Christian Wulff schrieb einmal einen „offiziellen Bettelbrief“; Peer Steinbrück weiß, was Interviews mit ihm wert sind. Außerdem auf der Agenda: Brauchen wir völlig andere Formen des Politikjournalismus? Wie soll sich ein öffentlich-rechtlicher Sender verhalten, wenn ein freier Mitarbeiter des Hauses vor Gericht gegen einen Redakteur klagt? Nicht zuletzt: die US-Comedyserien der aktuellen Saison, 70 Jahre Wallraff, Nachrufe auf Arthur O. Sulzberger.
In der jüngeren Vergangenheit ist Christian Wulff von seiner Gattin etwas aus den Schlagzeilen verdrängt worden, aber heute gibt es mal wieder Anlass, etwas mehr über ihn zu reden, und das hat auch mit einem Film zu tun, der im Oktober 2011 im ZDF lief.
„Nun (...) hat die Staatsanwaltschaft einen Briefwechsel gefunden (...), der (...) die Ermittlungen bis in den Winter ausdehnen könnte“,
schreibt der Spiegel (Seite 39, Zusammenfassung hier). Er bezieht sich dabei auf das Ermittlungsverfahren, in dem sich die Staatsanwaltschaft Hannover mit dem Geflecht zwischen dem Ex-Bundespräsidenten und dem mit ihm befreundeten David Groenewold beschäftigt. Zu den von der Staatsanwaltschaft entdeckten Schriftstücken gehört auch ein „offizieller Bettelbrief“ (Spiegel), den Wulff 2008, animiert durch Kumpel Groenewold, an Siemens-Chef Peter Löscher schickte. Es geht um die Finanzierung des von Groenewold produzierten Spielfilms „John Rabe“, der Titelheld ist ein früherer Siemens-Mann. Wulff schrieb:
„‚Ich habe die Bitte, dass die Siemens AG sich stärker als bisher in das Projekt einbringt.‘ Er könne sich eine Beteiligung bei der ‚Auswertung des Films und bei einer Veranstaltung auf der Berlinale‘ vorstellen.“
Es bleibt unklar, ob und inwiefern sich Siemens vorher schon in das Projekt „eingebracht“ hat, aber bemerkenswert ist vor allem Wulffs Kunstverständnis. So nach dem Motto: Wir haben hier einen Film, und da kommt ein einst hochrangiger Mitarbeiter eines großes Unternehmens sehr gut weg, also reden wir doch einfach mal mit dem Unternehmen darüber, was so alles gehen könnte. Was wird wohl der ehrwürdige Hans Janke, in dessen Zeit als ZDF-Fernsehspielchef der Sender eine sehr ansehnliche Summe in den Film investiert hat, denken, wenn er von Wulffs „Bettelbrief“ erfährt?
Die Spiegel-Geschichte über Wulff und „John Rabe“ rockt eindeutig mehr als die, welche die Münchener Konkurrenz über Peer Steinbrück im Angebot hat. Focus schreibt, der SPD-Kanzlerkandidat habe „mindestens 7.000 Euro“ für ein Interview erhalten, das im Geschäftsbericht eines Baukonzerns erschienen ist. Die ARD wiederholt übrigens heute aus gegebenem Anlass ein Porträt über Steinbrück, von dem man ja gern noch gewusst hätte, ob ihm die Spiegel-Cover-Zeile „Steinbrück gegen Merkel: Wer wird Kanzlerin?“ gefällt oder er das große Binnen-I bevorzugt hätte.
[+++] Es ist ja durchaus ergiebig, sich derzeit am Spiegel abzuarbeiten, und das hat vor allem mit dem Spiegelblog zu tun, in dem, wie Stefan Niggemeiers kritisches Interview mit Jan Fleischhauer vom vergangenen Freitag zeigt, mehr möglich ist als ich für möglich gehalten habe (siehe Altpapierkorb vom Donnerstag). Besonders hübsch ist ja Fleischhauers direkt an Niggemeier gerichtete Satz:
„Dass mir nun irgendwelche Medienjournalisten vorschreiben wollen, was ich für relevant zu halten habe, kann ich nicht ganz ernst nehmen.“
Wenn ein Hardcore-Blender und Nix-Checker wie Fleischhauer sich so abfällig über Medienjournalisten äußert, ist das gesamte medienjournalistische Genre ein gutes Zeichen für den Medienjournalismus. By the way: Wer könnte eigentlich besser als „irgendwelche Medienjournalisten“ einschätzen, ob ein Thema relevant ist?
Die „Hausmitteilung“ in der aktuellen Print-Ausgabe des Spiegel nervt dann aber sehr, jedenfalls die Art, wie das Blatt hier die eigene Fähigkeit zur Selbstkritik abfeiert. Die Rubrik erscheint in einer XXL-Version, weil man noch einmal auf die Konferenz zur Spiegel-Affäre zurückblicken muss, auf der auch über die Ex-SS-Leute geredet wurde, die in der Nachkriegszeit für den Spiegel arbeiteten (siehe Altpapier). „Trugen sie dazu dabei, dass Artikel in den fünfziger Jahren antisemitische Klischees enthielten?“, fragt der aktuell Dienst habende Hausmitteiler, um, anknüpfend an eine Äußerung des Historikers Norbert Frei, den Leser gleich wieder zu beruhigen:
„Schon in den fünfziger Jahren begann der Wandel, konzedierte Frei; ‚anders ließe sich auch nicht erklären, dass so viele aufgeklärte Zeitgenossen 1962 für den Spiegel Partei ergriffen‘, sagt Klaus Wiegrefe, Redakteur für zeitgeschichtliche Themen“.
Noch 1960 ist allerdings eine von antisemitischen Motiven nicht freie Titelgeschichte anlässlich des damals bevorstehenden Prozesses gegen Adolf Eichmann erschienen, die kürzlich erst in der Welt am Sonntag ein Thema war. In dem Spiegel-Text ging es um vermeintliche Verhörmethoden der Israelis, die Rede war beispielsweise von „einer elektrisch betriebenen Entlüftungsanlage, die auf Heißluft geschaltet werden kann. Gedächtnis sowie Mitteilungsbedürfnis des Zelleninsassen lassen sich auf diese Weise nach Bedarf kräftigen“.
„Woher hatten sie das?“ fragt Alan Posener im besagten WamS-Artikel, und die Philosophin Bettina Stangneth, die gerade „Lüge! Alles Lüge!“, die Aufzeichnungen des Eichmann-Verhörers Avner Less, herausgebracht hat und dort in der Einleitung auf die Spiegel-Geschichte eingegangen ist. antwortet:
„Man hatte ja eine vage Vorstellung davon, was er erzählen könnte und vor allem über wen. Es war deshalb verführerisch, sozusagen schon vorsorglich jede Aussage Eichmanns unglaubwürdig zu machen. Unter der Folter sagen Menschen bekanntlich alles. Der Spiegel-Artikel enthält zu anderen Punkten Informationen des BND. Ob die fantasievolle Beschreibung der Gefängniszelle aus der gleichen Quelle stammt, darüber möchte ich hier nicht spekulieren.“
Da gibt es für den Spiegelblog also noch eine Menge Stoff.
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[+++] In den USA diskutieren Journalisten anlässlich des Präsidentschafts-Wahlkampfs gerade ausgiebig über die Bedeutung des Fact-Checking. Fact-Checker überprüfen, anders als Dokomentare, nicht, ob das Zitat eines Politikers (oder eines sog. Experten) authentisch ist, sondern ob es inhaltlich korrekt ist. Matthias Kolb nimmt die Debatte zum Anlass, in der SZ (Samstags-Ausgabe) einige Plattformen vorzustellen, etwa Politifact und The Fact Checker.
Was in Kolbs Text nicht angerissen ist, steht in einem anderen, den SZ-Redakteur Johannes Kuhn vor einiger Zeit in seinem eigenen Blog veröffentlicht hat:
„Ich möchte diese Entwicklung kurz ins Extreme weiterdenken (...) Konsequenterweise müssten Redaktionen (...) noch stärker selbst die Überprüfung und Bewertung komplexer Sachverhalte wie Modellrechnungen, Statistiken, Prognosen übernehmen. (...) Schnell wären wir bei ganzen Abteilungen solcher ‚neuen‘ Factchecker, deren Rolle sich nicht auf die Kontrolle der journalistischen Arbeit konzentriert, sondern auf die Prüfung von Aussagen im öffentlichen Diskurs. Eine Medienmarke würde dann eine Art Hybrid aus Redaktion und ThinkTank sein.“
Das ist aus ökonomischen Gründen derzeit zwar nicht denkbar. Aber die gesamte Debatte (siehe auch Washington Post neulich) ist instruktiv, weil sich daraus eine viel weiter gehende Frage ableiten lässt: Wenn man schon darüber nachdenkt, mehr Aufwand darin zu investieren, die Aussagen von Politikern auf ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen, sollte man nicht dann auch einmal über eine ganz andere Politikberichterstattung nachdenken? Also darüber, ob man Leuten, die es mit der Wahrheit hin und wieder nicht so genau nehmen, überhaupt so viel Raum geben sollte. Also nicht zuletzt darüber, ob Politikberichterstattung wirklich so fixiert sein muss auf Politiker und vor allem auf Parteien, auf Parteigremien- und Kabinettssitzungen, Koalitionskräche undsoweiter. Diese Fragen müssten sich vor allem die öffentlich-rechtlichen Nachrichtensendungen stellen, aber nicht nur sie.
[+++] Nachbereitungen des Urteils in Sachen Tagesschau-App (siehe Altpapier): Michael Hanfeld schreibt in der FAZ (Samstags-Ausgabe):
„Am Unwillen öffentlich-rechtlicher Scharfmacher, die gerade beim NDR sitzen. ändert das Urteil (...) wahrscheinlich auch nichts. Für diese ist es wohl ein Schock, einmal nicht wie sonst - meist mit parteiübergreifend großzügiger Hilfe der Politik - zu bekommen, was man will.“
Scharfmacher beim NDR? Schön wär‘s ja, dann wäre mehr Pep in der Debatte. Als Kontrapunkt zu Hanfeld empfiehlt sich das Medienmagazin des RBB, in dem Jörg Wagner sich gleich zu Beginn recht süffisant zu der „Expertise“ äußert, die Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger kurz vor dem Urteil abgegeben hat. Und Christian Jakubetz (Carta) meint:
„Es wäre sehr viel interessanter, sich dem Thema mal von der praktischen Seite her zu nähern. Von den Konsequenzen also, die es hätte, wenn (...) die Tagesschau die App so gestalten müsste, dass sogar der lauteste FAZ-Schreihals zufrieden ist, der hinter jeglicher Aktivität öffentlich-rechtlicher Sender die baldige Einrichtung einer Staatspresse wittert. (...) Man darf ja davon ausgehen, dass es den klagenden Verlagen nicht nur um die generelle Einhaltung des Rundfunkstaatsvertrags ging, sondern in erster Linie darum, unliebsame und kostenlose Konkurrenz irgendwie zu unterbinden. Die stark vereinfachte Logik lautet: Wenn die Leute die kostenlose Tagesschau-App nicht mehr nutzen, dann bezahlen sie Geld für die FAZ-App.“
Unter anderem, weil es sich bei der App der Tagesschau um ein multimediales Angebot handelt, und bei der der FAZ um ein „monomediales“, kommt Jakubetz zu dem Schluss:
„Natürlich wird die FAZ (oder wer auch immer) keine einzige App mehr verkaufen, wenn die ‚Tagesschau‘ jetzt irgendwie weniger Texte veröffentlichen darf.“
[+++] Ausführliche Nachrufe auf den langjährigen New-York-Times-Herausgeber Arthur O. Sulzberger haben die in New York lebenden Korrespondenten von Spiegel Online (Marc Pitzke), der Welt (Hannes Stein), der SZ (Nikolaus Piper, nicht frei online) und der FAZ (Jordan Meijas) verfasst, außerdem der Ex-New-Yorker Thomas Schuler für die Berliner Zeitung und der unseres Wissens noch nie in New York wohnhafte Steffen Grimberg für die taz. In der New York Times selbst findet sich natürlich ein sehr langer, dreiseitiger Nekrolog. Pitzke und Meijas geht auf die aktuelle Lage der Times ein, die, so letzterer,
„im Land bis heute keine ernsthaften Rivalen hat und die elektronische Revolution nutzt, immer mehr als globales Nachrichtenmedium wahrgenommen zu werden“.
In der SZ interpretiert Piper derweil den Schlusssatz des Times-Nachrufs - ein von Sulzberger stammender Ausspruch - als Pfeifen im Walde:
„Wenn Sie die Times kaufen, dann kaufen sie keine Nachrichten. Sie kaufen Urteilskraft.
Sämtliche Nachrufer würdigen Sulzbergers Rolle in der Causa Pentagon Papers (Altpapier, Wikipedia). Bei Schuler steht dazu Folgendes:
„Als die Washington Post 1971 die geheimen Pentagon-Papiere über den Vietnam-Krieg nicht drucken durfte, entschied Sulzberger, dass die Times sie trotz des Verbots veröffentlicht. Präsident Richard Nixon forderte den sofortigen Stopp der Serie, doch Sulzberger setzte die Veröffentlichung vor dem Obersten Gericht durch. Es war nach Meinung von Historikern sein vielleicht größter Dienst für die Pressefreiheit und ein ähnlich entscheidender Moment für die Unabhängigkeit der Presse in den USA wie hierzulande die Spiegel-Affäre.“
+++ Im taz-Interview, das Jürn Kruse mit den TV-Programm-Parodisten Philipp Walulis und Oliver Kalkofe geführt hat, sagt letzterer, der am 12. Oktober sein Comeback bei Tele 5 feiert: „Die Quote ist nur so wichtig geworden, weil die Privaten irgendeine Währung brauchten. Gerade die Öffentlich-Rechtlichen dürften sich nach so einem Schätzwert nicht richten! Es gibt für sie keine Entschuldigung, (...) sie bekommen unser Geld, es wäre ihre Pflicht, uns immer wieder zu überraschen, aber sie befinden sich in einem kreativen Koma.“ Und ein bisschen was Psychologisches hat Kalkofe auch parat: „Wenn Redakteure zum öffentlich-rechtlichen Rundfunk kommen, sind die ja nicht doof. Aber irgendwann merken sie, dass sie bei allem, was sie entwickeln und was vielleicht auch noch Spaß bringt, gleich auf die Mütze kriegen: Und dann bekommen die Ärger von zu Hause, weil sie ihren Job verlieren. Also halten sie lieber die Fresse.“
+++ Die US-Comedyserien, die in der aktuellen Saison auf DVD zu haben sind, bald zu haben sein werden oder demnächst im hiesigen Pay-TV starten, hat Peter Kusenberg für konkret im Blick - darunter Meta-Serien wie „Life‘s too short“ oder „Episodes“, eine „selbstreflexive Satire auf den quotensüchtigen TV-Serien-Betrieb“. Ein Beispiel: „Programmdirektor Merc sitzt mit dem Tablet-PC auf dem Klo und beschwert sich ungeniert bei seiner Mitarbeiterin, die gleichzeitig als Geliebte dient, über die miserablen Einschaltquoten.“
+++ Heute beginnen die Dreharbeiten für eine seltsame Reklame für die neue Haushaltsabgabe, berichtet Christopher Keil in der SZ (Seite 37). Dabei machen ARD und ZDF bzw. „die Newsanchors Tom Buhrow (Tagesthemen) und Claus Kleber (Heute-Journal), die Sportmoderatoren Gerhard Delling und Rudi Cerne (Aktuelles Sportstudio) sowie die Biene Maja und die Maus aus der Sendung mit der Maus gemeinsame Sache“.
+++ Wie ist die Verfilmung von „Der Turm“ (siehe auch Altpapier)? Romanautor Uwe Tellkamp im FAZ-Interview (Samstagsausgabe) über den am 3. und 4. Oktober in der ARD laufenden Film: „Ich bin ... tiefer beeindruckt als ich selbst erwartet hatte. Das liegt ... an der Machart, am Verzicht auf knallige Effekte ... Es gibt bei Filmen ja meist Oberflächeneffekte, solche, die effektiv, aber ebe nur oberflächlich sind, Darauf hat der Regisseur Christian Schwochow wohltuend verzichtet.“
+++ Dürfen Journalisten den Ermittlungsbehörden eidesstattliche Versicherungen von Informanten zukommen lassen? Nein. Ein WDR-Redakteur behauptet aber, ein Mitarbeiter habe genau das getan. Dieser klagt auf Unterlassung. Doch damit nicht genug: Der Redakteur geht auch vor Gericht, weil ihm der WDR in der Sache keinen Rechtsschutz gewähren will. Macht der Sender jetzt aber doch, er hat mittlerweile ein Urteil des Landesarbeitsgerichts Köln akzeptiert. In der Funkkorrespondenz steht ein komplexer Artikel dazu.
+++ In der FAZ (Seite 30) gratuliert Michael Hanfeld Günter Wallraff, dieser „Ein-Mann-Armee“, die „im Dienst der Pressefreiheit“ kämpfe, zum 70. Geburtstag. Over the top? Das gilt erst recht für Hans Leyendeckers Würdigung in der SZ: „Kaum jemand im Journalismus und im Literaturbetrieb hat so viel bewegt wie Wallraff.“
+++ Den Wallraffs dieser Welt keinen Anlass mehr für Skandal-Berichterstattung geben möchte wohl das Versicherungsunternehmen Ergo. Die FTD berichtet über dessen Transparenzoffensive.
+++ Neues aus der Reihe Titelbilder, die unter religiöse Aspekten vermeintlich respektlos sind: In Brasilien herrscht Aufregung über ein Magazin, das für ein Cover den Fußballstar Neymar gewissermaßen ans Kreuz genagelt - in wohlwollender Absicht, wie die Macher betonen (derstandard.at)
Neues Altpapier gibt es wieder Dienstag.