Große Blöße

Große Blöße

Schon wieder ein -gate für die Süddeutsche Zeitung? Jedenfalls prescht Thomas Steinfeld nach vorn in der Mediencelebrity-Szene. Außerdem: ein Obdachloser über Günter Wallraff, Nebenkriegsschauplätze um Jens Weinreich, die doppelte Gremienvorsitzendenkonferenz.

Die Süddeutsche Zeitung und die FAZ verlieren heute kein Wort über den jetzt also tatsächlich vom Süddeutsche-Feuilletonchef Thomas Steinfeld zumindest mit-verfassten Schlüsselkriminalroman "Der Sturm", in dem das Mordopfer so womöglich verblüffend an den FAZ-Mann Frank Schirrmacher erinnert (siehe Altpapier gestern).

Brauchen sie auch nicht. Die FAZ genießt den Glamourgewinn, der ihr durch ihren feuilletonischen Mitherausgeber schon wieder zugekommen ist, am sinnvollsten schweigend. Und die Süddeutsche, die gerade erst leidlich durchs Prantl-Voßkuhle-Gate (siehe Altpapier) kam, was soll sie auch jetzt schon wieder in eigener Großjournalisten-Sache sagen?

Überall sonst gelangt die neueste Wendung an die feuilletonistisch interessierte Öffentlichkeit: die Erklärung, die Steinfeld der DPA zwecks Verbreitung zukommen ließ. Wir zitieren:

"... ... Der tote deutsche Chefredakteur, der für die Kommentatoren des Romans eine große Rolle spielt, ist eine abstrakte, idealtypische Gestalt, in deren Bild einige der jüngsten Themen des internationalen Feuilletons sowie Züge vieler Kulturjournalisten und ihrer Leser eingegangen sind. Diese Gestalt jetzt identifizieren zu wollen, indem man abenteuerliche Züge dieser Figur auf einen lebenden Menschen - und zudem auf einen respektierten Journalisten - überträgt und behauptet, damit den Roman und sein Motiv entlarvt zu haben, widerspricht den Grundlagen des Umgangs mit fiktiver Literatur."

Müsste es am Ende nicht fiktional heißen? Aber wenn das Hochfeuilleton nicht mit Worten umzugehen weiß, wer denn dann?

Im Originalwortlaut zu lesen ist Steinfelds Erklärung z.B. beí newsroom.de sowie eingebaut in den von Iris Radisch für die gedruckte Zeit verfassten, online bereits verfügbaren und eben um diese Erklärung aktualisierten Artikel "Schirrmacher in Schweden".

Radisch - ja eine, wenn nicht die Groß-Litertaurkritikerin - fragt im Vorspann zwar, fast so, wie Kommissar Wallander es auch immer tut: "Ist es Rache, was ihn antreibt?" [pardon, das ist Viertelwissen; ich lese gar keine Schwedenkrimis, nur, wenn's sein muss, Schwedenkrimiverfilmungsbesprechungen...]. Doch bemüht sie sich, den Ball flach zu halten. Schirrmacher sei ja schon öfters "literarisch porträtiert" worden. Was das Motiv angeht, gelangt sie zu folgender Auffassung:

"Wieder mal die uralte Frage: Wie weit darf Literatur gehen? Damals, als Martin Walser unter dem Schutz der Fiktion eine Marcel Reich-Ranicki ähnelnde Figur ermorden ließ, war das schlimm. Reich-Ranicki war den deutschen Mördern schließlich in der Wirklichkeit nur knapp entkommen. Walser trieben Spiellust und Rache. Was treibt den Autor des Sturms? Unsere allerletzte Vermutung: ein Bestseller-Plan. Er könnte aufgehen."

Während Radisch ferner "die Sache ...auch eine große Peinlichkeit für die Süddeutsche Zeitung" nennt, halten weitere liebe Kollege den Ball noch flacher, schreiben von "Sommerskandälchen" (Hamburger Abendblatt), "amüsanter Sommerposse" (meedia.de) und "irrstem Feuilleton-Schauspiel des Sommers" (das aber bei Spiegel Online, das ja viertelstündlich irgendeinen neuen Superlativ raustickern muss). Die Welt, für die Richard Kämmerlings das Skandälchen aufdeckte, begnügt sich mit einer nicht einmal reißerisch überschriebenen Meldung.
Nachtrag: Und mit einem "Der Verdächtige hat gestanden"-Kommentar von Kämmerlings.

In der Redaktionsstube der Berlin-Frankfurter DuMont-Presse hat Harald Jähner, noch bevor gestern die Steinfeld-Erklärung bekannt wurde, zwei Modelle für den weiteren Debättchenverlauf entwickelt, die beide weiterhin denkbar erscheinen: Es sei

"fraglich, ob die Fehde mit der brancheneigenen Hartgesottenheit als verwegenes Spiel oder mit der ebenfalls brancheneigenen Empfindlichkeit als menschenverachtender Übergriff verhandelt werden wird."

Dann schlägt Jähner den Bogen zu Georg Seeßlens kürzlich in der TAZ erschienenem Plädoyer "Schafft das Feuilleton ab!", das zwar "nicht sehr originell" sei, aber mit seiner Attacke gegen "bornierte Selbstbezüglichkeit" schon recht habe.

Hat es damit (und damit, dass natürlich alle, die drüber schreiben, gern aus dem noch unveröffentlichten Krimi zitieren, und durch Krimimord-Opfer-Attribute wie "Mann mit diesem alten Kinderantlitz" und mit Faible für "sehr junge Mädchen" Steinfelds Erklärung von der "abstrakten, idealtypischen Gestalt" beiläufig als relativen Bullshit entlarven) sein Bewenden?

Nein, auch Jakob Augstein greift in seiner Eigenschaft als Freitag-Verleger auch noch ein, und zwar mit den deutlichsten, kräftigsten Worten. Sein abgeschlossener Roman trägt den attraktiven Titel "Wir töten, was wir lieben", steigt ein mit einem Zitat aus Wilfried Raschs "Die Tötung des Intimpartners", nennt Schirrmacher u.v.a. den "großen Täter des deutschen Feuilletons" und ist so dicht geschrieben, dass man eigentlich jeden Satz daraus zitieren müsste.

Selbstverständlich kommen die digitalen Augstein-Aficionados auf ihre Kosten ("Ausgerechnet der Prophet der Netzkultur" - Schirrmacher ist gemeint - "hat in der hereinbrechenden Dämmerung des Papierwesens die wahrscheinlich letzte erfolgreiche Zeitungsgründung im Land unternommen"). Und was die Süddeutsche Zeitung betrifft, prophezeit er:

"Er", Steinfeld, "gibt sich und seiner Zeitung mit dieser pathologischen Tat eine große Blöße. Steinfeld wird von nun an immer der Schirrmacher-Mörder sein. Die Zeitung kann sich kaum leisten, ihn auf diesem Posten zu halten. Aber vielleicht war das sogar Steinfelds heimlicher Wunsch und der literarische Mord in Wahrheit ein professioneller Selbstmord."

Augstein ist zwar bloß Miteigentümer des Spiegels, nicht der Süddeutschen. Könnte aber sein, dass das Münchener Blatt mit einer so kleinen Klarstellung in diesem Fall nicht davonkommen wird.

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[+++] Auch wenn wir schon wieder tief unten (im traditionell nicht zum Durchklicken angelegten) Altpapier sind, noch rasch zu den Baustellen Wallraff und Weinreich (siehe natürlich jeweils Altpapier). Während bei Telepolis Peter Nowak den Wallraff-Verteidiger Jürgen Roth angreift ("Der Artikel", dieser, "versucht krampfhaft, das Image des guten Menschen von Köln zu retten, das schon lange vor den jüngsten Ermittlungen angekratzt war"), hat wiederum für die TAZ Felix Dachsel ein interessantes Interview mit einem weiteren ehemaligen Weggefährten Günter Wallraffs geführt. Helmut Richard Brox, der obdachlos ist, "eine Internet-Seite für Wohnungslose" betreibt, diese, und für den Deutschen Engagementpreis 2012 nominiert ist, steht zum Groß-Investigativjournalisten und kritisiert sine ira et studio den Wallraff-Attackierer André Fahnemann.

[+++] Und während der Kölner Stadtanzeiger nur mal aufschreibt, was in Sachen Jens Weinreich und Deutschlandradio überhaupt so passiert ist, geht Wolfgang Michal bei Carta tiefer und den "journalistische Prinzipien" nach, um die es in Wahrheit gehe:  Die Debatte

"lenkt ab vom eigentlichen Inhalt -  nämlich der Redaktion, die ihren Mitarbeiter in einer schwierigen Auseinandersetzung im Regen stehen lässt und lieber einen anderen Mitarbeiter zum Sportausschuss schickt. Die Debatte konzentriert sich auf den Nebenkriegsschauplatz 'Verhalten des Mitarbeiters'. Das ist der übliche Trick, der in solchen Autoritäts-Konflikten angewendet wird. (Nebenbei: Journalismus, der etwas bewirkt, gibt es eigentlich nur, weil dieser Trick immer wieder von 'Egos', 'Diven', 'Prinzipienreitern' und 'Sturköpfen' ignoriert wird.)"



Altpapierkorb

+++ "Diese Kleinstaaterei bei der deutschen Medienaufsicht beschäftigt und finanziert seit Jahren ein Heer von Medienanwälten in Deutschland. Das Behördendickicht wird noch verstärkt durch ein Zuständigkeitsgewirr von Kommissionen - da mischt beispielsweise neben der ZAK auch noch die KEK mit ... - und Gremien - wie wäre es beispielsweise mit der Gremienvorsitzendenkonferenz, nicht zu verwechseln mit der Gesamtkonferenz. Fast unmöglich, ausländischen Senderverantwortlichen diesen föderalen Wahnsinn zu erklären": Da ärgert sich Sissi Pitzer auf vocer.org über die deutschen Medienanstalten, die sich inzwischen ja gar untereinander verklagen (siehe Altpapier). Fast scheint besonders brisant, dass Pitzer als Mitarbeiterin des öffentlich-rechtlichen Bayerischen Rundfunks auch das Institutionenwirrwarr auf öffentlich-rechtlicher Seite kritisiert. Aber, zeigt die Verlinkung, sie meint gar nicht die Gremienvorsitzendenkonferenz der ARD, sondern die Gremienvorsitzendenkonferenz, in der "sich die Vorsitzenden der Beschlussgremien (Medienrat, Medienkommission, Versammlung etc.) der 14 Landesmedienanstalten zusammengeschlossen" haben...  +++

+++ "Falls Sie ... einen Menschen treffen sollten, der an einen Rollstuhl gefesselt ist - binden Sie ihn sofort los!": Die neue Webseite leidmedien.de gibt Medien Hilfestellung beim unverkrampften Umgang mit Behinderten. Die TAZ stellt sie per Interview mit den Machern vor. +++

+++ Wie lief Friede Springers 70. Geburtstag? "Ihre Weggefährten hatten viel zu erzählen – und verteilten überraschende Geschenke", verrät Andrea Seibel in der Welt. Siehe auch sonstige Springer- und Springer-nahe Medien. +++

+++ Von der BBC zur NYT - diesen Weg, karrieremäßig weiter aufwärts, geht Mark Thompson. "Eine Überraschung, eine Richtungsentscheidung und vor allem ein gewagtes Experiment", meint Nikolaus Piper in der Süddeutschen. Dass es vor allem ums Sparen gehen wird, schreibt Steffen Grimberg in der TAZ, in der er auch noch kommentiert, ebenso wie Sonja Pohlmann im Tsp.. +++

+++ Den US-Trend zu "Algorithmenjournalismus" dieser und jener Art beleuchten Rieke Havertz und Meike Laaff in der TAZ mit konkreten Beispielen und einer Expertenmeinung von Ulrike Langer. +++ Mit dem Kriegsentertainment des US-Senders NBC befasst sich der Tsp. (mehr dazu mit Links bei Telepolis). +++

+++ Helmut Thoma, gerade erst wieder (als eventueller Erfinder der Unter-50-Jährigen) im Fokus, könnte sein "Volks-TV"-Projekt schon vorm Start wieder aufgeben müssen (TAZ knapp). +++

+++ Die FAZ befasst sich vor allem mit Arte-Sendungen und am Rande mit dem von der AG DOK erstrittenen Gerichtsurteil in Sachen Zwangsmitgliedschaft in der Verwertungsgesellschaft Film- und Fernsehproduzenten (siehe agdok.de). +++

+++ "Der Radio-Tatort des WDR ballert wie eine Flipperkugel durch die Genres, Tonlagen und Milieus des Kriminal-Hörspiels", lobt Stefan Fischer auf der Süddeutschen-Medienseit, auf der es es auch noch ums neue Live-Fernsehprogramm der Huffington Post geht ("Nachdem der Moderator am Montag die Titelthemen des Tages durchgehechelt hatte - Mitt Romneys Vize Paul Ryan, und die neue Frisur von Popsternchen Miley Cyrus - fragte ein Nutzer jedenfalls besorgt: 'Sind die sich bewusst, dass Menschen das sehen könnten?'"). +++

Neues Altpapier gibt's wieder am Freitag.