei der sich die Kamera hinter Schreibtischkanten heranpirscht. Immer wieder sehen wir die Journalisten bei rasend spannenden Tätigkeiten wie: auf den Bildschirm starren, den Telefonhörer abnehmen. Sinn und Erkenntniswert: nullkommanull", bescheinigt Thomas Gehringer im Tsp. einem vom MDR gestalteten Arte-Themenabend. +++

+++ Dass der NDR eine Graphic Novel des japanischen Zeichners Jiro Taniguchi als Hörspiel adaptiert hat, ist der TAZ einen Artikel aus dem seltenen genre der Hörspielbesprechung wert. Radio-Gepflogenheiten folgend, läuft "Vertraute Fremde" heute nicht um 20.15, sondern um 20.05 Uhr. +++

+++ Vielleicht "ein Lehrstück über Recherche", jedenfalls ein schwieriges Stück, unter dessen Onlinefassung irgendwie der Hinweis fehlt, dass es sich, so tief es in die Vergangenheit des Spiegel zu Rudolf Augsteins Zeiten geht, irgendwie auch um eine noch aktuelle Buchbesprechung handelt: Thomas Schuler in BLZ/ FR darüber, wie Norbert Pötzl nicht nur einmal über Berthold Beitz schrieb. +++

Neues Altpapier gibt's wieder am Mittwoch.